Stadtgeschichte

Endlich nicht mehr im Müll versinken: Wie Berlin zu seinen Markthallen kam

Lange galt Handel – auch mit Lebensmitteln – als suspekte Beutelschneiderei. Auf den Marktplätzen sollte der Bauer direkt verkaufen. Bis die Stadt zu groß war. 

Die Markthalle II in der Friedrichstraße (Lindenhalle) öffnete 1886. Es gab auch Ananas.
Die Markthalle II in der Friedrichstraße (Lindenhalle) öffnete 1886. Es gab auch Ananas.akg-images/Deutschmann

Auf dem Wochenmarkt habe der Stadtmensch die „Gelegenheit zu regelmäßigem, möglichst wohlfeilem Erwerb von Lebensmitteln in unmittelbarem Verkehr mit den Produzenten der Umgebung“, schreibt August Lindemann, Architekt, Königlicher Baurat und Stadtbauinspektor, im Jahr 1899 in seinem Buch „Die Markthallen Berlins“. Auf den Märkten stelle sich das wohlige Gefühl ein, von Vertrauenspersonen zu kaufen, nicht von unbekannten Händlern.

So hielt es die Doppelstadt Berlin/Cölln seit dem 14. Jahrhundert, anfangs auf dem Molkenmarkt, auf dem Neuen Markt vor der Marienkirche und dem Spittelmarkt. Nach dem Willen von Obrigkeit und Volk sollte das so bleiben, „um die Einmischung dritter Personen in den Handel zwischen Bürger und Bauer“ zu unterbinden. 13 Jahre vor Erscheinen von August Lindemanns Buch hatten nach langen Umwegen und Fehlschlägen die ersten vier Markthallen in Berlin eröffnet, später kamen zehn weitere dazu.

Fischhändlerin in der Zentralmarkthalle Berlin.
Fischhändlerin in der Zentralmarkthalle Berlin.AKG

Vier von ihnen gehören bis heute als beliebte Orte zu Berliner Quartieren: die Ackerhalle in Mitte (Markthalle VI), die Arminiushalle (Markthalle X) in Moabit, die Eisenbahnhalle (Markthalle Neun) und die Marheinekehalle (Markthalle XI), beide in Kreuzberg.

Wie in anderen sozialen Belangen auch war Berlin recht spät dabei, die Frage der sicheren, preiswerten und hygienischen Versorgung mit Lebensmitteln zu beantworten. Stadtverordnete hatten die Pariser und Londoner Markthallen gesehen und von deren Vorzügen geschwärmt: von täglicher Öffnung, von Sauberkeit und Ordnung, von fließendem Wasser und Eiskellern zur Lagerung empfindlicher Waren, von Kühle im Sommer, von Schutz vor Kälte und Nässe im Winter.

Markthallen in Berlin: „Koofen se, Madameken!“

Aber noch immer beharrte das Gemeinwesen auf seinen 20 Wochenmärkten mit kleinen Ständen, wo die Waren ohne schützendes Dach teils auf der Erde, teils auf klapprigen Holzgestellen lagerten, feilgehalten von laut anpreisenden Verkäuferinnen: „Koofen se, Madameken!“ Als die Märkte prägende Figuren beschrieb der Humorist Adolf Glaßbrenner (1810–1876) diese Hökerinnen (Kleinwarenhändlerinnen). Zu ihnen gehörten die „Werder’schen“, die ihre Äpfel und Kirschen in Hucken zum Verkauf in die Stadt trugen.

Bei aller Liebe zum Lokalkolorit – auf den Märkten häufte sich trotz aller Verordnungen der Müll, wurde Lebendvieh verkauft und allerhand Kleingetier geschlachtet.

Stadtbauinspektor August Lindemann führte das Beharren auf der kleinteiligen, ineffizienten Direktvermarktung immer wieder auf das Misstrauen gegen den profitgierigen Zwischenhandel zurück. Den hatte es immer schon gegeben, und vor allem in Zeiten allgemeiner Teuerung sah das Volk darin den „alleinigen Urheber aller Noth“.

So hatte nach zweimaliger Missernte 1847 Lebensmittelmangel in Berlin geherrscht, Preissteigerungen waren die Folge, die, laut Lindemann, von der Polizei „durch strenge Maßregeln gegen die Verkäufer“ unterbunden werden mussten: Der Kontakt zwischen Landleuten und berufsmäßigen Zwischenhändlern wurde reglementiert.

