Im Ausklang des alten Jahres 2022 und mit Blick auf das neue Jahr 2o23 möchte ich ein legendäres Zitat der Hamburger Musikgruppe Tocotronic bemühen, das man sich ruhig häufiger ins Gedächtnis rufen sollte: „Im Zweifel für den Zweifel / Das Zaudern und den Zorn / Im Zweifel fürs Zerreißen / Der eigenen Uniform /“ (...) „Im Zweifel für Ziellosigkeit / Ihr Menschen, hört mich rufen / Im Zweifel für Zerwürfnisse / Und für die Zwischenstufen“.
Nach zwölf herausfordernden Monaten, die uns alle geprägt und emotional durchgerüttelt haben, ist für mich der „Zweifel“ und das „Zaudern“ und der „Wankelmut“ (ja, der Mut!) der Bewusstseinszustand, für den ich mich im neuen Jahr stark machen möchte. Warum? Weil mich im vergangenen Jahr immer wieder der Eindruck beschlichen hat, dass wir uns in unseren Gewissheiten zu sicher sind. Zu oft und zu rabiat werden Überzeugungen ausgerufen, als unhinterfragbar dargestellt, ohne dass Platz bleibt für Grautöne, Widersprüche, blinde Flecken. Die sozialen Medien, Twitter, Facebook, Instagram, zwingen uns dazu, eindeutig Position zu beziehen, markant Wahrheiten zu beschwören, sich einem Statement zu verschreiben, vielleicht aus Angst davor, im Gegenüber eine Spur von Wahrheit zu erkennen – und dies als Scheitern zu interpretieren.
Der Heizungsmonteur nimmt keine Anrufe mehr ab
Wir leben in einer Zeit, in der die Form des absoluten Bekenntnisses Hochkonjunktur hat. Ob Corona, Energiepolitik, Klima, die Diskussion um das Gastgeberland der diesjährigen WM, Russlands Ukraine-Krieg – als Debattenmensch will man geradezu verzweifeln, wenn man beobachtet, wie die Praxis der dialektischen Annäherung ans unerreichbare Ziel der Gewissheit von der Öffentlichkeit beiseite geschoben wird. Anstatt Argumente zu wälzen, werden Standpunkte herausposaunt. Anstatt sich in der Diskussion zu reiben, wird beleidigt. Und das gerne auf Twitter. Journalismus hingegen ist ein Korrektiv, das die Welt, wenn sie zu sehr nach nach rechts kippt, in die linke Richtung stupsen muss – und umgekehrt. Journalismus stellt sich den Widersprüchen, die den Zweifel aufs Parkett zurückholen. Und von diesen Widersprüchen gibt es einige in unserem Land.
Ein Blick in den Maschinenraum dieses Landes reicht aus, um sich darüber gewahr zu werden. Einerseits inszeniert sich Deutschland als Exportweltmeister, als moralische Instanz, als Warner und Mahner und als dasjenige Land, das eindeutig weiß, wie es richtig geht. Doch der Alltagstest hält den Ansprüchen selten stand. Die Bahn fährt nicht mehr pünktlich. Für Busse und Bahnen gibt es kein Personal. Geht man in einen Baumarkt, wird man dafür angeschrien, dass man etwas bestellen möchte. Der Notarzt kommt zu spät. Die Post ebenso. Der Heizungsmonteur nimmt keine Anrufe mehr ab. Die Lufthansa befindet sich kurz vor Abflug in einem ihrer diversen Streiks. Eine Wohnung findet man kaum noch. Die Schulen sind überfüllt. Der Lehrermangel schürt Chaos. Pfleger springen ab. Krankenhäuser müssen geschlossen werden. Und so weiter und so fort.
Die Angst vor Migration, vor Veränderung ist nach wie vor präsent
Zugleich fällt auf, dass sich kaum etwas nach vorne bewegt. Manchmal bekommt man den Eindruck, Deutschland sei im Jahr 2010 stecken geblieben. Das Altern der Gesellschaft lähmt den Fortschritt. Klaus Bachmann, Kolumnist der Berliner Zeitung, schrieb kürzlich in einem Essay, dass Deutschland sich in dem Widerspruch befindet, Innovationen und Technologie in erster Linie ins Ausland zu exportieren und teuer zu verkaufen, ohne sie selbst in Anspruch nehmen zu wollen (wie etwa die Corona-Impfungen): „Hämische Beobachter im Ausland behaupten gelegentlich, die Deutschen seien nur deshalb Exportweltmeister, weil sie Angst vor ihren eigenen Erfindungen hätten und sie deshalb immer auf der Stelle und möglichst in Gänze ins Ausland schafften.“
Das ist natürlich nur ein Teil der Wahrheit. Ob Deutschlands Innovationsresistenz mit der Angst vor dem eigenen Erfindungsreichtum, spätrömischer Dekadenz oder Verschleißprozessen zu tun hat, die eine jüngere Generation abschütteln muss, ist nicht gänzlich zu klären. Die Zukunft wird es zeigen. Was aber eindeutig klar ist, ist der Umstand, dass das Deutschland von heute sich von dem Deutschland von vor zehn Jahren nur wenig unterscheidet.
Die Angst vor Migration, vor Veränderung, vor Vielfalt ist nach wie vor präsent, obgleich Migration aktuell der einzige Schlüssel zu sein scheint, den dramatischen Geburtenrückgang und die knochenalte Gesellschaft namens Deutschland neu zu beleben und den wachsenden Personalmangel einigermaßen in den Griff zu bekommen. Für mich als Pole ist dieser Umstand besonders erschütternd, wenn ich mich daran erinnere, wie nach dem polnischen EU-Beitritt die Deutschen erbittert dafür kämpften, ihren osteuropäischen Nachbarn den Zugang zum deutschen Arbeitsmarkt zu erschweren. Was wäre heute die Pflege ohne Polen und Ukrainer? Was würde auf dem Bau morgen los sein, wenn Polen und Tschechen nicht mehr kämen?
