Berlin Fashion Week

Der Berliner Stil: Gibt es ihn? Und wenn ja – wie sieht er aus?

Berlin kann Berghain, das hat auch die Fashion Week gezeigt. Doch die eben stattgefundene Modewoche hatte mehr zu bieten. Eine Bestandsaufnahme.

Das Label Richert Beil präsentierte eine der besten Kollektionen der ganzen Woche.
Das Label Richert Beil präsentierte eine der besten Kollektionen der ganzen Woche.Berlin Fashion Week

Jale Richert lenkt ein. „Ich finde überhaupt nicht, dass hier alles gleich aussieht“, sagt die Designerin auf einer Podiumsdiskussion am Mittwoch. „Es gibt doch zum Beispiel William Fan und uns, die beide gut funktionieren.“ „Modestadt Berlin – Wahn und Wirklichkeit“, so das Thema der Diskussionsrunde auf der Premium-Messe; ob die Labels der Fashion Week in ihrer Designsprache zu gleichförmig seien, wurde hier zur zentralen Frage. Und tatsächlich bemüht Jale Richert zwei potente Beispiele dafür, dass dem nicht so ist.

Denn William Fan – das ist ein Berliner Designer, der mit farbstarken Entwürfen, vielschichtigen Silhouetten, witzreichen Details erfolgreich ist. Mit „uns“ meint Jale Richert unterdessen sich selbst und ihren Partner Michele Beil, mit dem sie seit 2014 das Label Richert Beil führt. Und während sich Fan dem virtuosen Spiel mit Volumina und Dekoration hingibt, überzeugen Richert Beil mit Ernst und Kühle.

Ihre neueste Kollektion mit dem Titel „Vater Unser“, eine der besten der Woche, die sie am Dienstag in einer ehemaligen Aldi-Filiale in Charlottenburg präsentierten, zeigte sich geprägt von den Methoden der Avantgarde. Dem intellektuellen Genre der Dekonstruktion zum Beispiel oder der vestimentären Umwidmung: Hemdfragmente wie Krägen oder Knopfleisten setzen Richert Beil an die vermeintlich falschen Stellen ihrer Oberteile an; Schnittdetails aus dem Wäschebereich kommen bei der Konstruktion von Jeanshosen zum Einsatz.

Die neue Kollektion des aufstrebenden Berliner Labels SF1OG.
Die neue Kollektion des aufstrebenden Berliner Labels SF1OG.Berlin Fashion Week

Was entsteht, sind kopflastige Entwürfe, anspruchsvoll, weniger gefällig. Ein Stil, der mit Berlin in Verbindung gebracht – und der auch von der Jury der Berlin Fashion Week forciert wird: Organisiert durch den Fashion Council Germany wählt eine Gruppe aus Fachleuten jede Saison rund 20 Labels aus, die sodann unterstützt durch Gelder der Senatsverwaltung für Wirtschaft, Energie und Betriebe Modenschauen ausrichten dürfen.

International glaubt man zu wissen, wofür Berlin modisch steht

Und tatsächlich spiegelten auf der nun vergangenen Modewoche zahlreiche Labels einen ähnlichen Look wie Richert Beil, der selbst international als „Berliner Stil“ zitiert wird. Auch Rosa Marga Dahl pflegt ihn: Inmitten der futuristischen Architektur des Ludwig Ehrhardt Hauses zeigte sie am Mittwoch eine launenhafte, melancholische Kollektion; sorgsam gearbeitete Lederjacken mit überschnittenen Krägen und westernartigen Details, zarte Oberteile, gute Hosen. Mit ihrem Label SF1OG ist die Designerin zurecht in Windeseile zum Liebling der Berliner Szene avanciert.