Diese Großeinkäufer durften sich nur in den letzten beiden Marktstunden auf den Wochenmärkten eindecken, wenn sich die Privatkunden bereits versorgt hatten. Polizeibeamte kontrollierten bereits frühmorgens die Straßen vor den Stadttoren, um die Begegnung von Händlern und Bauern zu verhindern. So hatte man das schon im Mittelalter gehandhabt, um lokale Viehhändler vor der Konkurrenz jüdischer Händler zu schützen – die durften sich den Stadtmauern nicht nähern.

Per Kahn oder Hucke in die Stadt

In dieser konfliktreichen Gemengelage scheiterten die ersten Bestrebungen, in Berlin Markthallen zu errichten. Die Stadtverordnetenversammlung beschloss auf Antrag des Magistrats, „die Angelegenheit mit Rücksicht auf die bewegten Zeitverhältnisse vorläufig wieder ruhen zu lassen“. Doch infolge von Missernten und anhaltender Not kam es immer wieder zu Aufständen. Da half es auch nicht, dass die Stadt eine „besondere Deputation“ einsetzte, um von Amts wegen die Märkte mit dem Hauptnahrungsmittel der ärmeren Bevölkerung, der Kartoffel, zu versorgen – eine Art amtliches Kartoffel-Hilfspaket.

Derweil machten sich immer weniger Lebensmittelproduzenten selber auf den Weg in die Stadt. Stadtbauinspektor Lindemann schreibt: „Aufkäufer und Höker, die meilenweit in der Runde umherfuhren, um den Bauern und Gutsbesitzern ihre Erzeugnisse abzukaufen“, beherrschten schließlich die Wochenmärkte. Nach Marktschluss zogen sie mit ihren Hucken durch die Straßen. An der Spree und später am Landwehr- und Luisenstädtischen Kanal langte Obst aus Werder im Havelland oder Gemüse aus dem Spreewald an. Ab Kahn ging es an die Kunden. Unter denen waren Zwischenhändler, die mit Hunde- oder Pferdegespannen anrückten.

Derweil drehte sich die Welt immer schneller. 1871 wurde Berlin Reichshauptstadt und zählte 800.000 Bewohner, fast fünfmal so viele wie zum Ende der Befreiungskriege gegen Napoleon. Preußen hatte eine Welle von Reformen durchlaufen: die Emanzipation der Juden, die Abschaffung der Leibeigenschaft, die Einführung der Gewerbefreiheit und die städtische Selbstverwaltung.

Die erste Markthalle in Berlin

Jahrzehnte hatte es gedauert, bis die Gemeindevertretung sich ihrer Verantwortung für öffentliche Belange bewusst wurde. Aber dann ging sie entschlossen vor und leitete auf Zuwachs ausgelegte kommunale Projekte in die Wege: die Kanalisation, den Zentralen Vieh- und Schlachthof. Und schließlich die Markthallen.

Am 1. Oktober 1867 eröffnete die erste ihrer Art als von der Berliner Immobilien-Aktiengesellschaft privat finanziertes Projekt: eine filigrane Konstruktion aus Gusseisen und Glas, 84 Meter lang, 62 Meter breit und 15,5 Meter hoch. Doch die Halle, die zwischen Schiffbauerdamm und Karlstraße (heute Reinhardtstraße) lag, war für den Lieferverkehr schwer zu erreichen.

Darüber hinaus störten sich die Händler an den hohen Standmieten und der Verteilung der Verkaufsstände auf verschiedenen Ebenen. Nach sieben Monaten war Schluss. Die Halle wurde mehrfach umgebaut und genutzt: als Waffenlager, Zirkus, Schauspielhaus und ab 1891 als Standort des ersten Friedrichstadt-Palasts. Ihr Abriss erfolgte erst 1982.

Das große Markthallenprogramm

Anfang der 1880er-Jahre leitete der Magistrat sein großes Markthallenprogramm ein, nunmehr von der Stadt finanziert. Es folgte der Einsicht, dass anders eine öffentliche Kontrolle des Lebensmittelhandels, der Herkunft und Qualität solcher verderblichen Güter wie Fleisch, Fisch und Gemüse nicht möglich war.

Die weitgehende Zentralisierung des Einzelhandels sollte hygienische Standards in der Lagerhaltung und beim Verkauf sichern. Es ging schließlich um die Verproviantierung und Gesundheit der mittlerweile 1,3 Millionen Einwohner in der größten Stadt Deutschlands – deren Anzahl sollte sich in den folgenden beiden Jahrzehnten verdoppeln.

