Vor der Premiere

Und wieder werden die Zinksärge verschweißt: Mit Theater gegen den Krieg

Elzbieta Bednarskas Mutter ist Russin, sie ist in Polen aufgewachsen und lebt in Deutschland. Jetzt macht sie Theater mit Swetlana Alexijewitschs „Zinkjungen“.

Die Regisseurin Elzbieta Bednarska in der Berliner Parochialkirche
Die Regisseurin Elzbieta Bednarska in der Berliner ParochialkircheBenjamin Pritzkuleit

Es ist nicht der Glaube, der Elzbieta Bednarska jetzt regelmäßig in die Kirche führt. Sie trifft in der Parochialkirche in Berlin-Mitte ihr Team aus Schauspielern, Musikern, Bühnentechnikern. Am Donnerstag wird ihr Stück „Zinkjungen. Von schwarzen Tulpen und Zinksärgen“ hier uraufgeführt. Die Regisseurin verspricht, dass die riesige Halle sich noch verändern wird. Das gehört zum Prinzip ihres Arbeitens: Elzbieta Bednarska inszeniert auch die Räume – ob es das ehemalige Frauengefängnis in Lichterfelde SOEHT 7 ist, die Musikbrauerei in Prenzlauer Berg oder das Kühlhaus im Gleisdreieck-Park.

Als der Fotograf sie am Montagnachmittag bittet, sich in eine der Bankreihen zu setzen, zieht Elzbieta Bednarska gleich ein Knie hoch. Bloß nicht fromm wirken!, mag sie in dem Moment wohl gedacht haben. Während wir sprechen, machen die Schauspieler und die Sängerin keine Pause. Einzeln oder im Chor sind ihre Stimmen fast durchgängig laut zu hören, dazu die Instrumente: Es bleibt nicht mehr viel Zeit zum Proben. Zur Premiere hat sich sogar die Literaturnobelpreisträgerin Swetlana Alexijewitsch angekündigt, die in Berlin lebt, seit es für sie in Belarus zu unsicher wurde.

„Schwarze Tulpen“: Die Flugzeuge mit den Toten

Das Stück entstand auf der Grundlage eines Buches von Alexijewitsch, „Zinkjungen“, 1989 erstmals in Minsk veröffentlicht. 2014 erschien es in einer erweiterten Neuausgabe auf Deutsch. Es handelt vom Krieg, den die Sowjetunion in den Jahren 1979 bis 1989 in Afghanistan führte, mit verheerenden Verlusten. In zugeschweißten Zinksärgen wurden Tausende sowjetischer Soldaten nach Hause zurückgeschickt. „Schwarze Tulpen“ nannte man die Flugzeuge.

Swetlana Alexijewitsch verwob in dem dokumentarischen Roman die Stimmen von Rückkehrern aus diesem Krieg mit denen der Mütter gefallener oder traumatisierter Soldaten. „Wir wissen nichts über ihn“, den Krieg, heißt es zu Beginn des Buches, „kennen nur die heroischen Fernsehreportagen. Von Zeit zu Zeit erschaudern wir beim Anblick der aus der Fremde heimgebrachten Zinksärge. Ein paar Salutschüsse zum Gedenken, dann ist wieder Ruhe. Unsere mythologische Mentalität ist unerschütterlich – wir sind gerecht und wir sind groß. Und haben immer recht. Die letzten Funken der Idee einer Weltrevolution glimmen da vor sich hin …“

Die Schriftstellerin erkundet mit ihrem Werk den Homo sovieticus, geht der Frage nach, wie es passieren konnte, dass eine menschenfreundliche Idee menschenfeindlich umgesetzt wurde. Das kulminiert in ihrem Buch „Secondhandzeit“, ist aber auch zum Beispiel in ihrer Tschernobyl-Chronik deutlich. Elzbieta Bednarska zieht es immer wieder zu diesen Büchern. 

Nachdem sie „Secondhandzeit“ inszeniert hatte, wollte sie ein Stück über den Krieg machen, erzählt sie, weil der in Russland so wichtig für die Identifikation sei. Sie hatte zwei Bücher zur Auswahl: „Der Krieg hat kein weibliches Gesicht“ über die Frauen im Zweiten Weltkrieg oder „Zinkjungen“. Die Entscheidung reifte, als sie 2020 und 2021 mit afghanischen Geflüchteten in der Schweiz arbeitete. Während sie mit ihnen ein Odysseus-Projekt einstudierte, spielte sich vor den Augen der Welt das Drama auf dem Flughafen von Kabul ab. „Da war der Groschen endgültig gefallen“, sagt sie, „ich musste mich mit der Vorgeschichte beschäftigen.“

