Als Kateryna Mishchenko aus Kiew in die Westukraine geflohen war, gab sie schon Interviews per Zoom oder am Telefon. Weil sie perfekt Deutsch spricht und bereits den Euromaidan in Essays analysiert hat, ist sie eine gefragte Gesprächspartnerin aus dem Land, das am 24. Februar von Russland überfallen wurde. Inzwischen ist sie in Berlin und arbeitet hier, sagt sie, „wie ein Roboter“.
Wie sieht Ihr Tag zurzeit aus?
Etwas anders als in der Ukraine. Dort habe ich mir die Elternschaft mit meinem Mann geteilt. Nun bin ich mit meinem Sohn in Berlin, muss einen Kitaplatz für ihn finden, damit er eine Struktur hat und ich wieder Raum für mich. Ich habe ein Fellowship am Wissenschaftskolleg bekommen. Jetzt kosten erst einmal organisatorische Sachen Zeit. Also abgesehen davon, was in der Ukraine passiert, habe ich hier einen Alltag.
Was ist mit Ihrem Mann? Ist der jetzt eingezogen?
Er hat keine militärische Ausbildung. Wenn der Krieg aber noch lange dauert, wird er wahrscheinlich auch Soldat. Er ist in der Westukraine, da wohnt seine Mutter. Er darf und will nicht ausreisen. Mein Mann ist auch ein Kulturschaffender, er schreibt für verschiedene Medien, hat sehr viele Zoom-Meetings und andere Onlineveranstaltungen.
In welchen Zeiträumen denken Sie, wenn Sie an die Ukraine denken?
Nicht weit voraus. Es war schon problematisch in den Wintermonaten, also vor dem 24.Februar, als wir immer diese Drohungen gelesen und in den Medien gehört haben. Da hatte ich das Gefühl, uns wird die Zukunft genommen, wir können nichts wirklich planen. Jetzt sind wir in der unsicheren Gegenwart gelandet, niemand weiß, wie es weitergeht.
Könnte ein Gedanke an die Zukunft nicht hilfreich sein?
Ich finde richtig, dass unsere Regierung erklärt, dass wieder aufgebaut wird, was vernichtet wurde in den befreiten Regionen und in Vororten von Kiew. Es ist gut, dass für das Land von einer Zukunft gesprochen wird. Aber für mich persönlich gibt es keine. Die Nachrichten und die Ereignisse sind so intensiv und so schwer zu verarbeiten, dass das wahrscheinlich ein Schutzmechanismus ist: erst mal nicht langfristig zu planen.
Verbieten Sie sich weiterzudenken, um auch an das Schlimmste nicht zu denken?
Ich verbiete mir das nicht, ich bin so! Ich merke schon, dass ich meine Gefühle nicht kontrollieren kann. Es gibt Phasen, wo ich selber nicht weiß, wie es in einer Stunde sein wird. Das ist, glaube ich, eine posttraumatische Belastungsstörung. Ich werde auch schnell panisch, wenn ich sehr viele E-Mails bekomme, wenn ich merke, ich habe an einem Tag zu viele Aufgaben. Denn ich muss ja auch noch für mein Kind da sein, für seine Probleme und Emotionen.
Gibt es Ihren Verlag jetzt überhaupt und wie geht es Ihren Autoren?
Ideell natürlich ja, praktisch pausiert er. Das Buch über die zwei atomaren Katastrophen von Tschernobyl und Fukushima, das wir im April herausgeben wollten, wird verschoben. Hoffentlich kommt nicht noch eine dazu! Medusa ist ein kleiner Verlag, wir haben unsere Bücher gut verkauft und waren gerade dabei, neue Projekte zu planen. Wir machen vor allem Übersetzungen, deswegen sind unsere Autoren irgendwo in der Welt, in Frankreich, Kanada oder den USA.
Wie ist jetzt Ihre Verbindung zu Kollegen?
Ich bin zum Beispiel sehr eng im Austausch mit einem Kollegen, der ein Blog hat. Er publiziert Interviews und Texte im Kontext des Krieges. Er unterstützt die Armee, kümmert sich um Crowdfundings. Für Kulturschaffende ist jetzt normal, das Land zu unterstützen – nicht mit Kulturprojekten, sondern indem wir unmittelbar helfen, Binnenflüchtlingen oder eben der Armee. Wir versuchen alle etwas zu tun, auch Schutzwesten oder Medikamente zu beschaffen. Und wenn wir unsere Kollegen im Ausland mobilisieren können, umso besser. Vielleicht klingt das seltsam für Sie, wenn Künstler sagen: Verlangt von euren Regierungen, dass sie Waffen in die Ukraine schicken. Doch die Kulturschaffenden sind Bürger ihres Landes.
