Als vor zehn Jahren der erste Street Food Thursday in der Kreuzberger Markthalle Neun über die Bühne ging, war Streetfood in Berlin ein sich frisch entwickelnder und an vielen Ecken auch noch herrlich dilettantisch betriebener Gastro-Trend.
Alles brutzelte und briet plötzlich Bánh-xèo-Pfannkuchen und Chungking-Nudeln, füllte Naan-Sandwiches und Pulled-Pork-Burger. Bald kam kein Hipster-Gaumen mehr vorbei an den kleinen Happen vom Foodtruck oder Imbisswagen, die in den USA längst Teil der Alltagskultur waren – und die in vielen asiatischen und südamerikanischen Ländern bis heute zur Grundversorgung der Stadtbewohner gehören.
In der Currywurst-Metropole Berlin gab der neue Trend einer immer internationaler werdenden Bevölkerung endlich auch abseits der legendären Thaiwiese die Gelegenheit, die Vielfalt ihrer Heimatküchen zu präsentieren. Eine kulinarische Horizonterweiterung: Berlin kann mehr als Döner und Asia-Nudel-Box!
Die Leute von der Markthalle Neun, die 2011 die historische Halle in der Eisenbahnstraße für 1,15 Millionen Euro von der Stadt Berlin gekauft hatten, erkannten die Zeichen der Zeit nicht nur früh, sie institutionalisierten sie auch gleich: Im Frühjahr 2013 startete der Street Food Thursday, schon zum Auftakt kamen 7000 Menschen.

Später zogen dann Events wie der Bite Club, der Village Market und „Street Food auf Achse“ in der Kulturbrauerei nach. Der Street Food Thursday kann für sich in Anspruch nehmen, der erste seiner Art gewesen zu sein – und bis heute etlichen Köchinnen und Köchen ein Forum zu bieten, die sich kein eigenes Restaurant leisten können oder wollen. Viele Standbetreiber von einst wiederum haben heute ein eigenes Lokal in Berlin.
Und auch wenn sich die Markthalle Neun durch den Streit um eine Aldi-Filiale vor ein paar Jahren plötzlich mitten in einer handfesten Gentrifizierungsdebatte wiederfand – der Auszug des Discounters wurde von vielen Anwohnern als Verdrängung der ärmeren Kundschaft wahrgenommen –, ist sie im Kiez auch wegen des Streetfoodmarktes inzwischen fest verwurzelt. Denn auch türkische Nachbarn betreiben hier ihre Stände, gegen den Vorwurf einer Luxus-Food-Halle wehren sie sich.
Inzwischen hat sich dort, wo der Aldi war, ein Drogeriemarkt niedergelassen. Die Diskussion sei abgeflaut, sagt Frederic Erdl vom Markthallen-Team. Der dm stelle eine gute Ergänzung im Portfolio dar, „und unserem türkischen Gemüsehändler geht’s auch besser ohne Aldi“, so der Augsburger.
Probekochen: Bloß keine kulturelle Aneignung am Herd
Ins Portfolio müssen auch die Händler beim wöchentlichen Street Food Thursday passen. Angefangen hat der Markt mit 15 Ständen, heute sind es 50. Jede Woche kommen neue Bewerbungen rein, doch wer in der Markthalle Neun kochen will, muss beim Probeessen nicht nur geschmacklich überzeugen, sondern auch mit seiner Geschichte. Kulturelle Aneignung am Herd sei nicht gefragt, so Erdl, Authentizität dagegen umso mehr.
Die Erwähnung in zahlreichen Reiseführern trägt dazu bei, dass der Markt auch jetzt, wo der Streetfood-Hype abgeflaut ist, regen Zulauf erlebt. Noch immer kommen jeden Donnerstag Tausende Besucher, schieben sich mampfend durch die Gänge. Auch wir haben bei unserem Besuch so einige unbekannte Köstlichkeiten probiert und festgestellt: Was man hier bekommt, gibt es wirklich nicht an jeder x-beliebigen Berliner Bude.