In allen Stadtteilen entstanden kleinere Hallen. Als Standort für eine große zentrale Markthalle wurde der Alexanderplatz bestimmt, mit direktem Anschluss an die 1882 eröffnete Stadtbahn. Den Fischverkauf samt Meerwasserbecken mit lebenden Fischen platzierte man in die Arkaden der Stadtbahn. Polizei und Verwaltung fanden ebenfalls Räume in den Arkaden.

Markthallen in Berlin: Meisterleistungen aus Gusseisen

Stadtbaurat Hermann Blankenstein erhielt den Auftrag für die Hallenentwürfe. Gemeinsam mit August Lindemann machte er sich an das stadtverändernde Werk. Alle Hallen – ob frei stehend, in einem Hinterhof oder an einer Straßenecke – entstanden nach ähnlicher Grundstruktur: Ein hohes Trägersystem aus Gusseisen bildete ein Mittelschiff mit seitlichen Oberlichtern, rechts und links flankiert von je einem Querschiff. Die Architektur erinnerte an den Baustil der antiken Basilika, den das Christentum für seine Kirchen übernommen hatte.

Hat die Zeiten überstanden: Markthalle Neun in Berlin-Kreuzberg. Erbaut nach Entwürfen von Stadtbaurat Hermann Blankenstein.
Hat die Zeiten überstanden: Markthalle Neun in Berlin-Kreuzberg. Erbaut nach Entwürfen von Stadtbaurat Hermann Blankenstein.imago/Jürgen Ritter

Die Ummauerung mit gelben Backsteinen dämpfte Temperaturschwankungen, die Fassade zierten gelbe und rote Schmuckelemente aus Terrakotta. Die großzügige Gestaltung der Eingangsportale spiegelte die öffentliche Wertschätzung der Märkte. In der Nachbarschaft wurden weitere Geschäfte angesiedelt, ein Zeichen, dass der Verkaufsladen zur urbanen Norm wurde. Die Stände in den Hallen maßen jeweils etwa vier Quadratmeter.

Und nun wurde – adieu, alter Zopf – an Bauern und Händler gleichermaßen vermietet. Die im Vergleich zum offenen Wochenmarkt höheren Standmieten könnten, so die Hoffnung, durch höheren Umsatz ausgeglichen werden.

Das Zentralblatt der Bauverwaltung vermeldete am 8. Mai 1886: „Am 3. des Monats sind vier von den in Aussicht genommenen Berliner Markthallen dem Betrieb übergeben worden. Dieselben sind bestimmt, für acht bisher unter freiem Himmel abgehaltene Märkte Ersatz zu gewähren.“

Markthallen in Berlin: Bald war die große Halle zu klein

Die Central-Markthalle an der Neuen Friedrichstraße (heute Littenstraße) reichte bald nicht mehr aus, eine zweite wurde 1893 in direkter Nachbarschaft eröffnet. Mit einer Gesamtgrundfläche von 11.600 Quadratmetern übertraf der Komplex die berühmten Pariser Les Halles. Stadtbauinspektor August Lindemann freute der Boom: Berlins öffentliche Plätze würden befreit; an die Stelle der öden, gepflasterten Marktplätze träten Park- und Gartenanlagen, „werthvolle Erholungsstätten für den weniger begüterten Theil der Bevölkerung“.

Die Verwaltung der Hallen oblag dem Magistratsdezernat für Markthallen und Milchkühlanlagen. Eine Marktpolizei kontrollierte die Einhaltung der Vorgaben. Sie hatte gut zu tun: Die Diebstähle in der Central-Markthalle seien zu einer ständigen Rubrik geworden, meldete das Berliner Tageblatt am 6. August 1905, „jetzt sind wieder in kurzer Zeit hintereinander dem Kaufmann Schluchauer 35 Pfund Schweizerkäse, Herrn Max Wegner 100 Pfund große Spickaale, Herrn Georg Wegener 7 große Kisten Spickaale im Wert von 70 Mark gestohlen worden. Die Polizei sucht jetzt den Käse, die Spickaale und die Spitzbuben.“

Das kurze Leben des Shoppingcenters Berlin Carré

Einige der kleineren Markthallen scheiterten bald, schlossen und wurden umfunktioniert. Die Central-Markthallen überdauerten. Beide erlitten 1944 Bombentreffer. Halle Ia wurde später abgetragen, Halle I notdürftig saniert – sie war für die Ost-Berliner von großer Bedeutung, bis sie in den 1960ern einem dem neuen sozialistischen Zentrum entsprechenden markthallenähnlichen Bau wich. Der wiederum wurde durch das Shoppingcenter Berlin Carré ersetzt. Dem blieb allerdings, anders als den historischen Hallen, der Publikumserfolg versagt.