Links: Haderlump Atelier Berlin; rechts: Avenir.
Links: Haderlump Atelier Berlin; rechts: Avenir.Berlin Fashion Week

Eine ähnlich rasante Entwicklung hat in den vergangenen Monaten Haderlump Atelier Berlin hingelegt: Hatte das Label um Designer Johann Erhardt im Januar noch eine Linie gezeigt, die leicht verbastelt wirkte, zeigte es dieses Mal exzellente Schneiderkunst, etwa Hosen – das ist eine Kunst – die perfekt sitzen. Ein Fokus auf das Handwerk, den Ehrhardt und Team auch performativ darboten: Sie selbst saßen am Donnerstag in den Wilhelm Hallen inmitten umherlaufender Models, nähend, arbeitend in einem nachgebauten Modeatelier.

Eine Fortentwicklung, die das nachhaltige Berliner Label Avenir noch vor sich hat: Gründerin Sophie Louise Claussen zeigte am Mittwoch in der St. Elisabeth Kirche durchaus schöne Ideen – von Denim-Patchworks bis zu interessanten Drapierungen – sollte für die nächste Saison aber mehr Zeit in Aus- und Verarbeitung investieren.

Namilia
NamiliaBerlin Fashion Week

Ganz anders das Label Namilia: Dass ein Großteil seiner Entwürfe von Hand gefertigt wird, ist hier kaum zu glauben. Dieses mal gab es Kleider zu sehen, dir offenbar aus Handtaschen zusammengesetzt wurden. Das Thema der Show: die „In Loving Memory of my Sugar Daddy“, eine Beerdigungszeremonie für den väterlichen Gönner, zu der die modelnden Besucherinnen glitzernde Jesus-Schriftzüge, Tangas mit Kreuz-Emblem und Trauerschleier zu Dessous trugen. Ein willkommenes Zitat auf das unheilige Berlin – gerade jetzt, da die Stadt christlich-demokratisch regiert wird.

Identitätsfragen spielten auch auf der Modewoche eine übergeordnete Rolle

Wichtiger als die offene Provokation ist jedoch die Symbolik, die dahinter liegt: Auf hyperfeminine Ensembles gedruckte Begriffe wie „Tussi“, „Sex Symbol“ und „Schwein“ lassen die Absicht einer Umkehr erkennen – den unbedingten Willen, abwertende und sexistische Worte zur selbstbewussten Selbstdefinition zu erklären.

Links: Lucas Meyer Leclère; rechts: Milk of Lime.
Links: Lucas Meyer Leclère; rechts: Milk of Lime.Berlin Fashion Week

Auch Lucas Meyer-Leclère geht es oft um Identitätsfragen, die Geschlecht und Geschlechtlichkeit betreffen. Und auch er setzte dieses Mal verstärkt aufs Handwerk. Bisher arbeitete der in Berlin lebende Franzose vor allem bestehende Entwürfe um, zerriss etwa Couture-Kleider und setzte sie neu zusammen oder überpinselte historische Stoffe mit Farben. Nun aber baute Meyer-Leclére eigene Kleidungsstücke wie Jacketts mit überlappendem Revers und ungewöhnlichen Knöpfungen. Ebenso vielfach bei ihm zu sehen: Röcke für Männer.

Ohnehin wurde das weiblich gelesene Kleidungsstück in dieser Saison besonders häufig dem Männerkörper übergezogen. Das Label Milk Of Lime aus Rheinland-Pfalz zum Beispiel, das sich am Dienstag erstmals auf der Berlin Fashion Week präsentierte, thematisierte vielfach den Herrenrock. Doch so schön das Zeiss-Planetarium als Show-Location auch war – im dämmrigen Licht unter der großen Kuppel ließen sich die nackten Männerbeine nur erahnen.

Olivia Ballard
Olivia BallardBerlin Fashion Week

Apropos nackt: Auch bei der Berlinerin Sia Arnika gab es viel bloßes Fleisch zu sehen. Sie zeigte am Dienstagabend in den Havelandstudios Bustier-artige Tops und knappe Unterteile, teils gefertigt aus Strumpfhosen-Nylons. Arnika gilt derzeit vielen als eine Hoffnungsträgerin der Mode aus Deutschland, als eine, die den Berliner Stil innovativ und frisch erzählt.