1. Frühstück auf Chinesisch: Bei Ben von Jian Bing Town
Dass am Stand von Ben besonders viele Leute stehen bleiben, liegt auch am einnehmenden Wesen seines Betreibers. Ben strahlt einem schon von weitem entgegen; noch bevor er die Eier auf dem Crêpe-Teig verteilt, fängt er ein Gespräch an. Jianbing, wie seine Spezialität heißt, gebe es in China jeden Tag zum Frühstück, erzählt er.
Ben, der eigentlich Chuan heißt und von Hause aus Grafikdesigner ist, kocht seit zwei Jahren in der Markthalle. Vor fünf Jahren kam er aus Tianjin, einer 15-Millionen-Metropole im Nordosten der Volksrepublik, nach Berlin. Was er in seiner neuen Heimatstadt vermisste, waren Jianbings – ein traditionelles chinesisches Imbissgericht und eines der populärsten Streetfoodgerichte des Landes.

„Bei uns zu Hause bereiten die Frauen der Familie sie im Hof zu“, berichtet Ben. Sein hauchdünn ausgestrichener Teig besteht aus Mungbohnen, er wird mit frisch gebratenen Eiern und Frühlingszwiebeln gefüllt und dann wie ein Crêpe zusammengefaltet. Krosse Weizenmehlchips und eine süße Sojapaste geben den besonderen Geschmack, man kann auch noch Pilze, Schinken oder Sprossen als Topping dazu bestellen, aber das ist eigentlich nicht nötig.
„Das schönste Kompliment ist für mich“, sagt Ben, „wenn die Leute sagen, es schmeckt wie zu Hause bei meiner Tante.“ Er habe in der Coronazeit, als er nicht nach China fliegen konnte, oft Heimweh gehabt. Seine Jianbings konnten das ein wenig lindern.
2. Pioniere mit Smoker: Tobias und sein Team von Big Stuff
Tobias Bürger gehörte 2013 zu den Initiatoren des Street Food Thursday. Heute steht er an sechs Tagen pro Woche in der Kreuzberger Markthalle, ist schwer beschäftigt und muss auch gleich wieder weg. Vorher aber dürfen wir noch probieren vom Pulled-Pork-Sandwich am Stand von Big Stuff Smoked BBQ. Darin ist Fleisch vom Duroc-Schwein, das zwölf bis 16 Stunden bei 90 Grad im Räucherofen war.
Fantastisch mürbe und mager ist das Fleisch, der Rauch gibt ein besonderes Aroma, das perfekt mit dem süßen Apfel im Brötchen zusammenspielt. Tobias Bürger und Anna Lai von Big Stuff brachten ihren gigantisch großen Südstaaten-Smoker einst aus den USA mit nach Berlin, weil sie in New York nirgendwo lieber aßen als bei einem richtigen Barbecue.

Bis der eigene Laden in Berlin so weit war, parkte der Ofen in einer Garage in Spandau. Heute ist aus der Idee ein Unternehmen geworden, und was Pulled Pork ist, muss man in Kreuzberg niemandem mehr erklären. Dafür umso mehr, dass man beim Fleisch genau hinschaut. Die Rinder kommen von Biobetrieben aus dem Salzburger Land, das Duroc-Schwein aus Thüringen, wo es auf Stroh und mit Außenbereich gehalten wird.
Aus Tobias Bürger spricht indes der Geist eines Marktpioniers, wenn er von den Anfängen erzählt: „Damals war der Street Food Thursday wirklich cool, ein Ort für Leute, die im Nachtleben und in der Kulturszene aktiv waren.“ Heute sei das Format im Mainstream angekommen – aber immer noch offen für alle. Zu seinem Team gehören zwei junge Männer, die an der Schule in der Reichenberger Straße Abitur gemacht haben. „Die kamen schon mit neun Jahren hierher“, sagt Bürger noch, bevor er los muss.
3. Wie bei der türkischen Großmutter: Teigtaschen von Manti Berlin
Sie sind ziemlich winzig, die handgemachten türkischen Teigtaschen, die am Stand von Duygu Uzuner verkauft werden. Aber im Mund entfachen sie eine wahre Geschmacksexplosion, was besonders auf eine Zutat zurückzuführen ist.
Manti, so heißt das traditionelle Gericht, werden bei Duygu und ihrem Mann Mehmet mit Knoblauchjoghurt und einer Butter-Paprika-Soße serviert. „Nach einem Rezept von meiner Oma“, erklärt die studierte Wirtschaftsmathematikerin, die vor ihrer Kochkarriere als Programmiererin gearbeitet hat.

