Militarisierung Deutschlands

Alte Ängste, neues Aufrüsten: Vier Perspektiven auf Deutschlands Militärpolitik

Vier Redakteure mit Wurzeln im Ausland erklären, warum die neue Aufrüstungspolitik Deutschlands historische Wunden berührt und bei ihnen Sorgen auslöst.

Wie blicken Journalisten mit migrantischen Wurzeln auf die Aufrüstungsdebatte hierzulande?
Wie blicken Journalisten mit migrantischen Wurzeln auf die Aufrüstungsdebatte hierzulande?Amini und Pajović/Berliner Zeitung am Wochenende

Deutschland rüstet auf und Rückkehr zur Wehrpflicht vor der Tür. Im Ausland ruft der Gedanke an ein wiederaufgerüstetes Deutschland – 80 Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs – teils heftige Reaktionen hervor. Eine Redakteurin und drei Redakteure der Berliner Zeitung, die selbst Wurzeln außerhalb Deutschlands haben, erzählen, wie sie die deutsche Zeitenwende erleben.

„Deutsche Soldaten verbrannten Dörfer in unserer Heimat“

An einem Frühlingssonntag irgendwann 2019, lange bevor die Kriege in der Ukraine und im Gazastreifen unsere Gegenwart neu ordneten, saß ich bei meinen Eltern am Mittagstisch. Die Welt schien mir, dem Masterstudenten mit Schwerpunkt Osteuropa, offen zu stehen. Ich redete mit Mutti und Vati über meine Zukunft. Politikberatung, vielleicht was in der Wissenschaft, oder doch etwas mit Sprachen?

Dann jedoch fiel der Satz meines Vaters, der sich seitdem in mein Bewusstsein eingebrannt hat: „Aber du gehst nicht zum Bund, das verbiete ich dir. Denk an deine Ahnen!“

Lächelnd nahm ich das mit Mutter zur Kenntnis, denn ein Leben bei der Bundeswehr stand für mich nie wirklich zur Debatte. Doch die Ablehnung meines Vaters speiste sich nicht aus einer pazifistischen Laune heraus, sondern aus historischen Gründen, die in seinen und zum Teil ja auch in meinem belarussischen Herz tief verwurzelt sind.

Auch wenn die Bundeswehr keine Nachfolgeorganisation der Wehrmacht ist, so lösen deutsche Uniformen, Aufrüstungsdebatten und Bilder deutscher Truppen im Ausland doch etwas in uns aus. Unbehagen. Unwohlsein. Bilder aus Chatyn oder Maly Trostinez. Wenn Ihnen diese zwei schwer auszusprechenden Orte nichts sagen, googlen Sie einfach mal.

„Deutsche Soldaten verbrannten hunderte Dörfer in unserer Heimat“, sagte mein Vater. Er meint die etwa 630 Dörfer in Belarus, die von den deutschen Besatzern und ihren Kollaborateuren dem Erdboden gleichgemacht wurden. Er meint jeden vierten Einwohner von Belarus, der zwischen 1941 und 1945 von deutschen Soldaten gehängt, erschossen, verbrannt oder vergast wurde.

Die Bundeswehr mag rechtlich und im Geist nicht die Wehrmacht sein. Aber für unser Familiengedächtnis ist die deutsche Soldatenuniform ein Trigger, der die Dämonen der Vergangenheit wachruft.

Ich erinnere mich an meinen Urgroßvater, der im Zweiten Weltkrieg als Rotarmist gefallen ist, an meine Oma und Opa, die während der Besatzung in belarussischen Wäldern verharrten und mit Blaubeeren und Pilzen über die Runden kamen, an die Synagogen in Minsk und Brest, die in Brand gesteckt wurden. Die Schuld dafür tragen allein deutsche Soldaten!

Ich als Urenkel belarussischer Opfer zucke immer wieder zusammen, wenn ich Panzer auf deutschen Straßen sehe. Und ich versuche, meine Erinnerung nicht zu archivieren, auch wenn das über 80 Jahre her sein mag. Wenn mir heute sogenannte Experten im Radio und Fernsehen mit ihren politischen Diskursen über vermeintliche Sicherheit und Verteidigung was erzählen wollen, denke ich immer wieder an meine Familiengeschichte und an die Geister derer, die unter dem deutschen Stahlhelm starben. Nicolas Butylin


Wir Italiener haben die Wehrpflicht begraben

Ich war siebzehn, als meine Heimatstadt Genua im Oktober 2014 von einer verheerenden Überschwemmung heimgesucht wurde. Die Stadt war vom Wasser überflutet, und die Genueser zogen ihre Stiefel an, um gegen die Katastrophe zu kämpfen – durch vollgeschlammte Geschäfte, Wohnungen und Keller.