Als sie den Antrag auf Förderung des Stücks an den Fonds Darstellende Künste abschickte, standen schon russische Panzer vor der ukrainischen Grenze. Sie wurden begleitet von jungen Männern, denen man wie in den 80er-Jahren erklärt hatte, sie würden das Richtige tun. Zu den „Zinkjungen“ sagt sie: „Ich finde es gespenstisch. Das Buch liest sich, als wäre es von heute. Das Wort Krieg durfte damals auch nicht benutzt werden. Das Fernsehen war voll mit Propaganda.“

„Ich liebe die russische Sprache“

Elzbieta Bednarska kommt aus Polen, aus Breslau, lebt seit vielen Jahren in Deutschland, ist hier verheiratet. Ihre Mutter ist Russin, sie hat auch Familie in Belarus. „Ich liebe die russische Sprache, ich liebte Russland. Ich kenne die Kriegslieder seit dem Kindergarten. Sie rufen Gefühle hervor“, sagt sie. „Es ist schrecklich. Ich leide durch diesen Krieg und hätte nie gedacht, dass ich einmal dafür sein würde, Waffen irgendwohin zu schicken. Aber die Ukraine braucht unsere Unterstützung.“

In Polen hat sie eine Stiftung gegründet, um Theater für sozial benachteiligte Jugendliche zu ermöglichen. Sie sei oft in Polen und auch immer wieder außerhalb, es sei ja immer hilfreich, die Perspektive zu wechseln. Dass ihre Kunst Politik und Geschichte aufgreift, hängt mit ihrer Prägung zusammen, auf vielfältige Weise. In Polen gab es zwar auch Sozialismus, aber das Verhältnis zur Sowjetunion war schwierig. Andererseits habe ihr Vater nie akzeptiert, dass sie nach Deutschland gegangen sei. Er hat sie nie in Berlin besucht. „Ein Bruder von ihm war als junger Mann in Auschwitz, er hat das Konzentrationslager überlebt, aber nie darüber geredet. Alles, was ich davon weiß, haben mir die Großeltern erzählt.“

Der Sozialismus in Polen sei nie so perfekt gewesen wie in der Sowjetunion, sagt Bednarska. Spätestens seit der Solidarnosc-Bewegung verbreitete sich der Gedanke an den Widerstand. „Wir haben damals die verbotenen Autoren heimlich gelesen, Witold Gombrowicz zum Beispiel. Das Land war desolat, aber wir beschäftigten uns mit Poesie. Unsere Polnischlehrerin hat trotz der Schließung der Schule während des Kriegsrechts mit uns über Gedichte gesprochen.“

Elzbieta Bednarska findet, dass man jetzt Swetlana Alexijewitsch lesen sollte, um den Krieg zu verstehen. „Wie das rote Imperium es geschafft hat, eine toxische Idee so intensiv den Menschen zu infiltrieren, dass sie bereitwillig in einen Krieg ziehen“, das habe Alexijewitsch meisterhaft herausgearbeitet. Der imperialistische Gedanke wirke fort. Und die Perestroika? Auf die Zwischenfrage winkt sie ab. „Sie hat etwas geöffnet, aber die Transformation hat nicht stattgefunden.“

Ihre Inszenierung könnte man als Kaleidoskop sehen, als Mobile, sagt die Regisseurin. „Vom Ästhetischen her ist das Ganze permanent in Bewegung, die Perspektiven auf das Grauen des Krieges, auf das Töten ändern sich. Die Hauptfrage ist: Wie ist es möglich?“

Und der große Innenraum der Parochialkirche erfüllt dabei eben auch eine Rolle. Kalt ist es hier, niemand im Publikum wird Lust haben, seinen Wintermantel auszuziehen. „Ich wollte einen Raum, der in sich ein System ist“, erklärt Elzbieta Bednarska. „Der Krieg ist ein System. Die Kirche ist auch ein System, ein ziemlich problematisches für uns Polen. Ich dachte, wir müssen das ins Wanken bringen.“ Einige der Kirchenbänke haben Räder bekommen, sie werden kreisen. Und an der Wand bewegen sich Bilder aus Sand, die ein Künstler auf Overhead-Projektoren streut und wischt. Das Licht verändert sich, Spiel und Musik wechseln die Plätze. Die Zuschauerinnen und Zuschauer sollen sich selbst eine Meinung bilden. „Ich glaube daran, dass Kunst etwas bewirken kann. Sie erreicht den einzelnen Menschen“, sagt die Regisseurin zum Abschied. „Wir begeben uns in einen gedanklichen Raum in einer Auseinandersetzung mit einem Thema, da passiert etwas.“

Zinkjungen. 19. bis 22. Januar jeweils 19.30 Uhr, Parochialkirche, Klosterstraße 67. Karten zu 12 bis 18 Euro unter schwarze-tulpen@gmx.net oder Tel. 0152 3793 7546.