KInderarmut

Wachsende Kinderarmut in Deutschland: Sind Flüchtlinge der Grund?

Es sei statistisch erwiesen, dass gerade Migrantenkinder in Armut leben, sagt FDP-Finanzminister Christian Lindner – und entsetzt viele. Das sagen die Zahlen. 

Christian Lindner 2023 beim Tag der offenen Tür des Bundesfinanzministeriums
Christian Lindner 2023 beim Tag der offenen Tür des BundesfinanzministeriumsBernd Elmenthaler/imago

Der Krach in der Koalition – vor allem zwischen FDP und Grünen – um die Kindergrundsicherung geht weiter. Am Wochenende goss Finanzminister Christian Lindner (FDP) beim Tag der offenen Tür der Bundesregierung Öl ins Feuer. Bei einer Debatte mit Bürgerinnen und Bürgern fragte er, ob es in puncto Kindergrundsicherung nicht zumindest diskussionswürdig sei, stattdessen „in die Sprachförderung und Integrationsfähigkeit der Eltern zu investieren“. Zudem schlug er vor, die Schulen und Kitas so auszustatten, „dass sie das aufholen können, was die Eltern nicht leisten können“.

Und dann sorgte Lindner mit einem Vergleich für weiteren Zündstoff. Familien, die seit 2015 neu nach Deutschland eingewandert sind – als Geflüchtete oder aus anderen Gründen –, seien ein Grund für die wachsende Kinderarmut. Laut dem FDP-Politiker gibt es einen „ganz klaren“ statistischen Zusammenhang zwischen Zuwanderung und Kinderarmut. Er sagte außerdem: „Ganz, ganz deutlich spürbar zurückgegangen“ sei die Kinderarmut bei „den ursprünglich deutschen Familien, die schon länger hier sind. Insgesamt ist in Deutschland die Kinderarmut aber noch vergleichsweise indiskutabel hoch.“

Seitdem schlagen die Wogen hoch. Linke-Politiker Niema Movassat schrieb auf X (ehemals Twitter): „Aus Sicht der Bundesregierung – in Gestalt des Bundesfinanzministers – sind Ausländer also schuld an der Kinderarmut.“ Auch Parteikollegin Clara Anne Bünger reagierte: „Wie schon bei vergangenen Auseinandersetzungen innerhalb der Regierungskoalition suchen Christian Lindner und die FDP die Unterstützung von ganz rechts außen.“

Ökonom Fratzscher: Kinderarmut bei uns höher als im EU-Durchschnitt

Auch von Wirtschaftsexperten kommt Kritik. DIW-Präsident Marcel Fratzscher sagte zur Berliner Zeitung: „Es ist wirtschaftlich, sozial und moralisch völlig irrelevant, welche Hautfarbe, Religion oder Herkunft ein Kind hat, das in Armut lebt.“ Die Bundesregierung habe die Pflicht und die Verantwortung, alle Kinder und Jugendlichen aus der Armut zu bringen. „Es ist ein Armutszeugnis für Deutschland, dass trotz Wirtschaftsboom in den 2010er-Jahren die Kinderarmut weiter gestiegen ist, höher als im europäischen Durchschnitt und höher als bei Erwachsenen ist“, sagt Fratzscher.

Lindner selbst ließ am Montag mitteilen, er habe lediglich eine neue Debatte um die Kindergrundsicherung anstoßen wollen. Der Liberale macht allerdings schon lange keinen Hehl daraus, dass ihm die Pläne der Grünen-Familienministerin Lisa Paus in manchen Punkten nicht gefallen. 

Hinzu kommt, dass Paus vergangene Woche im Kabinett sein Wachstumschancengesetz blockiert hat – um mehr finanzielle Mittel für die Kindergrundsicherung rauszuschlagen, die alle staatlichen Leistungen für von Armut betroffene Kinder bündeln soll. Sowohl die FDP als auch Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) hatten das Vorgehen der Grünen-Ministerin kritisiert. Derzeit sind im Etat zwei Milliarden veranschlagt, Paus möchte bis zu zwölf Milliarden. Angeblich gibt es inzwischen einen Kompromiss von 3,5 Milliarden. Das wäre laut den Sozialverbänden bei weitem nicht ausreichend. Diese fordern für die Umsetzung bis zu 24 Milliarden Euro.

Und was ist mit der Behauptung, dass Zuwanderer eventuell der Grund für die wachsenden Kinderarmut sind? Laut FDP hat sich Lindner lediglich auf neueste Zahlen der Bundesagentur für Arbeit berufen. FDP-Sozialexperte Jens Teutrine verteidigte den Finanzminister, schrieb auf X: „Er spricht von Kindern, die in der Grundsicherung (Bürgergeld/Hartz IV) aufwachsen.“

Zur Berliner Zeitung sagte er am Montag: „Die Gründe für höhere Armutsquoten bei migrantischen Familien sind vielfältig. Wie bei Kinderarmut generell gilt auch hier: Kinderarmut hat seine Ursache fast immer in der Erwerbsarmut der Eltern.“ Daher müsse die Frage erlaubt sein, was nachhaltig und am besten dagegen helfe.