In kürzester Zeit versammelten sich viele junge Menschen, die ihre Hilfe an den am stärksten betroffenen Orten anboten, wie entlang der Straßen des Bisagno-Flusses. Neben ihnen halfen auch Soldaten mit Lastwagen, Schaufeln und Organisationstalent, um die Schäden zu bewältigen. Damals dachte ich mir: „Ein Jahr Zivildienst oder Katastrophenhilfe, das könnte ich mir vorstellen.“

Heute jedoch geht es nicht um Hilfe und Solidarität, sondern um Aufrüstung, Waffen und die Vorbereitung auf den Krieg. Eine Debatte, die in Deutschland mit weitaus mehr Nachdruck geführt wird als in Italien, wo die Wiedereinführung der Wehrpflicht politisch eher am Rande des Diskurses angesiedelt ist.

Seit dem 1. Januar 2005 ist die Wehrpflicht in Italien ausgesetzt, und niemand unter 40 Jahren kann sich ernsthaft vorstellen, dass sie jemals zurückkehrt. Theoretisch könnte es natürlich anders kommen – ein Dekret des Staatspräsidenten im Falle eines Krieges oder nationalen Notstands würde ausreichen. Doch die meisten Italiener dürften darauf keine Lust haben.

Wer nach 1990 in Italien geboren wurde, wuchs mit der Einstellung auf, dass Gewalt keine Lösung ist und Diplomatie der wahre Weg. Die EU sollte dieser Idee verkörpern – ein Friedensprojekt, das nach dem Zweiten Weltkrieg und dem Fall des Eisernen Vorhangs für immer den Frieden sichern sollte. Doch heute, mehr als 30 Jahre später, sollen wir uns plötzlich in eine Militärunion verwandeln. Aber was passiert, wenn niemand eine Uniform anziehen will?

Laut einer Umfrage von YouTrend votieren nur 36 Prozent der 18- bis 34-jährigen Italiener für eine Rückkehr zur Wehrpflicht, während 55 Prozent strikt dagegen sind. In der Gesamtbevölkerung ist das Bild etwas ausgeglichener (47 Prozent dafür, 46 Prozent dagegen). Die italienische Bevölkerung ist tief von der friedlichen Vergangenheit geprägt und will die Gräueltaten des Zweiten Weltkriegs und des Holocausts nicht ausblenden.

Seit Monaten gehen hunderttausend Italiener, unabhängig von ihrer politischen Ausrichtung wegen der humanitären Krise in Gaza auf die Straße und streiken „für den Frieden“. Es geht nicht um Schlamm und Schaufeln, sondern um Bomben und Tote. Aufrüstung zur Abschreckung und „Kriegstüchtigkeit“ – von diesen Werten haben sich die Italiener zu Beginn des neuen Jahrtausends verabschiedet. Franz Becchi


„Man kann Menschen nicht zur Verteidigung eines Staates zwingen“

Ich bin Kurdin, und ich bin überzeugt davon, dass Widerstand etwas ist, das den Kurden von Anfang an mitgegeben wurde. Einer der bekanntesten Ausrufe lautet „Berxwedan Jiyan e“ – übersetzt bedeutet das „Widerstand heißt Leben“. Dieser Satz spiegelt nicht nur die Lebensphilosophie des unterdrückten Volkes wieder, sondern war auch das Motto der Menschen, die unermüdlich Widerstand gegen die Angriffe der IS leisteten.

Meine Eltern haben mir nicht beigebracht, eine Waffe zu halten, aber sie haben mir beigebracht, mich zu behaupten, wenn jemand versucht, mich kleinzumachen. Dieses Kämpferische, das in unseren Adern fließt, hat weniger mit Militanz zu tun, es ist vor allem zutiefst menschlich.

Vielleicht berühren mich die Geschichten der kurdischen Kämpferinnen deshalb so sehr. Frauen, die in kürzester Zeit gelernt haben, wie man eine Kalaschnikow in Sekunden zerlegt, während der IS ein paar Kilometer weiter Menschen enthauptete.

Frauen, die auf Pick-ups durch die Wüste fuhren, um Städte zu verteidigen, weil sie keine andere Wahl hatten. Frauen, die sich dabei gegenseitig stützen und rauchend von Freiheit singen. Studentinnen, geschiedene Frauen, Mütter, die ihre Söhne verloren haben: Sie alle meldeten sich, weil sie wussten, dass, wenn sie es nicht tun, es sonst niemand tun wird.

Die kurdische Gesellschaft mag in vielem konservativ sein, doch wenn es um Selbstverteidigung geht, stehen Frauen an vorderster Front. Vielleicht wirkt die deutsche Debatte über Wehrpflicht und Militarisierung gerade deshalb so fern für mich.

