Ich war noch ein dreizehnjähriges Kind, als das Assad-Regime vor elf Jahren zum ersten Mal mein Dorf in Südsyrien bombardierte. Auch an diesem Tag gingen wir, wie an vielen anderen, auf die Straße, um Demokratie und Menschenrechte für alle Syrerinnen und Syrer einzufordern.
Ich wurde schon früh vor Entscheidungen gestellt, die ich niemandem wünschen würde. Damals in meinem Familienhaus gab es zwei Stühle und damit zwei Möglichkeiten, mich in meinem Zimmer vor den Bombenangriffen auf mein Dorf zu schützen: Ich konnte meinen Oberkörper unter die zwei Stühle legen und so wahrscheinlich einen Einsturz des Gebäudes überleben. Tot wäre ich dann nicht, aber ohne meine Beine. Lege ich meine Beine unter die zwei Stühle und das Haus stürzt ein, überlebe ich die Explosionen wahrscheinlich nicht.
Meine Wahl fiel auf die zweite Möglichkeit. Mir war es lieber, zu sterben, als ohne meine Beine zu leben. Mein Haus brach damals Gott sei Dank nicht zusammen, aber dafür mein Herz tausendmal.
Ich bin entsetzt und zutiefst besorgt über die Art und Weise, wie das @zdfheute im @heutejournal ein Video meines Protests gegen die geplante Reform des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems (#GEAS) verwendet hat. Das Video wurde jedoch in einem anderen Kontext gezeigt, nämlich… pic.twitter.com/aWWQrwEd9Y
— Mouatasem Alrifai | معتصم الرفاعي (@Mo_Alrifai) June 10, 2023
Ich habe die Diktatur am eigenen Leib erlebt
Jetzt bin ich in Sicherheit und von der unmittelbaren Wahl zwischen Leben und Sterben befreit, aber Millionen von Menschen in Syrien und anderen Kriegsgebieten der Welt stehen täglich vor dieser Wahl. Sie sind gezwungen, vor den Kriegen unmittelbar vor ihrer Haustür zu fliehen.
Meine Flucht begann im Jahr 2012. Mein kleiner Bruder und ich, ich war damals 14 Jahre alt, flohen aus Syrien nach Jordanien. Ich dachte, ich würde dort eine bessere Zukunft, ein sicheres Leben finden. Aber so war es nicht. Denn dort wartete ein anderer Feind auf mich – der Klimawandel. Kein fließendes Wasser und unerträgliche Hitze, an manchen Tagen mit Temperaturen bis zu 50 Grad. Es gab Tage, da musste ich mit 15 Jahren unter diesen Bedingungen täglich 16 Stunden arbeiten.
Ich habe all das am eigenen Leib erlebt, die Diktatur, die Revolution, den Krieg, die Flucht und die schwerwiegenden Auswirkungen des Klimawandels. Sie haben meine Persönlichkeit stark geprägt und mein Interesse an der Arbeit für Menschenrechte geweckt. Ich habe mich dazu verpflichtet, mich immer und überall für Toleranz, Demokratie und Menschenrechte einzusetzen. Denn Toleranz ist keine Gleichgültigkeit, sondern eine aktive Einstellung, die auf der Anerkennung der Menschenrechte basiert, die die Grundlage für eine lebendige, nachhaltige und solidarische Demokratie bilden.
Mein Vater ist vor dem Krieg in Syrien geflohen
Diese Werte sind keine abstrakten Konzepte, sondern eine Notwendigkeit für eine offene, moderne und gerechte Gesellschaft, in der wir gemeinsam und mutig unsere Zukunft gestalten können. Unabhängig von Alter, Behinderung, Bildung, Herkunft, Hautfarbe, Konfession, sexueller Orientierung, Geschlechts- oder Lebensentwurf: Toleranz, Menschenrechte und Demokratie sind keine Selbstverständlichkeit und kein Geschenk. Demokratisches Handeln, ein vorurteilsfreies Miteinander und die Einhaltung der Menschenrechte müssen vermittelt, erlernt und verinnerlicht werden. Demokratie und Menschenrechte müssen geschätzt und geschützt werden.
