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Dieser Titel ist bewusst zweideutig: Was sind die Merkmale einer Diktatur, was macht eine Diktatur zur Diktatur? Und: woran erkennt man sie, wie handelt sie? Zu diesen Fragen veranlassen mich zwei Ereignisse, die mich seit Wochen bewegen: die Verhaftung des algerischen Schriftstellers Boualem Sansal durch den algerischen Geheimdienst am 16. November auf dem Flughafen von Algier, und, auf einer anderen Ebene, die Debatte in der Berliner Zeitung in der Reihe Open Source über den Charakter der DDR, über die Legitimität eines Vergleichs mit der Nazidiktatur.
Ich habe gezögert, meine Gedanken aufzuschreiben, denn ich bin in beiden Fällen befangen. Ich kenne gut Boualem Sansal, darf mich als ein Freund von ihm bezeichnen. Ich habe in den letzten Jahren drei seiner Romane für den Merlin-Verlag ins Deutsche übersetzt, habe ihn auf vielen Veranstaltungen begleitet, bei denen ich die Gespräche mit seinen Lesern dolmetschte, und ihn auch mehrfach in Paris getroffen, wobei wir ausgiebig über viele Themen sprachen. Ich schätze den mutigen, aufgeschlossenen, besonnenen Menschen und den großen Künstler. Boualem Sansal wurde in Frankreich mit dem Großen Preis der Académie française, in Deutschland mit dem Friedenspreis des deutschen Buchhandels ausgezeichnet. Nun droht ihm in seiner Heimat eine lange Haftstrafe, weil er sich kritisch gegenüber den algerischen Machthabern geäußert hat.

Von den inzwischen sechs Protagonisten der Debatte in Open Source sind mir zwei sogar schon seit den Achtzigerjahren des vergangenen Jahrhunderts bekannt, wir haben oder hatten eine freundschaftliche Beziehung. Ich kenne die schätzenswerten Seiten sowohl von Sonia Combe als auch von Wolfgang Herzberg, ohne in allem und immer mit ihnen einverstanden zu sein.
In ihrem Beitrag schreibt Sonia Combe, in der DDR habe die Demokratie tatsächlich gefehlt, beispielsweise die freie und unabhängige Presse, die in der DDR nach dem Fall der Mauer schnell aufblühte. Andererseits stellt sie den Begriff der Diktatur für die DDR infrage, obwohl die DDR „selbstverständlich ein undemokratischer Staat gewesen sei“. Vor allem empört sie, dass der Begriff Diktatur unterschiedslos auf die NS-Diktatur und die SED-Diktatur angewandt wird.
Schlagt nach bei Montesquieu
Die „unterschiedslose“ Anwendung des Diktaturbegriffs auf die DDR und das Naziregime halte ich auch für unangemessen, nicht nur, weil „die DDR einen Haufen von Akten, die NS-Diktatur hingegen einen Haufen von Leichen hinterlassen hat“, wie der Historiker Etienne François sagte. Viele andere wesentliche Unterschiede ließen sich nennen. Doch was war nun die DDR mit ihrem Haufen von Akten? Für Sonia Combe keine Demokratie, aber auch keine Diktatur. Was ist dieses geheimnisvolle Dritte, das weder noch ist? Sonia Combe verrät es uns nicht.
Dabei wage ich kaum, die Historikerin daran zu erinnern, dass es viele verschiedene Erscheinungsweisen von Demokratien gibt. Die der Weimarer Republik, der Bundesrepublik, des heutigen Deutschlands, Frankreichs, Englands, der USA, der skandinavischen Länder – sie unterscheiden sich in vielem. Ebenso wie die verschiedenen Diktaturen: die des Irans, Syriens, Algeriens, Nordkoreas, die Deutschlands unter Hitler, die der Sowjetunion unter Stalin, Albaniens unter Enver Hodscha, Rumäniens unter Ceausescu – und die der DDR unter Ulbricht, Honecker. Sie hinterließen größere oder kleinere Haufen von Akten und auch von Leichen zurück. Doch diese sehr verschiedenen Demokratien und Diktaturen verdienen diese Bezeichnungen jeweils durch Merkmale, die bekannt sind.

