Am 10. März hielt die ukrainische Generalkonsulin Iryna Tybinka eine Rede vor der Kultusministerkonferenz (KMK) in Lübeck, die eine große Verwunderung ausgelöst hat. Zwar bedankte sie sich für die Bereitschaft, ukrainische Flüchtlingskinder aufzunehmen und bald zu beschulen. Doch zugleich lehnte sie den Unterricht von Willkommensklassen ab, denn „ die sogenannten Integrationsklassen würden für die ukrainischen Kinder eine Wand des Unverständnisses, das Gefühl der Minderwertigkeit und des geringen sozialen Schutzes bedeuten“.
Tybinka forderte, dass die ukrainischen Schüler in Deutschland nach dem ukrainischen Lehrplan beschult werden, dass man für sie eigene Institutionen schaffe, im Grunde eine Art Paralleluniversum. Dafür nannte sie vier Gründe: „1. Es geht nur um einen vorübergehenden Aufenthalt. 2. Die Kinder brauchen Kontinuität beim Bildungsprozess. 3. Die nationale Identität muss erhalten bleiben. 4. Zusätzlicher psychischer Druck muss vermieden werden.“
Außerdem beklagte die Generalkonsulin, dass die Ukraine bisher im deutschen Geschichtsunterricht keine Rolle spielte. Sie sprach von „einem weißen Fleck im Wissen der deutschen Gesellschaft“, der auch dazu führe, dass die Politiker in Deutschland bisher zu zögerlich auf Invasion Russlands reagierten. „Die Ukraine ist ihrem Territorium nach das größte Land Europas. Ein Land mit einer jahrtausendalten Geschichte, die sich häufig mit der historischen Entwicklung Deutschlands gekreuzt hat und von ihr beeinflusst wurde. Und diese Geschichte fehlt in den schulischen Lehrplänen und Richtlinien praktisch gänzlich. In Deutschlands Lehrplänen und Richtlinien dominiert nach wie vor Russland und russischer Imperialismus. Daher stammen auch die Neigungen und das Bestreben vieler Menschen in Deutschland, Russland zu verstehen, Russlands Verbrechen zu rechtfertigen, aber auch die Angst davor, Russland irgendwie zu kränken. All das, was wir bereits vor dem Krieg gespürt haben, hält immer noch viele in Deutschland davor zurück, angemessen und in voller Entschlossenheit auf die Aggression Russlands zu reagieren.“
Man spürt einen großen Nationalstolz in der Rede von Frau Tybinka, einen Stolz auf das eigene Bildungssystem. Sie betonte, dass die Schüler in der Grundschule und in den Naturwissenschaften schneller voranschreiten. Sie sagte, dass es wichtig sei, die Kinder in Deutschland weiter mit der ukrainischen Sprache, Literatur und Geschichte vertraut zu machen. „Wenn die ukrainischen Kinder keinen Zugang dazu bekommen, wird dies Putin in die Hände spielen, der davon träumt, die Ukraine als Staat und Nation auszulöschen. Das ist ein weiteres Argument für die Beschulung nach den ukrainischen Lehrplänen. Ein unwiderlegbares Argument.“ Zugleich wird hier die Angst spürbar, die ukrainischen Kinder an die deutsche Gesellschaft, an das deutsche Bildungssystem zu verlieren. Auch vor der Zusammenarbeit mit Integrationsvereinen aus dem Ostblock warnt sie – da sie Propaganda für Russland und Putins Weltbild fürchtet.

Deshalb schlägt die Konsulin vor, die Kinder über die digitale Plattform e-school.net.ua, die wohl zu Pandemiezeiten aufgebaut wurde, zu beschulen und sehr stark auf den Einsatz von ukrainischen Lehrkräften zu setzen, die zusammen mit den Kindern geflüchtet seien. Karin Prien, die die KMK anführte, gab sich bei der anschließenden gemeinsamen Pressekonferenz diplomatisch. Man werde die Anregungen von Frau Tybinka aufnehmen, insbesondere was die beiden letztgenannten Punkte angeht. Es wurden ja schon Überlegungen bekannt, den ukrainischen Flüchtlingen auch einige Stunden herkunftssprachlichen Unterricht anzubieten.
Doch gibt es wohl im Kreis der Kultusminister ein klares Bewusstsein dafür, dass man sich sehr wohl für eine Integration der neu ankommenden Kinder in die deutsche Gesellschaft bemühen und sie nach deutschem Lehrplan unterrichten muss. Tybinka sagte, man gehe davon aus, dass der Krieg nur ein paar Monate dauere, dass die meisten Kinder zurückkehrten. Aber tatsächlich könne das im Moment noch niemand wissen. „Und so lange man das nicht weiß, sollte man diese Frage wohl aus der Perspektive eines Kindes betrachten, das in Deutschland bleiben wird“, sagte die frühere bildungspolitische Sprecherin der SPD Maja Lasic.