Berlin muss vom Pferd steigen, bevor es vollends totgeritten ist

Ähnliches ließe sich über Olivia Ballard sagen, die am Donnerstagabend auf eine Wiese zwischen Rummelsburg und Karlshorst geladen hatte: Sie präsentierte asymmetrisch geschnittene, feenhafte Outfits zarter Stoffe, zarter Farben, die begleitet von schrammeligen Schlagzeug- und Gitarrensounds dennoch einen Sinn fürs Düstere offenbarte. Ähnlich wie beim Newcomerlabel Balletshofer, das am Donnerstag in einer Friedrichshainer Off-Location Bomberjacken und Basics mit spannenden Details wie wulstartigen Nähten präsentierte.

Links: Sia Arnika; rechts: Balletshofer.
Links: Sia Arnika; rechts: Balletshofer.Berlin Fashion Week

Es ist gut und richtig, dass nun auch auf der Berlin Fashion Week sichtbar wird, wofür die Stadt im internationalen Vergleich ohnehin steht: eine progressive Attitüde, oft brachial und düster, ein Look, der sich vor allem aus den Codes des Undergrounds ergibt – technoide Einflüsse, Anleihen aus dem Fetischbereich, Berghain statt Blümchenkleid. Ironischerweise ist die Fashion Week, obgleich dieser Stil in der Clubkultur der Stadt wurzelt, relativ spät dran damit.

Denn während internationale Labels wie Balenciaga und Vetements, Rick Owens und Marine Serre, Gosha Rubchinskiy oder Yeezy diese Mode in den vergangenen Jahren vielfach zitierten, war sie auf der hiesigen Modewoche nicht immer zu sehen – dass die Szene der Stadt die globale Industrie seit Jahren massiv prägt, wird auf der Berlin Fashion Week erst jetzt deutlich.

Rianna+Nina
Rianna+NinaBerlin Fashion Week

Allerdings: Es wird nun ebenso wichtig werden, zu zeigen, das Berlin mehr kann als Berghain. Dass die Stadt der Clubkultur in Teilen auch entwachsen ist. Denn besagte Luxusmarken haben die Club-Codes in den vergangenen Jahren zum Mainstream gemacht, sie abgefeiert. Dementsprechend sind die Hypes um Balenciaga, Vetements und Rick Owens lang schon abgeflaut – die Berlin Fashion Week muss vom Pferd steigen, bevor es vollends totgeritten ist.

Ukrainische Designerinnen und Designer prägen das Gesicht der Stadt

Aber es gibt sie ja tatsächlich, die Stilpluralität der Modewoche, von der Jale Richert am Mittwoch gesprochen hatte. Das Label Rianna + Nina zum Beispiel – denkbar weit weg von der Clubkultur – unterstrich am Dienstag, warum es bei einem überaus verwöhnten, internationalen Klientel gefragt ist: Es waren ausnahmslos Unikare, die Models die Treppen der Alten Nationalgalerie herauf und herunter trugen. Üppige Mäntel etwa, zusammengesetzt aus teils historischen Vintage-Stoffen und durch asiatische Schnittkünste inspiriert; eine transkulturelle Reise, die Grenzen zwischen Tradition und Trödel würdevoll umspielt.

Links: Odeeh; rechts: Bobkova.
Links: Odeeh; rechts: Bobkova.Berlin Fashion Week

Weniger ausgedehnt gestaltete sich die Reise, auf die der Newcomer Mario Keine lud: Er ließ sich von Bergen und Meer inspirieren, seine Kollektion ließ an die Nordsee und die Alpen denken; bei der Präsentation am Mittwoch in der Neuköllner Galerie Hermetika gab es entsprechende Details wie Ösen und Kordeln zu sehen, Fischerhüte, lange Mäntel und die ohnehin omnipräsenten „Dark Denims“, also robuste dunkle Jeansstoffe. Keines Label trägt den programmatischen Namen „Marke“, er führt es von Köln aus – ein Gast also.

