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Die letzte Chance für die Ukraine: Was man über die Gegenoffensive wissen muss

Wir haben alle wichtigen Fragen zur geplanten Gegenoffensive der ukrainischen Streitkräfte zusammengestellt. Politik-Experte Alexander Dubowy klärt auf.

Die ukrainische Gegenoffensive soll Russland im Osten der Ukraine unter Druck setzen.
Die ukrainische Gegenoffensive soll Russland im Osten der Ukraine unter Druck setzen.Leo Correa/AP/dpa/Archiv

Die Weltöffentlichkeit rechnet damit, dass bald die Gegenoffensive der ukrainischen Truppen startet, um russisches Militär aus den besetzten Gebieten in der Ukraine zu vertreiben. Wir haben unseren Experten Alexander Dubowy gefragt, worauf man jetzt achten und was man wissen muss. Alle wichtigen Fragen und Antworten im Überblick.

Wann startet die Gegenoffensive voraussichtlich?

Aufgrund der aktuellen Witterungsverhältnisse könnten die ukrainischen Offensivoperationen wohl frühestens in der ersten Maihälfte beginnen. Jedwede Erfolge der ukrainischen Streitkräfte vor dem 9. Mai wäre eine hochsymbolische und aus diesem Grunde sehr bittere internationale Blamage für Russland. Aktuell bleibt der genaue Beginnzeitpunkt aber unbekannt. Angesichts der hohen Risiken im Falle ihres Scheiterns könnte die ukrainische Offensive angesichts der notwendigen Planungs- und Vorbereitungszeit erst im Sommer beginnen. Aktuell ist Moskau nicht in der Lage, die Richtung des ukrainischen Hauptangriffes auch nur annährend zu bestimmen. Insgesamt scheint die bereits im vergangenen Herbst eingesetzte ukrainische Taktik des Tarnens und Täuschens (u.a. durch Einsatz aufblasbarer bzw. hölzerner Panzer-, Raketen- und Artillerieattrappen; Schaffung von Scheinstellungen inklusive Wärmegeneratoren, die den Betrieb von Motoren simulieren; falsche Mobilfunksignale, die den angeblichen Standort aufzeigen etc.) erneut aufzugehen. Infolgedessen bleiben die unweit der Front stationierten einsatzbereiten ukrainischen Truppenteile unbemerkt. Die Angst vor einem Angriff aus unbekannter Richtung zwingt das russische Kommando dazu, Reservekräfte an unterschiedlichen Frontabschnitten sowie im frontnahen Hinterland zu halten, was einer adäquaten Erholung sowie Truppenrotation hinderlich ist. Die Versorgung und die ständige Alarmbereitschaft der Reservetruppen vergeudet zudem die ohnehin begrenzten Ressourcen.

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Zum Autor
Dr. Alexander Dubowy ist Politik- und Risikoanalyst sowie Forscher zu internationalen Beziehungen und Sicherheitspolitik mit Schwerpunkt auf Osteuropa, Russland und GUS-Raum. Er ist Mitarbeiter der Berliner Zeitung am Wochenende.

Wie erfolgreich wird die Gegenoffensive sein?

Die genauen Erfolgsaussichten können aufgrund des Kriegsnebels unmöglich vorhergesagt werden. Allerdings war die Ukraine bislang stets für positive Überraschungen gut. Die anhaltende Panik auf russischer Seite vor einem drohenden Angriff aus unbekannter Richtung ist zweifelsohne vom großen Vorteil für Kiew, über den tatsächlichen Erfolg der Offensivoperationen werden allerdings viele Faktoren entscheiden. Denn die Erwartungen sind sowohl bei der ukrainischen Bevölkerung als auch im Westen enorm hoch. Letzteres ist insbesondere angesichts der westlichen Unterstützungsleistungen, die weit über die bloßen Waffenlieferungen hinausgehen, der Fall. Der Direktor des ukrainischen Militärnachrichtendienstes Kyrylo Budanow fasste den Erfolgsdruck im Interview mit abcNews mit dem Satz „Ohne Siege werden früher oder später Fragen gestellt, ob es sich lohnt, die Ukraine weiter zu unterstützen“ treffend zusammen. Die einzige realistische Chance auf einen nachhaltigen (und nicht nur durch das Einfrieren des Konfliktes anvisierenden) Waffenstillstand und auf Friedensverhandlungen würde sich nur im Falle eines klaren militärischen Erfolges der Ukraine, der Befreiung wesentlicher Teile der besetzten Gebiete und eines drohenden Zusammenbruches der russischen Verteidigungslinien eröffnen. Denn bevor Russland auch nur in die Nähe entscheidender militärischer Niederlagen kommt, wird sich die Verhandlungsbereitschaft des Kremls auf eine wundersame Weise einstellen. Doch Tatsache ist, dass die geplante ukrainische Offensive auch große Risiken für Kiew birgt, handelt es sich wohl um die letzte Chance der Ukraine, den Krieg militärisch für sich zu entscheiden. Nachdem die ukrainischen Streitkräfte nur über begrenzte Material- und Personalreserven verfügen, wird Kiew kaum Gelegenheit haben, die verschlissenen Kampfverbände neu aufzustellen und auszurüsten. Sollte die ukrainische Offensive scheitern, droht Kiew nicht nur die Initiative an der Front zu verlieren, sondern zu einem langen und kostspieligen Stellungs- und Abnutzungskrieg gezwungen zu werden; mit letztlich kaum absehbaren Folgen für den Kriegsausgang. Denn nach Angaben von The Washington Post soll Russland Ressourcen besitzen, um ein weiteres Jahr des Krieges finanzieren zu können.

Worauf sollten wir in nächsten Tagen achten?

Wenn die ukrainische Offensive beginnt, werden wir es relativ schnell bemerken. Allerdings dürfte der Beginn innerhalb der nächsten Tage nur wenig wahrscheinlich sein, wenn auch nicht ausgeschlossen sein. Oder anders gesagt: Der Beginn innerhalb der nächsten drei Tage dürfte aufgrund der Witterungsverhältnisse nur wenig wahrscheinlich sein.

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