Kurz vor 9 Uhr kommt der Krieg direkt im Bundestag an. Bundestagsvizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt (Grüne) setzt sich am Präsidiumstisch ans Mikrofon. Die Leitung nach Kiew stehe leider noch nicht. „Es hat dort in unmittelbarer Nähe zum Präsidenten einen Anschlag gegeben, deshalb gibt es Probleme mit der Übertragung“, sagt Göring-Eckardt. „Wir warten jetzt einfach, bis die Verbindung steht.“ Es wird schlagartig leiser im Plenum. Die Abgeordneten, die eben noch lachend beim Small Talk beieinanderstanden, stoppen ihre Gespräche.
Exakt um 9.05 Uhr erscheint das Bild von Wolodymyr Selenskyj auf den beiden Bildschirmen, auf denen sonst die Tagesordnung und die Redeliste zu verfolgen ist. Ernst und schweigend sieht er zu, wie sich die Bundestagsabgeordneten zum Applaus von ihren Sitzen erheben. Bevor Selenskyj zu Wort kommt, hält die Vizepräsidentin eine kurze Ansprache. Sie spricht von den Leiden des Krieges in der Ukraine, gedenkt jener Toten, deren Namen man kennt.
Sie erwähnt das kleine Mädchen, das vor einigen Tagen in einem Bunker ein Lied aus dem Film „Die Eiskönigin“ gesungen hat. Das Video wurde in den sozialen Netzwerken tausendfach geteilt. „Wir sehen Dich, Amelia“, sagt Göring-Eckardt. Und sie betont: „Putin hat mit seinem Krieg auch unsere Friedensordnung angegriffen.“ Dann spricht sie Selenskyj direkt an: „Ihr Land hat sich für die Demokratie entschieden und genau das fürchtet Putin“, sagt sie. „Die Ukrainer zeigen jeden Tag, wie stark ihr Freiheitswille ist.“ Sie habe 2004 auf dem Maidan sprechen dürfen. Dabei habe sich ihr ein Satz eingeprägt: Zusammen sind wir viele. Sie sagt den Satz auf Ukrainisch.
Dann ist Selenskyj an der Reihe. Seine Stimme kommt zunächst sehr leise aus dem Lautsprecher. Blass und bärtig begrüßt er die Abgeordneten und Bundeskanzler Scholz.
Mit jeder politischen Entscheidung im Ausland, die nicht getroffen werde, falle die Ukraine ein bisschen mehr, sagt Selenskyj und kommt sehr schnell auf Nord Stream 2 zu sprechen, das Scholz lange als rein wirtschaftliches Projekt betitelt hatte. „Immer ist es Wirtschaft, Wirtschaft, Wirtschaft.“ Die Menschen in der Ukraine wollten frei leben und sich nicht einem anderen Land unterwerfen. Dass die Ukraine in die EU aufgenommen werde, sei für manche Politik, „aber es sind Steine für eine neue Mauer in Europa, wenn uns das versagt wird“, so der ukrainische Präsident. „Es gibt in Europa wieder eine Mauer, sie ist zwischen uns.“ Dann sprach er von der Stadt Mariupol, die seit fünf Tagen eingekesselt sei. „Die russischen Truppen unterscheiden nicht zwischen Zivilisten und Militärs“, so Selenskyj. „Alles ist für sie ein Ziel. Theater, Geburtskliniken, Wohnhäuser.“
Er sprach von Babyn Jar, dem Tal, in dem am 29. und 30. September 1941 innerhalb von 48 Stunden mehr als 33.000 jüdische Männer, Frauen und Kinder von den Deutschen ermordet wurden. Genau dieser Ort sei bombardiert worden, eine Familie, die dort der Toten gedachte, sei ums Leben gekommen. „Jedes Jahr wiederholen die Politiker ‚nie wieder‘ und jetzt sehen wir, dass diese Worte nichts wert sind“, sagte Selenskyj.
Selenskyj: Um das zu überstehen, brauchen wir die Hilfe der Welt
Er danke den deutschen Bürgerinnen und Bürgern, die helfen, und den Firmen, die Moral über den Profit gestellt hätten. „Wir sind auch den Politikern dankbar, die versuchen, die Mauer zu brechen und sich für Sanktionen gegen Russland aussprechen“, so der ukrainische Präsident. „Es ist schwierig für uns, das ohne die Hilfe der Welt zu überstehen und die Freiheit zu verteidigen.“ Dann zitiert der ehemalige Schauspieler Selenskyj einen anderen ehemaligen Schauspieler, der US-Präsident wurde. Ronald Reagan, so Selenskyj, habe in Berlin gefordert, dass der damalige russische Präsident Gorbatschow die Mauer einreißen soll. „Ich sage es zu Bundeskanzler Scholz: Zerstören Sie diese neue Mauer. Geben Sie Deutschland die Führung zurück und helfen Sie mit, diesen Krieg zu stoppen.“
Es ist sehr still im Plenum, als Selenskyj spricht. Als er endet, stehen wieder alle auf und applaudieren. Auch die AfD klatscht stehend Beifall. Selenskyj winkt kurz und verlässt den Schreibtisch, hinter dem er saß, noch bevor das Bild ausgeblendet wird.



