Der kommende Sommer soll rekordverdächtig heiß werden – und das ist mal ausnahmsweise keine katastrophale Klima-Prognose. Was aber die Designerinnen und Designer in den vergangenen Tagen auf der Berliner Modewoche präsentierten, kann dem Betrachter nur den Schweiß auf die Stirn und den Puls in die Höhe treiben: So viel Nacktheit war noch nie!
Das passt natürlich hervorragend in unsere Stadt, diesen feucht-frivolen Unort, in dem sich Sodom und Gomorra locker als Innenstadtbezirke eingemeinden ließen. Die Rückkehr des unbekleideten Körpers allerdings, die nackte Haut, nackte Kurven, nackte Kanten – das sind Motive, die sich auch im internationalen Kontext wieder verstärkt durch die Modekollektionen ziehen.
Das könnte die radikale Ablösung der körpernegierenden Oversize-Sportswear symbolisieren; eine Abkehr vom infantilen T-Shirt-Look, der die vergangenen Jahre dominierte. Oder die flirtaffine Fleischbeschau gibt einen hoffnungsvollen Ausblick auf Post-Corona-Zeiten, in denen sich die nächste Nähe wieder unbedenklich und unverbindlich zelebrieren lässt. So oder so ist die Lust wieder ein Modemotto – die Lust, sich zu zeigen, auch zu sehen, was die Anderen zu zeigen haben.
1. UNDRESSING
Besonders forsch tanzt William Fan in diese Richtung: Seine Show „Eternity“, am Mittwochabend im stillgelegten Tunnel am Potsdamer Platz präsentiert, zeigt sich nicht nur geprägt von Cutouts, tiefen Ausschnitten und drapierten Bauchfrei-Tops. Überhaupt handelt seine Kollektion von kurzen Begegnungen in langen Nächten. Besonders eindrucksvoll wirkte diese Inspiration auf ein spezielles Modeteil: ein Hybrid aus Minirock und kurzer Hose, mit handgelegten Plissees dekoriert. Das asymmetrisch angesetzte Rockteil solle wirken, wie beim ekstatischen Tanz von der Hüfte gerutscht, so heißt es.

Auch Farben können erotisierend wirken, das weiß William Fan. In seiner Kollektion erinnern leuchtendes Orange und Pink, krachende Gelb- und Grüntöne an prall-reife Früchte – das kontrastierende Schwarz entspricht der Dunkelheit verschwiegener Clubecken. Dort, im Club, dem Epizentrum der aufregenden Begegnungen, ist Fans Kollektion ganz klar verortet: Schimmernde Materialien und glitzernde Schmucksteine, bunte Pailletten und bunte Perlen als vielversprechender Flirtversuch.
Viel nackte Haut gab es am frühen Mittwochabend auch bei SF1OG zu sehen, wenngleich der Körper hier eher zerbrechlich wirkt – Nacktheit als Zeichen der Verletzlichkeit, nicht als Instrument der Macht. Interessant etwa ein Jersey-Oberteil, das auf ein Drittel des klassischen Tanktops minimiert wurde: Wie ein Feinripp-Collier legt sich der Entwurf über die muskulöse Männerbrust.

Andere Designs des Labels, das seine Show von einer Cellistin begleitet in der düsteren Feuerle Collection ausrichten ließ, erreichen den erotischen Moment eher durch die Textilbeschaffenheit als den Schnitt: Netzmaterialien und Transparenz lassen Körperpartien durchblitzen, Schultern und Bäuche und Brüste – der Hautton wird zur natürlichen Erweiterung einer strengen Farbpalette aus Weiß und Schwarz.
Echte Höhepunkte inszenierte am selben Abend noch der Designer Lucas Meyer-Leclère mit seiner Show im Telegraphenamt: Aus den Boxen dröhnt die Adaption eines Don-Giovanni-Stücks von Mozart, unterlegt von ekstatischem Gestöhne – ein Orgasmus in drei Akten. Meyer-Leclères Männermodels tragen zerzauste Rokoko-Zöpfchen, die Gesichter ließ er ihnen fettig-glänzend anpinseln, wie schweißgebadet sehen seine Don Giovannis aus. Und die Kleider wurden ihnen scheinbar eben erst vom Leib gerissen.