Deshalb entschied sich mein Vater 2015, vor dem Krieg und dem Klimawandel nach Europa zu fliehen und riskierte dabei sein eigenes Leben, damit meine Geschwister und ich ein sicheres Leben haben würden. Jeder Vater und jede Mutter würde dasselbe tun. Ein Jahr später durfte ich durch die Familienzusammenführung nach Deutschland kommen.
Ich bin gegen die Verschärfung im Asylverfahren
Seitdem lebe ich in Nürnberg und engagiere mich in verschiedenen NGOs im Bereich Menschenrechte und Politik: als Mitglied im Nürnberger Rat für Integration und Zuwanderung, bei Amnesty International, im Brand New Bundestag und als Wertebotschafter bei der Bildungsinitiative GermanDream.
Unter dem Motto „Jetzt ist die Zeit” fand der 38. Deutsche Evangelische Kirchentag letzte Woche in Nürnberg statt, der am Sonntag zu Ende ging. Dort hatten die Besucherinnen und Besucher am Samstag die Möglichkeit, Bundeskanzler Olaf Scholz beim Gespräch mit der Leiterin des Politikressorts der Zeit in der Frankenhalle in der NürnbergMesse zu erleben.
Für mich war es unerträglich, dass unser Bundeskanzler einerseits von Frieden, Solidarität und der Zukunft der Menschheit spricht, aber andererseits mit seiner Regierung rassistischen und menschenverachtenden Verschärfungen in Asylverfahren zustimmte, die faktisch das Asylrecht, ein grundlegendes Menschenrecht, abschaffen.
Ich sah im ZDF wie ein Putin-Sympathisant aus
Aus diesem Grund erhob ich mich und meine Stimme und protestierte gegen die geplante Reform des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems (GEAS). Am Abend erhielt ich viele Hassnachrichten, in denen mir vorgeworfen wurde, gegen die Unterstützung der Ukraine zu sein und den Kriegsverbrecher Putin zu unterstützen.
Sowohl durch Nachrichten als auch Anrufe von Freundinnen und Freunden erreichten mich besorgte Reaktionen. Eine Freundin glaubte sogar, dass Russland oder das Assad-Regime mich bedroht hätten, um mich von meiner festen Überzeugung abzubringen, die Ukraine zu unterstützen und gegen den Kriegsverbrecher und russischen Diktator Putin zu protestieren. Andere wiederum waren verwirrt und verstanden nicht, warum ich eine Handlung ausführte, die im Widerspruch zu meinen festen Überzeugungen stand.
Später sah ich ein Video im ZDF-Format „Heute Journal“, das von einem Twitter-Nutzer veröffentlicht wurde und mich als Putin-Sympathisanten darstellt. Dieses Video wurde von diesem Twitter-Nutzer verbreitet, um mich rassistisch zu beleidigen und gegen mich zu hetzen. Ich war schockiert, sprachlos, entsetzt und zutiefst besorgt über die Art und Weise, wie das ZDF im „Heute Journal“ ein Video meines Protests gegen die geplante Reform des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems (GEAS) verwendete: Das Video wurde in einem ganz anderen Kontext gezeigt: im direkten Zusammenhang mit Olaf Scholz‘ Verteidigung seiner Ukraine-Politik. Dadurch entstand der falsche Eindruck, dass ich gegen die Unterstützung der Ukraine protestiere und den Kriegsverbrecher Putin unterstütze, der meine Heimat Syrien in Schutt und Asche legte.
Das ZDF entschuldigte sich bei mir
Es schmerzt mich zutiefst, wie ich im Zweiten Deutschen Fernsehen (ZDF) als Putin-Sympathisant dargestellt wurde. Das Putin-Regime, zusammen mit dem Mullah- und Assad-Regime, töteten Familienmitglieder und Freundinnen und Freunde von mir und vertrieben über 13 Millionen Syrerinnen und Syrer aus ihren eigenen Häusern. Darüber hinaus werden rund um die Uhr etwa 150.000 Syrerinnen und Syrer in den Folterlagern des von Russland unterstützten Assad-Regimes, gefoltert.
Die ukrainischen Aktivistinnen und Aktivisten in Nürnberg kennen mich sehr gut, da ich bei fast jeder Demonstration dabei bin, die sich für Menschenrechte in der Ukraine einsetzt. Im Ukraine-Krieg muss man sich entweder für Demokratie entscheiden und auf der Seite der Ukraine oder für Faschismus und auf der Seite Russlands positionieren. Natürlich stehe ich für Demokratie und bin gegen Faschismus.
