Am Montag war Polens Ministerpräsident Mateusz Morawiecki in Heidelberg zu Besuch. Dort hielt er eine symptomatische Rede, die im Westen, und vor allem in Deutschland, kaum wahrgenommen wurde. Dabei hatte sie es in sich.
Polens Ministerpräsident nutzte die Gelegenheit, um Deutschland selbstbewusst die Leviten zu lesen. Er kritisierte die Abhängigkeit Deutschlands von fossilen Energieträgern aus Russland und erinnerte daran, dass Polen immer wieder vor Putins expansionistischem Kurs gewarnt hatte. Deutschland habe nicht zugehört und sich „wie ein Süchtiger“ von russischer Energie abhängig gemacht. Jetzt zahle man in der gesamten EU den Preis.
„Gleichschalten, uravnilovka, is a road to nowhere“
Interessanterweise nutzte Morawiecki die gegenwärtige moralische Überlegenheit gegenüber Deutschland, um auch die ethische Richtigkeit anderer Argumente aufzuzeigen. Ihm ging es vor allem darum, die Bedeutung des Nationalstaats zu untermauern und europäische Eingriffe in die Rechtstaatlichkeit Polens von sich zu weisen. Die Wichtigkeit des Nationalstaats ist eine weitere Ansicht Polens, die Deutschland gerne abwatscht und als reaktionär beschreibt. Morawieckis Argumente zielten darauf, zu verdeutlichen, dass die EU – und damit meinte er vor allem Deutschland als deren Spitzenmitglied – nicht länger die Nationalstaatlichkeit einzelner Mitgliedsländer infrage stellen dürfe. Denn der Nationalstaat sei Garant für Identität, so Polens Ministerpräsident.
Mit Blick auf Russland nutzte Morawiecki ein explosives Argument, das man in Deutschland so wahrscheinlich noch nie gehört hatte. Er erinnerte daran, dass Russland die Nationalstaatlichkeit der Ukraine infrage stelle und das Land mit einer fiktionalen Interpretation der Wirklichkeit in ein „Russki Mir“ einverleiben wolle. Damit deutete er an, dass die EU eine vergleichbare Agenda gegenüber den osteuropäischen Staaten verfolge und damit das Selbstbewusstsein dieser Länder verletze. Die EU drohe, so Morawiecki, zu einer bürokratischen Autokratie zu verkommen. Er warnte vor einer paneuropäischen Elite, die Macht ausübe, aber nicht die Unterstützung der Bevölkerung genieße. „Gleichschalten, uravnilovka, is a road to nowhere“, sagte Morawiecki.
Eine selbstbewusste Aufrüstung des Militärs
Die Rede war mit Volten gespickt. Polens Ministerpräsident wollte Deutschland den Spiegel vorhalten und sprach von Diskriminierung, etwa mit Blick auf die Unterstützung Polens gegenüber ukrainischen Flüchtlingen. Das Land würde keine derart große Hilfe erfahren, wie sie andere Länder in der Flüchtlingskrise von 2015 erfahren durften.
Er wies die Kritik an Polens Justizreform zurück und kritisierte die EU, dass sie sich dreist in innere Angelegenheiten einmischen würde. Diese Überheblichkeit und der Drang der EU, noch föderaler und zentralistischer zu werden, sei der zukünftige Dolchstoß für die europäische Gemeinschaft und würde eine weitere Schwächung Europas bedeuten.
Die Unterstützung der Ukraine sei für Polen ein zentrales Interesse, da das Land sich davor fürchte, dass Russland bei einem Sieg die baltischen Staaten und Polen ebenfalls angreifen werde. Deutschland müsse diese Angst ernst nehmen. Morawiecki unterstellte der Bundesregierung, dass sie sich eher darauf vorbereiten würde, nach dem Ende des Krieges wieder mit Russland Geschäfte zu machen, anstatt Russland selbstbewusst herauszufordern. Auch mit einer ernst gemeinten Aufrüstung des Militärs nehme es Deutschland nicht so genau. Die Zeitwende sei de facto ein Lippenbekenntnis. Ohne das Engagement Polens, der Nato und der USA wäre die Ukraine heute vermutlich ein Teil der russischen Einflusssphäre, so Morawiecki.
Unterschiedliche Interessen
Wie polarisierend die Argumente des Polen auch waren: Man erwischte sich dabei, ihm punktuell recht zu geben. Es ist Fakt, dass Polen vor Russland gewarnt hatte. Auch ist nicht von der Hand zu weisen, dass eine zentralisierte EU von vielen Bürgern abgelehnt wird. Ebenso richtig ist, dass die EU sich selbst in ein Dilemma manövriert, indem sie hohe moralische Standards setzt, die auf dem Normenbild Deutschlands und Frankreichs fußen und damit EU-Erweiterungen in Richtung Balkan und Ukraine ad absurdum führen.
Und richtig ist auch, dass Polens Perspektive vom Westen nicht ernst genommen wird. Jetzt solidarisieren sich die Ukraine-Unterstützer mit Polen, sehen das Land als Fackel der Freiheit, während sie vor dem Krieg Polen noch als Diktatur nach dem Modell von Putins Russland bewertet hatten. Es ist nachvollziehbar, dass die Polen die neue deutsche Polen-Liebe skeptisch bewerten.
Die selbstbewusste Rede Morawieckis zeigte auf, wie schwierig die EU es haben wird, die unterschiedlichen Interessen der Nationalstaaten in Zukunft abzubilden. Morawieckis Kritik an China und dem zaghaften Drang der EU, mit dem Land wirtschaftlich zu kooperieren, ist nachvollziehbar. Der Zwist um den Umgang mit Asien wird den Kontinent weiter unter Druck setzen, vor allem wenn es stimmt, was Experten behaupten: dass sich die USA irgendwann von Europa abwenden und auf Asien konzentrieren werden. Wie soll die EU hier eine einheitliche Richtung finden, Zentralisierung hin oder her?
Morawiecki sagte richtig, dass die EU nur dann stark sein werde, wenn es ihr gelinge, eine ökonomische Mittelklasse aufrechtzuerhalten. Doch wie soll das funktionieren, wenn man sich von den asiatischen Märkten, die immer wichtiger werden, einfach abwendet und China stattdessen Moralpredigten hält – interessanterweise wie Deutschland gegenüber Polen? Diese Frage beantwortete Morawiecki freilich nicht.