Auch Jörg Ehrlich und Otto Drögsler sind zwar gar keine Berliner, düften aber längst als so etwas wie Ehrenbürger der Fashion Week gelten – seit Jahren ist ihr Label Odeeh aus Unterfranken eine feste Größe der Modewoche. Ein großes Glück: Ehrlich und Drögsler erweitern die Palette um zahlreiche Farben, zahllose Töne, sind bekannt für üppige Muster und Drucke. In der James-Simon-Galerie präsentierten sie am Mittwoch Blumen zu Streifen zu Punkten; blau-weiße Ensembles erinnerten an Delfter Porzellan; collagenartige, grün eingefärbte Foto-Prints an Momente der Popart.

Marke
MarkeBerlin Fashion Week

Platz gemacht wurde auf der Fashion Week schon in den vergangenen Saisons auch für ukrainische Marken, die nun das Gesicht der Modewoche mitgestalten. Spannend etwa die Designerin Irina Dzhus, die ein Label unter eigenem Nachnamen führt. In der Feuerle Collection legte sie am Mittwoch selbst Hand an  und verwandelte ihre Outfits live auf der Bühne mit vielen schnellen Handgriffen zu völlig neuen Silhouetten. Ob das auch einer Kundin zuhause so gelingen kann, bleibt fraglich.

Mercedes-Benz mischte auf der Fashion Week wieder ganz vorne mit

Das ukrainische Label Litkovska veranstaltete ebenso zum widerholten Male eine Show in Berlin, dieses Mal am Dienstag im Kraftwerk, mit einem Fokus auf Dekonstruktion, ungewöhnliche Linienführung, Layerings. Die Ukrainerin Kristina Bobkova wiederum ließ am Montag als erste Show der Woche im Garten des Kronprinzenpalais überzeichnete Schulterpartien vorführen; das ukrainische Label Podyh zeigte am Dienstag ebenda eine recht brave Kollektion an schlichten Tageskleidern, allerdings teils gefärbt in krasses Cobaltblau.

Rechts: Litkovska; rechts: DZHUS.
Rechts: Litkovska; rechts: DZHUS.Berlin Fashion Week

Und schließlich angekommen am anderen Ende der Fahnenstange, bei William Fan nämlich, wehte in dieser Saison ohnehin die Regenbogenflagge: Der Designer hatte am Dienstag im Gropius Bau unter dem Titel „Ceremony“ eine Pride-Kollektion präsentiert. Eine allerdings, die ohne kreischige Klischees auskommt.

Dem Regenbogen entnahm Fan einzelne Farben, aus denen er Komplettlooks kreierte; rote, grüne, gelbe, blaue. Nicht nur inhaltlich, auch formal widmete er sich der Vielfalt: Blieben die Blicke der Gäste eben noch an Mänteln laissez-fairer Weite kleben, wurden sie gleich darauf von recht schmalen Kleidern aus Pannesamt und Seide eingefangen; auf geräumige Jacketts mit Koller folgten körpernahe Blusen mit Raffungen. Besonders schön: Die Handtaschen, die Fan ebenso in Regenbogentöne tünchte; größere Modelle aus Kunststoff-, kleinere aus Glasperlen handgemacht.

William Fan
William FanBerlin Fashion Week

In dieser Saison kooperierte Fan zur Realisation seiner Show übrigens erstmals mit Mercedes-Benz, dem Autokonzern, der bis Ende 2022 als Hauptsponsor für die gesamte Berlin Fashion Week in Erscheinung trat.

Seit der vergangenen Saison inszeniert Mercedes unter der Überschrift „Fashion Moments“ nur noch eine exklusive Veranstaltung mit einer einzelnen Marke. Dass die Wahl nach einer Kooperation mit der gesetzten Premium-Firma Marc Cain zur Fashion Week im Januar diese Mal auf ein jüngeres, agileres Label gefallen ist, war eine kluge Entscheidung.

Seit seinem Rückzug als Hauptsponsor mag die Modewoche zwar nicht mehr „Mercedes-Benz Fashion Week Berlin“ heißen – und trotzdem konnte der Autokonzern im Schulterschluss mit William Fan in dieser Woche ganz vorn mitmischen.