Politiker sprechen darüber, die Jugend in Uniform zu stecken, als wäre das eine nüchterne, pragmatische Maßnahme und nicht ein tiefgreifender Eingriff in Leben und Haltung einer ganzen Generation. Sie wollen die Söhne der Bevölkerung in den Schützengraben schicken, während die eigenen Kinder nach dem Abitur die Elite-Universität besuchen sollen.

Wenn Deutschland etwas von der kurdischen Erfahrung lernen kann, dann nicht Mut und Opferbereitschaft; sondern die Warnung, die in unserer Geschichte liegt. Nämlich, dass kein Volk freiwillig zur Waffe greift, außer es hat keine Wahl. Wer weiß, was es bedeutet zu kämpfen, fordert niemals leichtfertig, dass andere es tun sollen. Wer den Preis kennt, fordert nicht, dass andere ihn bezahlen.

Die kurdischen Frauen hatten nie die Chance, über Sinn und Unsinn von Waffen zu diskutieren. Sie haben ihr altes Leben hinter sich gelassen und sind aus allen Flecken der Erde in Richtung Berge aufgebrochen. Freiwillig. Derweil gibt es in Deutschland ganze Streiks, Online-Petitionen und Protestbewegungen, die sich gegen die Wehrpflicht richten. Die Jugend will nicht, und das ist ihr gutes Recht. Man kann Menschen nicht zur Verteidigung eines Staates zwingen. Sinem Koyuncu


„Ich habe Angst vor Deutschland“

Als Jens Spahn diesen Sommer ein europäisches Atomwaffenschild unter „deutscher Führung“ forderte, schrillten in Frankreich die Alarmglocken. Auch wenn der Zweite Weltkrieg seit 80 Jahren vorbei ist, die deutsch-französische Aussöhnung samt Freundschaftsvertrag und Pipapo gefeiert werden und Deutschland und Frankreich heute engste Partner in Europa sind: In Frankreich fürchtet man sich weiterhin vor einem hochgerüsteten Deutschland.

Der Nachrichtensender LCI, der zum größten TV-Sender des Landes, TF1, gehört, organisierte nach Spahns Aussagen eine Debatte unter dem Titel: „Sollte man Berlin die Atombombe erlauben?“ Die Antwort der versammelten Experten und Journalisten auf dem Podium war schnell, direkt und einhellig: Nein!

Der konservative Journalist Renaud Girard von der Tageszeitung Le Figaro sagte, er schlafe besser, wenn die Deutschen keinen Zugang zu Atomwaffen hätten. Der ehemalige General Nicolas Richoux nannte Spahn einen „Idioten“ und erklärte, die Deutschen seien nicht glaubwürdig, man könne ihnen nicht trauen.

Christophe Gomart, ehemaliger Chef des französischen Militärgeheimdienstes, erinnerte daran, dass die Nato gegründet worden sei, „um die Russen draußen zu halten, die Amerikaner drinnen und die Deutschen unter Kontrolle“ – und genau so solle es bleiben.

Besonders scharf ging der Publizist Jean-François Colosimo mit Deutschland ins Gericht. Auch heute noch könne man nicht tolerieren, dass die Deutschen über Atomwaffen verfügen. „Das wollen wir nicht, genauso wenig wie beim Iran. Es gibt Aspekte der europäischen Geschichte, über die man nicht einfach hinweggehen kann.“ Und weiter: „Ich denke, die Deutschen haben ein sehr kompliziertes Verhältnis zu ihrer Vergangenheit, zum Krieg und zur Aufrüstung.“

Ja, diese Debatte spiegelte durchaus ein wenig französische Arroganz wider, dennoch war sie treffend: Im Ausland, besonders in Ländern, die von den Deutschen früher überfallen wurden, löst der Gedanke an ein aufgerüstetes Deutschland nach wie vor starke Abwehrreaktionen aus.

Und das völlig zu Recht: 80 Jahre sind in der Geschichte kein langer Zeitraum. Die Wunden, die Deutschland in ganz Europa hinterlassen hat, sind noch nicht verheilt. Ich sage das als Deutsch-Franzose, als Kind der Aussöhnung zwischen den Erzfeinden der beiden Weltkriege: Ich habe Angst vor Deutschland – Angst, dass dieses Land, sobald es wieder bis an die Zähne bewaffnet ist, erneut etwas Schlimmes anstellen könnte. Wenn ich den deutschen Verteidigungsminister sagen höre, Deutschland müsse wieder „kriegstüchtig“ werden, bekomme ich Gänsehaut und denke: Das müssen wir um alles in der Welt verhindern! Raphael Schmeller