Die Familie wohnt um die Ecke, Manti gab es auch immer zu Hause. „Wir haben das zusammen zubereitet und gegessen, und alle wollten davon probieren“, erzählt Duygu Uzuner. Irgendwann kam die Idee auf, die anatolische Version der Tortellini auch Fremden zu servieren, „aber ein eigenes Restaurant war finanziell nicht machbar“.
Seit 2018 kocht das Ehepaar nun mehrmals pro Woche in der Markthalle Neun. Klein und überschaubar sei das – und gleichzeitig sehr flexibel, was mit drei Kindern nicht ganz unerheblich ist. Die ganze Familie packe mit an, erzählt Duygu Uzuner. Den Nudelteig und die Füllungen bereiten sie in einer Gewerbeküche vor, live vor Ort entsteht dann die berühmte Soße der Großmutter. Das scharfe Paprikapulver darin gibt den Manti den letzten Schliff, verfeinert wird am Ende noch mit orientalischem Sumach-Gewürz und Minze. So isst man die Teigtaschen auch im zentralanatolischen Kappadokien, wo die Wurzeln von Uzuners Familie liegen.
4. Gewürze ohne Ende: Willkommen im Samosa Club
Die Geschichte vom Samosa Club Berlin kann man auf der Rückwand des Standes nachlesen. Im Jahr 2022, heißt es dort, entschieden drei Samosa-Fans, dass es an der Zeit sei, die indisch-pakistanische Spezialität als das anzuerkennen, was sie ist – ein „kulinarisches Wunderwerk“ nämlich. In hiesigen Restaurants sei man enttäuscht gewesen, mit wie wenig Liebe die Samosa behandelt werde. Und sie haben es wirklich versucht, die drei Gründer um Rohan Fernandez.
„Wir haben in 115 Berliner Restaurants Samosas probiert“, erzählt der Mann aus dem indischen Mumbai, der seit 2017 in der deutschen Hauptstadt lebt. Geschmeckt habe es nirgends. Also nahmen Fernandez und sein Team die Sache selbst in die Hand. Seit ein paar Wochen sind sie mit einem Stand auf dem Street Food Thursday vertreten, eine große Ehre, wie Fernandez betont.

Die dreieckigen, frittierten Teigtaschen gibt es am Stand mit verschiedenen Fleischfüllungen, in der vegetarischen Variante mit dem indischen Paneer-Käse oder vegan mit Kartoffeln, Erbsen, Zwiebeln und Gewürzen. Auf die komme es an, sagt der pakistanische Koch Suleman und zählt auf, was alles reingehört in seine Samosas: Kreuzkümmel, Sternanis, Koriandersamen, Kardamom, Garam Masala ...
Traditionell wird eine an der Garküche gekaufte Samosa einfach in der Serviette gehalten und im Stehen gegessen. Doch Vorsicht: So frisch aus der Fritteuse ist die Füllung sehr heiß. „In Indien liebt sie jeder“, sagt Rohan Fernandez. Wie viele Streetfoodgerichte hätten auch Samosas ihren Ursprung in der Armut. Denn die kleinen Mahlzeiten sind traditionell nicht nur nahrhaft, sondern auch sehr günstig.
5. Ein Brandenburger Weltenbürger: Backschwein von Bauer Bernd
Während andere Händler eine Geschichte erzählen, hat der Schweinebauer Bernd Schulz gleich Dutzende Anekdoten auf Lager. Ohne Umschweife beginnt er damit, wie er mal in Ungarn fast vom Baum gefallen wäre, dass die New York Times schon über ihn geschrieben hat, wie er Arnold Schwarzenegger und Gregor Gysi traf.
Zwischendrin eilt Schulz, ein massiger Mann mit Energie für drei, immer wieder zurück an seine Pfannen. Er läutet die Glocke und ruft: „Lecker Backschwein!“ durch die Halle. Seine Spezialität ist das, zartes Fleisch vom Schwein, acht Stunden im Holzbackofen gegart. Dazu werden Schlachtekraut, Senf und Brot gereicht.

Zwischen all den Kreuzberger Kosmopoliten wirkt Schulz mit seinem Angebot fast wie ein Alien, ein wenig aus der Zeit gefallen. Und doch gehört er dazu, seit vielen Jahren, der Brandenburger Bauer, der vor der Markthalle keinen Parkplatz mehr findet und nicht weiß, wie lange er sich das Händlerdasein noch antun wird.
Auf seinem Hof in Gömnigk, 70 Kilometer südwestlich von Berlin, hat er den Betrieb bereits an eine Landwirtin abgegeben. Seine Nachfolgerin kümmert sich jetzt um die Fläminger Weideschweine und die Ferkelzucht auf dem Biohof.