1748 hat Montesquieu sie in seinem „Vom Geist der Gesetze“ dargelegt und mit diesem Werk der Aufklärung zur Französischen Revolution von 1789 beigetragen. Demokratien ist die Teilung der Gewalten in eine legislative (gesetzgebende), exekutive (vollziehende) und judikative (Recht sprechende) gemeinsam, sie haben ein Parlament, das aus freien und geheimen Wahlen hervorgeht, ein Mehrparteiensystem, eine zugelassene politische Opposition, eine freie Presse, die Bürger genießen Meinungs- und Bewegungsfreiheit usw.
Demokratien sind meistens aus bürgerlichen Revolutionen hervorgegangen (die antike Demokratie in griechischen Stadtstaaten war eine wichtige Vorläuferin, auch wenn Sklaven und Frauen ausgeschlossen blieben).
In Diktaturen gibt es nur eine Wahrheit
Diktaturen dagegen sind ein Rückfall in vormoderne, vorbürgerliche Formen oder verharren historisch in diesen. In ihnen herrschen die zwei Stände, die von der Französischen Revolution gestürzt wurden, Adel und Klerus, in abgewandelte Formen, z.B. Stammesfürsten und Ayatollahs, Oligarchen und Geistliche, oder auch der Apparat eines Ein-Parteien-Systems und seine Ideologen. In Diktaturen wird die politische Macht von einer vertikalen Struktur ausgeübt, an der Spitze steht eine verehrte Führungsgestalt, die sich auf allen Stufen der Gesellschaft in Kopien wiederholt. Es gibt keine Zivilgesellschaft und eine einzige Wahrheit. In feudalen Gemeinwesen unterstehen dem Kaiser Könige, diesen Fürsten, Herzöge, Grafen, Barone usw. In angeblich historisch fortschrittlicheren Gesellschaften herrschen ein Politbüro, Bezirks-, Kreisleitungen usw.
In der DDR war aus historischen Gründen eine Janusgestalt geschaffen worden, die die Unterschiede verwischt. Wie Wolfgang Leonard in seinem Buch „Die Revolution entlässt ihre Kinder“ berichtete, nannte Walter Ulbricht während seiner Rückkehr aus der Sowjetunion 1945 das Konstruktionsprinzip: „Es muss alles demokratisch aussehen, aber wir müssen die Macht haben.“
Die DDR hatte zwei Gesichter. Das sichtbare, eine Demokratie, allerdings eine Fake-Demokratie, eine Scheindemokratie. Es fing mit dem Namen Deutsche Demokratische Republik an. Und ging weiter mit den Institutionen, die zu einer Demokratie gehören: ein Parlament (die Volkskammer), Wahlen, ein Mehrparteiensystem (fünf „Blockparteien“, die die Führungsrolle der SED anerkannten), den Schein einer Zivilgesellschaft (Massenorganisationen, die allesamt unter Leitung und Kontrolle der SED standen).

