Bei einer Zeremonie im Kreml sind an diesem Freitag Abkommen über die Aufnahme von vier ukrainischen Regionen in die Russische Föderation unterzeichnet worden. Russlands Staatschef Wladimir Putin hat bereits eine „umfassende Rede“ gehalten und versprochen, die Gebiete mit „allen vorhandenen Mitteln“ zu verteidigen. Damit setzt er erneut auf Eskalation.
Seine Botschaft an den Westen wird damit bekräftigt: Russland werde für den Schutz „unseres Volkes“, für „unsere Unabhängigkeit und Freiheit“ alle Mittel einsetzen, sagte Putin bereits in seiner Rede zur Teilmobilisierung vom 21. September, und das sei „kein Bluff“. Die USA hätten bereits zweimal mit Atomwaffen einen Präzedenzfall geschaffen, erinnerte Putin schon an diesem Freitag mit Blick auf Hiroshima und Nagasaki – sprich: Russland könnte dem Beispiel folgen. „Man sollte seine Worte ernst nehmen“, warnt auch Altkanzlerin Angela Merkel.
Was sich mit dieser „Aufnahme“ für den Kriegsverlauf ändert
Nach den Verfassungen der selbst ernannten Volksrepubliken Donezk und Lugansk sollen die gesamten Gebiete Donezk und Lugansk von Russland angeeignet werden. Gebiete, wo ukrainische Verteidigungstruppen präsent sind. Was passiert, wenn Kiew seine Truppen nicht aus den „neuen russischen Territorien“ abzieht, aus den Gebieten Donezk und Lugansk sowie den Regionen Cherson und Saporischschja – oder versucht, sie zurückzuerobern? Könnte Putin jetzt auf die Idee kommen, taktische Mini-Atomwaffen zur Abschreckung der Ukraine einzusetzen?
Der ehemalige leitende Militärberater bei der deutschen OSZE-Vertretung, Oberst a. D. Wolfgang Richter, heute Sicherheitspolitik-Experte bei der Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP), hält den Einsatz der Atomwaffen im Ukraine-Krieg für ein mögliches Szenario. Aber wie wahrscheinlich ist es?
„Erstens, diese Scheinreferenden wird kaum jemand akzeptieren, vielleicht nur Nordkorea oder Syrien“, sagte der Militärexperte der Berliner Zeitung. China werde sich da sehr schwertun, denn es gehe um die Annexion der Gebiete, und China besteht schon aus Eigeninteresse auf den Prinzipien der Souveränität und territorialen Integrität der Staaten und der Nichteinmischung in innere Angelegenheiten. „Zweitens, Putin hat die Nukleardoktrin Russlands im Juni 2020 zwar erweitert, aber auch sie sieht den Einsatz von Atomwaffen nur in zwei Fällen vor: Im Fall eines nuklearen Angriffs gegen Russland oder als Antwort auf einen konventionellen Angriff gegen Russland, der die Existenz des Staates bedroht.“
„Eine Existenzbedrohung Russlands ist das nicht“
Diese Formulierung könne man nicht anwenden, unterstreicht Richter, wenn ein Gebiet eines fremden Staates zum eigenen Staatsgebiet erklärt werde. „Man kann zwar behaupten, dass ein ukrainischer Angriff auf das sogenannte neue Staatsgebiet einen Angriff auf Russland darstellt, der formell einen Krieg und somit auch die Mobilmachung begründet, die durch eine militärische Spezialoperation nicht zu rechtfertigen ist; aus der Sicht der übrigen Welt wäre es jedoch ein Gegenangriff, um das okkupierte Territorium wiederzugewinnen. Fakt ist: Der Staat Russland existiert heute ohne diese Gebiete, und er wird auch weiter ohne diese Gebiete existieren. Eine Existenzbedrohung Russlands ist das nicht.“
Mit anderen Worten: Nach der russischen Nuklearstrategie wäre ein Angriff der Ukraine auf die von Russland angeeigneten Territorien kein Grund für einen nuklearen Angriff Russlands auf die Ukraine. Ob der Kreml diese Logik tatsächlich anwenden wird, wissen wir allerdings nicht. Das Risiko der Eskalation habe sich erhöht, so der Militärexperte, während sich gleichzeitig das Fenster für Verhandlungen schließe. Denn Annexionen und die Existenz und Unabhängigkeit des ukrainischen Staates seien nicht verhandelbar.
Richter weiter dazu: „Selbst taktische Nuklearwaffen in der Ukraine einzusetzen, halte ich für hochgradig irrational. Erstens, die physischen Folgen von Nukleareinsätzen, selbst wenn sie geringe Sprengwirkung hätten, würden auch russische Truppen treffen, Stichwort radioaktive Niederschläge. Zweitens, es würden auch diejenigen Ukrainer in der Ostukraine durch die Folgewirkungen von Nuklearschlägen massiv geschädigt, die man zu russischen Bürgern machen will. Drittens, das nukleare Tabu, das seit den Atomschlägen auf Hiroshima und Nagasaki gilt, wäre gebrochen. Das Nichtverbreitungsregime für Atomwaffen wäre ausgehöhlt und würde vermutlich zusammenbrechen. Wer dieses Tabu bricht, wird zum weltweiten Paria, schlimmer als Nordkorea. Putin würde so alle Verbündeten verlieren, auch und vor allem China.“
„Putin braucht Rechtfertigung für die Mobilisierung“
Die Erklärung der vier Regionen der Ukraine zum russischen Staatsgebiet dient aus Richters Sicht vielmehr Putins Zwecken innerhalb Russlands.
Der Militärexperte erklärt weiter: „Die sogenannte militärische Sonderoperation ist gescheitert. Es fehlen Kräfte. Diese Teilmobilisierung, die wohl nicht bei der zunächst angegebenen Größenordnung von 300.000 Mann enden wird, braucht eine innenpolitisch tragfähige Begründung: Wir sind jetzt im Krieg.“ Die Verteidigung des „neuen russischen Staatsgebiets“ gegen den ukrainischen Gegenangriff sollte nach Putins Logik also die Mobilisierung rechtfertigen. „Am Ende ist dies eine imperiale Zielsetzung, die zwar historisch begründet wird, aber mit den klassischen Sicherheitsinteressen Russlands, wie sie früher verhandelt wurden, eigentlich gar nichts zu tun hat. Die Sicherheitsinteressen sind verhandelbar, aber nicht der Imperialismus.“
Die EU-Kommission hat bisher mehrmals erklärt, dass die „Referenden“ in den vier von Russland kontrollierten ukrainischen Gebieten völkerrechtswidrig seien und die EU sie niemals anerkennen werde. Als Reaktion darauf werden neue EU-Sanktionen gegen Russland vorbereitet. Auch die USA bezeichnen die Aneignung der Territorien durch Russland als Annexion und stellen neue „schnelle und harte“ wirtschaftliche Sanktionen in Aussicht.