Auf Twitter zeigt der Schriftsteller Serhiy Zhadan fast täglich, wie Hilfsgüter und Medikamente organisiert, alte Nachbarn begleitet, manchmal mit Soldaten Musik gemacht wird. Seine Stadt Charkiw ist unter Beschuss, doch er endet immer mit den Worten: Morgen sind wir dem Sieg einen Tag näher. Wie sehen Sie das?
Das versteht er offenbar als seine Mission. Ich glaube, er macht das, um nicht verzweifelt zu werden und andere, auch seine Leser, vorm Verzweifeln zu schützen. Das ist Teil des Jobs für die Ukrainer, um Kräfte zu finden, vor allem emotional, und in dieser Situation aktiv zu bleiben.
Sie waren neulich auf einem Podium im Haus der Kulturen der Welt, ich habe Sie danach in einer Talkshow gesehen. Sehen Sie sich in Deutschland auch in der Rolle der Diplomatin?
Öffentlich zu sprechen, ist mir nicht fremd. Früher waren das kulturelle Themen, ich wurde diskursanalytisch gefragt. Nach dem Maidan und noch ein, zwei Jahre danach begann es mit den politischen Themen für mich im deutschsprachigen Raum. Dann hat die Pandemie diese Gespräche unterbrochen. Jetzt ist es leider wieder sehr aktuell geworden, über die Ukraine zu sprechen. Wenn ich gefragt werde, dann sage ich eher ja als nein. Egal, wie müde ich bin. Denn das ist mein Beitrag, ich versuche, wie ein Roboter zu agieren.
Nun beobachten Sie gleichzeitig die deutsche Politik, welchen Eindruck haben Sie?
Ich beobachte geradezu eine Besessenheit in der Beziehung mit Russland. Und gerade jetzt, wo Russland wie ein schreckliches Spiegelbild von dem Deutschland des 20. Jahrhunderts wirkt, finde ich es problematisch. Da müssen Sie sich mit den eigenen Traumata beschäftigen und eine starke Position gegen den Krieg Russlands beziehen. Jetzt hat die Politik große Angst vor dem Embargo, aber wenn es passiert, wird es nicht so schlimm sein. So war das mit Waffenlieferungen doch auch. Erst wollte man das auf keinen Fall, nun ist es möglich. Deutschland handelt zu langsam, und die Gründe dafür werden nicht laut ausgesprochen. Für mein Land hat das ganz schreckliche Konsequenzen, aber ich versuche konstruktiv zu bleiben.
Und abseits der Regierung, was sehen Sie?
Offenbar muss die Inspiration von der Gesellschaft in Richtung Politik gehen. Da sehe ich auch keine Ermüdung. Die große Hilfsbereitschaft ist noch da. Außerdem: Die Situation ist für alle so anders als alles, was wir bisher erlebt haben. Die alte Ukraine ist wahrscheinlich für immer verschwunden.
Jetzt sprechen Sie doch von der Zukunft.
Nein, von der Gegenwart. Die Welt ändert sich im Moment, Europa verändert sich. Aber wer spricht noch von Fortschritt? Unsere Vorstellungen davon, was im 21. Jahrhundert möglich ist und was nicht, dass die Demokratie mit dem proklamierten Ende der Geschichte gesichert sei, haben sich als falsch erwiesen.
Wie stehen Sie als Intellektuelle, gewohnt zu analysieren und zu kritisieren, jetzt zu Ihrer Regierung?
Ich muss Ihnen sagen, ich gehöre zu denen, die Wolodymyr Selenskyj nicht plötzlich entdeckt haben. Seine Denkweise, sein Stil und seine Sozialisierung fand ich von Anfang an authentisch. Mich überraschte aber, dass er nun zu so einem Weltstar geworden ist. In Interviews vor der Wahl sagte er oft: Ich will so ein Präsident sein, der in den Geschichtsbüchern erwähnt wird. Und wenn er nicht mehr im Amt sei, wünschte er, auf den Straßen noch freundlich gegrüßt zu werden. Ich weiß nicht, ob andere Politiker so denken. Hat Olaf Scholz das Gefühl, heute wird die Geschichte von Europa auch von seinem Auftreten bestimmt? Die Deutschen trauen sich zu wenig. Wenn ich zum wiederholten Mal enttäuscht bin, tröste ich mich manchmal mit satirischen Shows im deutschen Fernsehen.
Was sehen Sie, die „heute-show“ im ZDF?