Der Sozialpolitiker weiter: „Wirksam ist alles, was zur Arbeitsmarktintegration der Eltern beiträgt, wie beispielsweise eine verlässliche Kinderbetreuung, bessere Sprachförderung und gezielte Aus- und Weiterbildungen der Eltern. Ohne deutsche Sprachkenntnis auf relativ hohem Niveau hat man es in Deutschland nicht nur auf dem Arbeitsmarkt, sondern auch auf Behörden sehr schwer. Immer nur die Geldsumme von Sozialleistungen zu erhöhen, löst diese Ursache allerdings nicht.“

Die Kindergrundsicherung könne hier je nach Ausgestaltung ein ergänzendes Instrument sein. „Doch Sozialleistungen einfach nur zu erhöhen, senkt jedoch Erwerbsanreize. Insofern sind x-beliebe Leistungserhöhungen keine Lösung.“

Es sei enorm wichtig, so Teutrine, „dass insbesondere Kinder von Migranten zur Integration und Teilhabe etwa in Sportvereinen vertreten sind und bei Bedarf Zugang zu Nachhilfe bekommen. Die Kindergrundsicherung kann hier helfen, die Mittel hierfür einfacher zu erhalten. Aktuell kommen nicht einmal 25 Prozent dieser Leistungen bei Familien an. Die Frage muss erlaubt sein, was am sinnvollsten hilft: Bessere Kinderbetreuung und Bildungsinfrastruktur oder höhere Geldleistungen an die Eltern!“

Hohe Armutsquote wegen Zuwanderung: Das sind die Fakten

Die Fakten in dem Bericht der Bundesanstalt für Arbeit geben Lindner in der Tat recht: Demnach sind knapp zwei Millionen Kinder in Deutschland mit ihren Eltern auf sozialstaatliche Grundsicherung angewiesen – und damit ähnlich viele wie bereits 2015. Geändert hat sich in diesem Zeitraum allerdings das Verhältnis deutscher und ausländischer Kinder im Bürgergeldbezug.

Waren es 2015 rund 1,57 Millionen deutsche Kinder, sank die Zahl im März 2023 auf 1,03 Millionen. Demgegenüber stieg die Zahl ausländischer Kinder von 365.000 auf 935.000.
Damit haben derzeit knapp 48 Prozent der Kinder im Bürgergeld eine ausländische Staatsangehörigkeit – 2015 waren es rund 19 Prozent, so die Auswertung der Bundesagentur für Arbeit. Seit 2015 kamen mehr als 300.000 Kinder aus Syrien, Irak, Afghanistan und anderen Asylherkunftsländern sowie – seit 2022 mit Beginn des russischen Angriffskriegs – rund 270.000 Kinder aus der Ukraine hinzu.

Deutschland: Rund 13 Millionen Menschen armutsgefährdet

Doch es sind nicht nur Kinder aus Familien, die Bürgergeld empfangen, die an der Armutsgrenze leben. Darauf weist der Ökonom Fratzscher hin. Inzwischen leben auch viele Erwerbstätige an der Armutsgrenze. Laut dem Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Institut sind Menschen arm, wenn sie im Jahr 2021 als Alleinstehende weniger als 1148 Euro netto pro Monat zur Verfügung hatten. Bei einem Einkommen von 1500 Euro monatlich leben Menschen an der Armutsgrenze. 

In Deutschland waren 2021 rund 13 Millionen Menschen armutsgefährdet. Das entspricht 15,8 Prozent der Bevölkerung, so das Statistische Bundesamt.

Ökonom: So wird Armut definiert

Für den Ökonomen Fratzscher ist die These Lindners daher irreführend. Er sagt: „Armut wird relativ zum Einkommen des mittleren Haushalts definiert. Dies bedeutet konkret, dass das mittlere Einkommen sinkt und damit manche Familien statistisch aus der Armut herauskommen, wenn durch Migration viele noch ärmere Familien hinzukommen.“ Es sei daher ganz und gar kein Erfolg, wenn – wie Bundesfinanzminister Lindner behaupte – einige der „ursprünglich deutschen Familien“ seit 2015 aus diesen statistischen Gründen nicht mehr als von Armut betroffen gelten, „denn viele davon haben heute eben keinen höheren, sondern häufig einen niedrigeren Lebensstandard“.

Der Armutsbeauftragte des evangelischen Kirchenkreises Neukölln, Thomas de Vachroi, sieht die Ursachen von Kinderarmut ebenso vielfältig. Zur Berliner Zeitung sagte er: „Zu den Hauptgründen gehören Arbeitslosigkeit oder prekäre Beschäftigungsverhältnisse der Eltern, alleinerziehende Elternteile, geringe Bildung der Eltern, Migration, hohe Mieten und Wohnungsnot. Diese Faktoren können sich gegenseitig verstärken und dazu führen, dass Familien in einen Teufelskreis der Armut geraten.“ Er fügte hinzu: „Kinder, die in Armut aufwachsen, sind in vielerlei Hinsicht benachteiligt. Sie haben oft schlechtere Bildungschancen, leiden häufiger unter gesundheitlichen Problemen und haben ein höheres Risiko, sozial ausgegrenzt zu werden.“