Meinungsfreiheit ist immer auch die Freiheit des Anderen
Die Innovationsfreude mag in der deutschen Gesellschaft abnehmen. Was aber keinesfalls ab-, sondern zunimmt, ist die Wut im Bauch. Sie wird gerne dann provoziert, wenn man auf jemanden trifft, der nicht dieselbe Meinung vertritt wie man selbst. Die Diskussion darum, wie Russlands Ukraine-Krieg beendet werden könnte, mit wenigen Opfern und einer überzeugenden und annehmbaren Lösung für die Ukraine, ist, um ein Beispiel zu nennen, in den vergangenen Monaten außer Kontrolle geraten. Wer sich an einen Tisch setzen und unterschiedliche Standpunkte diskutieren möchte, gerät in den Verdacht der Kontaktschuld und wird als moralischer Abweichler gebrandmarkt. Und das sage ich als jemand, der für Waffenlieferungen an die Ukraine einsteht, mit großer Erschütterung auf die russischen Kriegsverbrechen in Butscha und den russischen Terror blickt, der auch in den Weihnachtstagen keine Pause gemacht hat.
Trotzdem dürfen wir in diesem Krieg das Humane nicht verlieren. Wir dürfen nicht zulassen, dass dieser Krieg uns spaltet. Meinungsfreiheit ist exakt das, was uns vom diktatorischen Russland unterscheidet. Wir dürfen den Austausch von Argumenten nicht aufgeben und auch den Zweifel nicht, etwa gegenüber einer Nachrichtenflut, die eine deutsche Redaktion nicht immer exakt überprüfen kann (Stichwort: das Nord-Stream-Leck). Es mag etwas pathetisch klingen, aber ich möchte einen Satz zitieren, den Voltaire gesagt haben soll, um die Meinungsfreiheit zu verteidigen, der mich tief beeindruckt hat: „Ich bin zwar anderer Meinung als Sie, aber ich würde mein Leben dafür geben, dass Sie Ihre Meinung frei aussprechen dürfen.“ Noam Chomsky pflichtete diesem Gedanken bei – mit den Worten: „Wir glauben nicht an die Meinungsfreiheit, wenn wir sie nicht auch den Leuten zugestehen, die wir verachten.“

Im Zweifel für den Zweifel
Meinungsfreiheit basiert auf der Einsicht, dass man selbst Unrecht und der andere Recht haben könnte, es also besser wäre, schon aus Selbstschutz heraus, dass man im Falle des eigenen Unrechthabens jemanden zur Seite stehen hat, der im Recht war und ist – und mit dem man auch noch gut klar kommt, um vom Rechthaben des Anderen zu profitieren. Meinungsfreiheit kann man also ganz egoistisch als ein gesellschaftliches Korrektiv interpretieren, das anderen den Wahrheitsraum einräumt, falls man selbst, ohne es geahnt zu haben, falsch gelegen hat. Ich selbst hielt es im Januar 2022 nicht für möglich, dass Russland die Ukraine angreift. Andere wussten es und sagten es und schrien es heraus und bereiteten sich und uns und andere darauf vor. Sie hatten Recht und ich hatte Unrecht. Die Geschichte hätte sich aber auch ganz anders abspielen können. Und so kann es mit Blick auf die Zukunft immer wieder sein. Im Zweifel für den Zweifel.
Wir stecken mitten im Strom der Geschichte, die man ganz zu Recht als Zäsur beschreiben könnte. Der Blick ist getrübt. In der Kriegstheorie nennt man das „The Fog of War“. Der sogenannte „Nebel des Krieges“ bezeichnet laut Wikipedia den Umstand, dass „kriegswichtige Informationen aufgrund verschiedener Umstände (zum Beispiel Kriegschaos, unterbrochene Meldewege, Feindestäuschung) immer eine gewisse Unsicherheit und Unvollständigkeit aufweisen“. Deshalb muss man auch auf die aktuellen Geschehnisse in der Weltpolitik mit einem Körnchen Zweifel blicken. Übrigens sollte gerade Deutschland diese Haltung durchdrungen und bestens verstanden haben, wenn man mit Verweis auf Heinrich von Kleist, Robert Musil oder andere Autoren der deutschen Geistesgeschichte anerkennt, welche Rolle der Zufall in Geschichtsprozessen spielt. Kleist nennt das „unwahrscheinliche Wahrhaftigkeiten“, wenn der Flügelschlag eines Schmetterlings plötzlich über den Ausgang einer Schlacht entscheidet.
Wir wissen sehr viel und wissen doch ganz wenig. Mit dieser Mischung aus Wissen und Unwissen müssen wir täglich leben. Es wäre schön, wenn es uns allen im neuen Jahr gelingt, uns dies bewusst zu machen, dem anderen zuzuhören, sich selbst zu hinterfragen und die eigenen Lebensgewissheiten zu überprüfen. Vielleicht steckt im Protest der Klimakleber der „Letzten Generation“ eine gehörige Portion Wahrheit? Vielleicht waren die Corona-Schutzmaßnahmen ja tatsächlich übertrieben? Und andersherum: Vielleicht ist die Corona-Impfung eine gute Sache? Vielleicht ist Olaf Scholz’ Zaudern nicht Angst, sondern Verantwortung? Im Zweifel für den Zweifel.
Tomasz Kurianowicz ist Chefredakteur der Berliner Zeitung.










