Analyse

Selenskyj über zerstörten Kachowka-Staudamm: Größte Umweltkatastrophe seit Jahrzehnten

Der Kachowka-Staudamm in der Ukraine wurde zerstört. Wer sind die Täter? Was wissen wir bisher? 

Wer für den kaputten Staudamm verantwortlich ist, steht noch nicht fest.
Wer für den kaputten Staudamm verantwortlich ist, steht noch nicht fest.Uncredited/Maxar Technologies/AP/dpa

In den frühen Morgenstunden des 6. Juni 2023 wurde der Staudamm des 1955 errichteten Wasserkraftwerkes Kachowka – eines einstigen sowjetischen prestigeträchtigen Großprojektes einer der sogenannten „Großbaustellen des Kommunismus“ – im von Russland teilbesetzten Gebiet der ukrainischen Region Cherson zerstört.

Den Informationen der ukrainischen Behörden nach sei das russische Militär für die Zerstörung des Staudammes verantwortlich. Der Kreml behauptet, es handele sich um eine „vorsätzliche Sabotage durch Kiew“. Die genaue Ursache für den Bruch des Kachowka-Staudammes bleibt nach wie vor unklar. Nach Meinung einiger Experten könnte die im Zuge der Kriegshandlungen beschädigte Konstruktion angesichts des seit Wochen steigenden Wasserpegels auch ohne zusätzliche Fremdeinwirkung nachgegeben haben.

Dutzende Ortschaften sind geflutet

Doch auch wenn Russland den Zusammenbruch des Kachowka-Staudammes nicht unmittelbar durch Sprengungen verursacht haben sollte, wären diese und viele weitere Katastrophen ohne den brutalen russischen Überfall auf die Ukraine nicht passiert. Doch könnte sich der sprichwörtliche Nebel des Krieges zumindest an dieser Stelle bald lichten. Am Abend des 6. Juni berichtet NBC News unter Verweis auf amerikanische Beamte, dass die Biden-Regierung über Geheimdienstinformationen verfüge, die darauf hindeuten, dass Russland für den Angriff auf den Staudamm verantwortlich sei.

In der Zwischenzeit stieg der Wasserstand des Dnipro stark an. Nach Angaben des UN-Generalsekretärs Antonio Guterres sind Dutzende Ortschaften geflutet, mindestens 16.000 Menschen mussten ihre Häuser verlassen. Die Folgen für die Region sind verheerend und aktuell kaum abzuschätzen.

Viele konnten nicht flüchten

Der von Russland ernannte Verwalter der teilbesetzten ukrainischen Region Cherson, Vladimir Saldo, behauptete vor dem Hintergrund der überfluteten Straßen von Nowaja Kachowka allen Ernstes, dass die Menschen dort „ihren täglichen Geschäften wie gewohnt nachgehen“ würden. 

Die angesichts der erschreckenden Bilder absurde Behauptung des sogenannten „Gouverneurs des Gebiets Cherson“ führte zum bitteren Spott in den sozialen Medien. Nach Meldungen aus den betroffenen Gebieten habe die russische Besatzungsverwaltung die Menschen an der Flucht bewusst gehindert.

Klage gegen Russland wegen der Zerstörung des Wasserkraftwerkes

Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj bezeichnete die Überflutungen infolge des Zusammenbruches des Kachowka-Staudammes als die „größte menschengemachte Umweltkatastrophe in Europa seit Jahrzehnten“. Russland habe eine „Bombe der ökologischen Massenvernichtung gezündet“, so Selenskyj.

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Dr. Alexander Dubowy ist Politik- und Risikoanalyst sowie Forscher zu internationalen Beziehungen und Sicherheitspolitik mit Schwerpunkt auf Osteuropa, Russland und GUS-Raum. Er ist Mitarbeiter der Berliner Zeitung am Wochenende.

Den Ausführungen des ukrainischen Staatschefs zufolge wäre es aus physikalischer Sicht unrealistisch gewesen, den Staudamm durch Beschuss zu zerstören. Vielmehr habe die russische Seite den Staudamm vermint. Gleichzeitig kündigte Selenskyj an, beim Internationalen Strafgerichtshof in Den Haag eine Klage gegen Russland wegen der Zerstörung des Wasserkraftwerkes einzureichen.

Mähdrescher und keine Panzer

Vor dem Hintergrund der Überflutungen in der Region Cherson beschuldigte der russische Verteidigungsminister Sergej Schoigu die Ukraine, das Wasserkraftwerk gesprengt zu haben, um eine russische Offensive in diesem Gebiet zu verhindern. Pikanterweise war nach dem russischen Abzug aus der Provinzhauptstadt Cherson sowie anliegenden Gebieten von einer russischen Offensive im Gebiet Cherson zu keinem Zeitpunkt die Rede. Sehr wohl aber von der ukrainischen Gegenoffensive.

Das russische Verteidigungsministerium behauptete, dass die ukrainischen Streitkräfte bereits am 4. Juni 2023 eine „groß angelegte Offensive“ an fünf Abschnitten der Frontlinie im Südwesten der Region Donezk durchgeführt hätten. Die ukrainischen Angriffe seien zurückgeschlagen worden, so das russische Verteidigungsministerium. Gleichzeitig veröffentlichte Moskau auf dem offiziellen Telegram-Kanal des Verteidigungsministeriums Aufnahmen von angeblich zerstörten deutschen Kampfpanzern Leopard sowie weiterer westlicher Technik.

Doch wie der prorussische Telegram-Kanal „Wojennyj Oswedomitelj“ nachwies, waren die „zerstörten deutschen Kampfpanzer“ mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit für ausschließlich zivile Zwecke bestimmte Mähdrescher.

Nichts kann eindeutig gesagt werden

Die ukrainische Offensive dürfte indessen tatsächlich näherrücken. So erklärte die stellvertretende ukrainische Verteidigungsministerin Hanna Maljar am 5. Juni, dass die ukrainischen Streitkräfte in einigen nicht näher bezeichneten Frontabschnitten „zu offensiven Aktionen übergehen“. Maljar fügte jedoch hinzu, dass Russland aktiv Informationen über die ukrainische Gegenoffensive streuen würde, um die Aufmerksamkeit von den russischen Verlusten rund um Bachmut abzulenken.

Die Militäranalysten des renommierten amerikanischen Thinktanks „Institute for the Study of War (ISW)“ mahnen mit Blick auf die ukrainische Offensive zur Vorsicht. Zwar mache die Ukraine ungeachtet der russischen Behauptungen „wahrscheinlich begrenzte Fortschritte“, ob es sich bei diesen Erfolgen bereits um Elemente der ukrainischen Gegenoffensive handle, könne jedoch zum gegenwärtigen Zeitpunkt nicht mit Sicherheit beurteilt werden.

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