Sprachlich verriet sich die strukturelle Lüge, die diese Gesellschaft prägte, durch die Inflation der Begriffe, die von der Wirklichkeit besonders weit entfernt waren – demokratisch und frei, sowie die vielen Verbindungen mit „Volk“. Sogar die Gewerkschaften waren in der DDR im Unterschied zur Bundesrepublik frei – dem DGB stand der FDGB gegenüber! Parallel zur gewollt sichtbaren Seite bestand eine weniger sichtbare Struktur, die die tatsächliche Macht ausübte, alle Entscheidungen traf. Jedem Ministerium entsprach eine Abteilung im Zentralkomitee. Der Wirtschaftsminister, Kulturminister, Verteidigungsminister und so fort standen unter der Kontrolle dieser Abteilungen, wurden von ihnen ernannt, erhielt von ihnen ihre Anweisungen. Die für die Bevölkerung wichtigen Entscheidungen wurden auf den Parteitagen der SED verkündet.
Es erübrigt sich, weitere Belege zu nennen, sie sind allen ehemaligen DDR-Bürgern bekannt. Natürlich auch einer französischen Historikerin, die sich besonders mit der Geschichte der ehemaligen sozialistischen Länder beschäftigt. Und die die Bücher von Manés Sperber, Arthur London, Eugen Ruge und vieler anderer kennt.
Ein Wort zu Wolfgang Herzberg. Er hält den Begriff „SED-Diktatur“ für eine „untaugliche, nicht hinreichende, ja entwürdigende Etikettierung dieses Systems“, unter anderem weil es von Antifaschisten geleitet wurde. Ein seltsames Argument. Ist es ausgeschlossen, dass jemand, der den Faschismus bekämpfte, nun selbst, an die Macht gekommen, eine Diktatur ausübt? Was auch psychologisch verständlich wäre.

Nicht die besten Voraussetzungen für eine Umerziehung
Die wenigen überlebenden Antifaschisten, die 1945 in der DDR die Macht übernahmen, standen einer Bevölkerung gegenüber, die in ihrer übergroßen Mehrheit den Nazis gefolgt war oder selbst zu ihnen gehörte, im Geist des Antikommunismus und Antisemitismus gelebt hatte. Und zu den Bedingungen des illegalen Kampfes gegen die Nazis gehörten neben Mut, Wachsamkeit, Misstrauen, Verstellung auch Lügen. Für einen demokratischen Übergang, eine demokratische Umerziehung der ehemaligen Nazis nicht gerade die besten Voraussetzungen.
Übrigens wurden bald, bis auf wenige Gerontokraten, die meisten Antifaschisten der ersten Stunde abgelöst von ehrgeizigen jungen Männern, die vor 1945 gerade zu einer vielversprechenden Nazikarriere angesetzt hatten. Nicht anders als im Westen Deutschlands verschwiegen sie die radikale Wende, die sie 1945 vollzogen. Im Westen wurden sie über Nacht zu Demokraten, im Osten zu Kommunisten. Im Westen wurde ihnen der Wandel durch die Kontinuität des Antikommunismus erleichtert, im Osten durch die Kontinuität des antidemokratischen Ressentiments und der autoritären Strukturen.
Wolfgang Herzberg hat ein idealisiertes Bild vom Verhältnis DDR – Antifaschisten. In dieses passt zum Beispiel nicht der Ausschluss von Robert Havemann (von den Nazis zum Tode verurteilt) aus der Reihe der Akademiemitglieder am 24. März 1968 durch den Präsidenten der Akademie, dem ehemaligen NSDAP-Mitglied Werner Hartke. Und auch nicht die Ausbürgerung von Wolf Biermann, dessen kommunistischer Vater in Auschwitz ermordet worden war, 1976 aus der DDR.

Diktaturen ertragen nicht die Kritik an ihrer Herrschaft und an ihrer Ideologie. Das zeigt die algerische Diktatur mit der Verhaftung von Boualem Sansal, ebenso sowie die DDR-Regierung, genauer das Politbüro der SED, mit der Ausbürgerung von Wolf Biermann bewies, dass sie unfähig und unwillig war, mit Kritikern demokratisch umzugehen.
Wolfgang Herzberg spricht von einem „emanzipatorischen Erbe der DDR (…) das es, trotz allem, auch gegeben hat“. Das ist unbestritten und verdient auch hervorgehoben zu werden. Doch ist es eher Persönlichkeiten wie Robert Havemann als Gestalten wie Walter Ulbricht zu verdanken. Diesem Erbe wird man eher gerecht, wenn man sich von den Lügen befreit, an die man geglaubt hat, wenn auch aus ehrenwerten Motiven.