Zerfetzte Rüschenhemden und Jacketts, offen über dem nackten Bauch getragen; Fäden und Fasern, die lockere Silhouetten herabfallen, eine zerschlissene Anzughose legt den halben Po des Trägers frei – es ist Meyer-Leclères ganz eigene, manische Attitüde, mit der er sich seinem Label LML Studio widmet. Er zerschneidet und zerreißt, dekonstruiert, setzt neu zusammen, bepinselt und bespritzt. Mit alten Stoffen und alten Modellen arbeitet er so, mit historischen Ensembles aus den 1930ern etwa, dieses Mal zudem mit den Entwürfen einer anderen Berliner Modemacherin.
2. COWORKING
Der Designer rückte den akkurat geschneiderten Entwürfen Isabel Vollraths zu Leibe, auch sie eine kreative Manikerin, die in ihrem Atelier auf der Linienstraße kostümhistorisch anmutende Kleider in stundenlanger Handarbeit zusammenschneidert. Eine handwerkliche Vollkommenheit, die Meyer-Leclère jäh zerstört – Vollraths feine Mode zerreißt er nonchalant in ihre Einzelteile. Dass sich die Modemacherin auf diese ungewöhnliche Kooperation einließ, ist ein Glücksfall: Ihre Perfektion und seine Zerstörungswut sind ein gutes Paar.
Ohnehin ist das fruchtbare Zusammenkommen in den vergangenen Jahren ein übergeordnetes Branchenthema geworden: Marken machen’s mit anderen Marken, Balenciaga mit Gucci, Vuitton mit Supreme; Künstlerinnen und Musiker entwerfen für Modelabels, Miuccia Prada holt sich Raf Simons mit ins Boot. Und auch in Berlin wurde das Prinzip des Ressourcen- und Ideenaustauschs vergangene Woche nicht nur bei Meyer-Leclère und Vollrath sichtbar.

Tutia Schaad und Michael Sontag finden sich gleich ganz zu einem neuen, gemeinsamen Label zusammen: Sie war viele Jahre die eine Hälfte des Mode-Duos Perret Schaad, er macht unter eigenem Namen Mode in Berlin. Nun haben sich die beiden zur Marke The Twins zusammengetan und erste Entwürfe auf dem Berliner Salon präsentiert.
Das Gruppeninstallationsformat im Kulturforum wird von Christiane Arp kuratiert, der Vorstandsvorsitzenden des Fashion Council Germany, und es will das Beste, was die deutsche Mode zu bieten hat, sichtbar und begreiflich machen. Im Hinblick auf The Twins bedeutete das: Zwei Ensembles an der Schneiderpuppe, eines in Schwarz und eines in Kanariengelb, aus einzelnen Stoffbahnen zusammengesetzt, die Schnittkanten kunstvoll ausgefranst.

Eine ganz andere Form der sinnvollen Zusammenarbeit zeigte das Berliner Label Brachmann, das sich ganz bewusst eben nicht ein Gegenüber aus der Mode suchte. Stattdessen realisierte die Designerin Jennifer Brachmann ihre Modenschau am Dienstag in Kooperation mit dem BDA, dem Bund Deutscher Architektinnen und Architekten. Das passt hervorragend, widmete Brachmann ihre Studien doch nicht nur der Kleider-, sondern überdies der Baukunst.
Das war zu sehen auf ihrer Präsentation im Charlottenburger Schüco-Showroom: Schnitttechnische Details wie überformte Brusttaschen oder abgesetzte Schulterpartien lassen durchaus Assoziationen zur Architektur zu. Mit ihren Schnittteilen, so scheint es, geht Brachmann um wie mit Bauelementen. Was entsteht, ist eine sachliche, kühle Mode, dieses Mal nicht ganz so akkurat geschnitten, wie von der Designerin gewohnt.
3. UPCYCLING
Und dann war da noch ein drittes großes Modethema, das die Fashion Week dominierte. In einer Welt, die am Abgrund steht, so die These, darf Neues nur aus Altem entstehen – die Methode des Upcyclings gilt als Heilsbringerin der Mode. Die Wiederaufarbeitung bereits existierender Stoffe und Stücke ist die einzig wirklich nachhaltige Art des Modemachens – und in Berlin wurden viele entsprechende Konzepte gezeigt.

Da wäre zum Beispiel die Newcomerin Laura Gerte, die sich des sogenannten Deadstocks anderer Modefirmen annimmt: Stoffresten und überschüssig produzierter Ware, die sie zu neuen Ensembles zusammenbringt. Einzelteile bedruckter Sport-Pullover und Denim-Stoffstücke zum Beispiel werden unter ihren Händen zu Oberteilen und Röcken, deren Säume kurvenreich verlaufen. Aufgenähte Applikationen und wulstartige, herabhängende Elemente wirken fast organisch. Ihre Kollektion präsentierte Gerte am Dienstag auf der Mercedes-Benz Fashion Week, dem traditionellen Teil der Modewoche, der vom Automobilhersteller hauptgesponsert wird.