Nachdem ich mich öffentlich dazu geäußert hatte und hunderttausende Menschen auf Social Media auf den journalistischen Reinfall des ZDF aufmerksam geworden waren, entschuldigte sich das ZDF schließlich mit einer kurzen Antwort im Twitter-Thread bei mir. Allerdings reicht eine solche Entschuldigung nicht aus, um den Rufmord wiedergutzumachen, insbesondere nachdem das Video in verschiedenen Sendungen des ZDF Millionen von Zuschauerinnen und Zuschauern gezeigt wurde.
Ich möchte eine weitere Entschuldigung im ZDF
Dieser Vorfall erinnert mich an die Medien des Assad-Regimes, als sie behaupteten, dass Zehntausende Demonstrantinnen und Demonstranten in der syrischen Hauptstadt Damaskus auf die Straße gingen, um sich bei Allah/Gott für den Regen zu bedanken und nicht um Demokratie und Menschenrechte zu fordern.
Journalismus ist ein zweischneidiges Schwert. Er kann dazu dienen, den Menschen eine Stimme zu geben und ihnen eine Plattform zur Artikulation ihrer Gedanken und Anliegen zu bieten. Andererseits besteht auch das Potenzial, Journalismus zu missbrauchen und ihn als Mittel zur Manipulation oder Verbreitung von Falschinformationen einzusetzen. Es liegt in der Verantwortung von Journalistinnen und Journalisten, die ethischen Grundsätze des Berufs zu wahren und die Fakten zu recherchieren, um eine verlässliche und ausgewogene Berichterstattung zu gewährleisten. Die sorgfältige Ausübung von Journalismus ist entscheidend, um die Öffentlichkeit richtig zu informieren und die Grundpfeiler einer demokratischen Gesellschaft zu stärken.
Das ZDF muss umgehend auf allen ihren Plattformen und zu Beginn aller Sendungen, in denen das Video gezeigt wurde, eine öffentliche Entschuldigung für diesen journalistischen Reinfall aussprechen. Zudem habe ich das Recht auf eine Gegendarstellung, um den falschen Eindruck richtigzustellen und meinen Standpunkt klarzustellen. Dieses Recht sollte jedem zustehen, der medial falsch dargestellt und wiedergegeben wurde.
Als Betroffener von diesem Vorfall wünsche ich mir, dass er zu einer Sensibilisierung für die Auswirkungen von fehlerhafter Berichterstattung führt und dass wir als Gesellschaft gemeinsam für eine transparente und verantwortungsvolle Medienlandschaft eintreten können.
Zum Autor: Mouatasem Alrifai ist ein syrischer Menschenrechtsaktivist und Preisträger des YOUNGAGEMENT-NBG, einem Preis für junges Engagement. Zwischen 2019 und 2020 war er Botschafter der internationalen Plattform BEVOL in Deutschland. Alrifai war einer der Mitgründer*innen der syrischen sozialliberalen Partei „Liberal Party of Syria" und Mitglied im Nürnberger Rat für Integration und Zuwanderung. Bereits im Alter von 21 Jahren begann er, gemeinsam mit syrischen Intellektuellen und Politiker*innen die erste syrische sozialliberale Partei „Liberal Party of Syria" zu gründen. Alrifai war der Botschafter der internationalen Plattform BEVOL in Deutschland. Seit 2020 ist er Mitglied im Jugendausschuss des Bundesprogramms „Demokratie leben“ in Nürnberg. Zudem ist er Mitglied bei Amnesty International, Brand New Bundestag, Bündnis 90/Die Grünen und Wertebotschafter bei der Bildungsinitiative GermanDream. Im Jahr 2022 wurde er in den Nürnberger Rat für Integration und Zuwanderung gewählt und fungiert dort als stellvertretender Ausschusssprecher für Beruf, Arbeit und Soziales. Im Jahr 2018 wurde er als Youngagement-Preisträger ausgezeichnet und war 2019 Nominierter für den Deutschen Engagementpreis. Ebenso hat die Stadt Nürnberg ihn 2019 als deutscher Engagement-Botschafter für das Bundesnetzwerk Bürgerschaftliches Engagement (BBE) „Engagement machtstark!" vorgeschlagen.
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