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Die französische Historikerin Sonia Combe, Verfasserin bedeutender Bücher zur Überwachung der DDR-Gesellschaft und zur kommunistischen Dissidenz, hat mir in der Berliner Zeitung vom 30. Oktober 2024 vorgeworfen, die DDR auf einer „Gedenkfeier“ anlässlich des 75. Jahrestags ihrer Gründung als Diktatur etikettiert zu haben.
Nun handelte es sich bei der vermeintlichen Gedenkfeier in Wahrheit um eine Fachtagung der Rosa-Luxemburg-Stiftung, die unter dem Titel „Die DDR zwischen Gründung und Untergang“ über die Zukunft der DDR-Forschung im Kontext der neuen Ost-West-Debatte und unter dem Eindruck wachsender Demokratieskepsis und rechtspopulistischer Bedrohung nachdenken wollte.
Im Rahmen eines solchen Fachforums kommt der Vorhalt einer haltlosen Etikettierung der DDR als Diktatur so überraschend wie wuchtig daher – er trifft nicht nur mich, sondern die Zeitgeschichtsschreibung insgesamt, die in den 35 Jahren seit dem Sturz des SED-Regimes den diktatorischen Charakter des zweiten deutschen Staates in seinen vielen Facetten ausgeleuchtet hat.
Sie hat sich bekanntlich zunächst insbesondere an der Frage abgearbeitet, ob die DDR eher als totalitär, autoritär oder „autolitär“ (Eckhard Jesse) zu beschreiben sei und bald festgestellt, dass totalitarismustheoretische Erklärungsansätze empirisch weitgehend fruchtlos bleiben und vorschnell Geltungsanspruch und Lebenswirklichkeit staatsozialistischer Gesellschaften verwechseln.
Unter Moskauer Diktat
Die DDR-Forschung hat später andere und verfeinerte Konzepte entwickelt, um die vierzigjährige Existenz eines zweiten Deutschlands in ihren einzelnen Phasen als Erziehungs- bzw. Fürsorgediktatur zu beschreiben und die in ihr ausgeübte Herrschaft als soziale Praxis zu ergründen. Ich selbst habe den Begriff der Konsensdiktatur ins Spiel gebracht, um zu begreifen, warum es dieser Form politischer Herrschaft so sehr auf die volle Zustimmung der Beherrschten ankam und in ihre politische Kultur so penetrant von Akklamationsritualen durchtränkt war, warum jedes Wahlergebnis unter 100 Prozent ein Ärgernis darstellte und noch im Strafprozess so viel auf das Geständnis ankam und so wenig auf die Beweislage und weshalb sogar die um ihr Amt kämpfenden Staatschefs selbst die Hand gegen sich hoben, als 1973 bzw. 1989 im Politbüro über ihre Ablösung abgestimmt wurde.

Das alles muss man nicht akzeptieren, und es tut gut, aus einer Außenperspektive frischen Wind auf alten Forschungsfeldern zu verspüren. Aber dieser Wind sollte doch nicht den erreichten Erkenntnisstand verwehen lassen. In der Forschung wird die DDR als eine Diktatur gekennzeichnet, weil in ihr nicht der Bürgerwille entschied, sondern die Macht einer kleinen Funktionärsschicht, die sich unter Ulbricht wie Honecker zeitweilig autokratisch verengte und die überdies bis in den Herbst 1989 hinein in außenpolitischen Fragen unter Moskauer Diktat stand.
Die DDR, die sich in offiziellen Verlautbarungen von Anfang bis Ende übrigens selbst als Diktatur des Proletariats definierte, kannte keine freie Meinungsäußerung und keine Toleranz gegenüber abweichenden Auffassungen in Bezug auf das Machtmonopol der SED. Sie war durch eine umfassende Überwachungspraxis und Medienkontrolle geprägt, und ihre Bürger durften ihr Land nicht einmal legal verlassen. Widerstand gegen die Herrschaft der „führenden Partei“ wurde von Anfang bis Ende unterdrückt oder in Nischen abgedrängt, wie Mielkes Sicherheitsapparat noch zum 40. Jahrestag der DDR-Gründung am 7. und 8. Oktober 1989 in Berlin demonstrierte.
Das alles wird Sonia Combe nicht bestreiten, will es aber nicht als Diktatur verstanden wissen. Stattdessen bevorzugt sie es, die DDR einfach einen „undemokratischen Staat“ zu nennen. Der Unterschied in der Sache erschließt sich mir nicht, aber darum geht es natürlich auch gar nicht, sondern um den abwertenden Beigeschmack des Wortes – Diktatur klingt unfeiner als Demokratiedefizit. Ja, das tut es, aber sollte man es deswegen aussparen, wenn es denn zutrifft?
Ein flottes Wortspiel
Zur Begründung ihrer Abwehr erinnert Sonia Combe an den bekannten Satz, dass der NS-Staat Leichenberge und der SED-Staat Aktenberge hinterlassen habe. Dieses flotte Wortspiel wurde in den ersten Jahren nach 1989 gern gebraucht, um die kardinale Differenz zwischen den beiden deutschen Diktatursystemen zu markieren. Mittlerweile ist es in seiner allzu saloppen, fast zynischen Lässigkeit allerdings selbst außer Gebrauch gekommen und dies nicht nur, weil allgemein bekannt ist, dass auch die NS-Herrschaft von penibler Aktenverwaltung begleitet war und dass auch die zweite deutsche Diktatur nicht nur in der Zeit des Stalinismus und der sowjetischen Speziallager mit ihrem menschenverachtenden Grenzregime, mit ihrer repressiven Machtausübung Tod und Verwüstung über die Gesellschaft gebracht hat; mich schaudert immer noch, wenn ich auf der Tagesordnung von SED-Politbüro-Sitzungen der Fünfzigerjahre den Punkt „Vollstreckung von Todesurteilen“ unmittelbar neben dem Punkt „Urlaub der Genossen Erich Honecker und Margot Feist“ aufgeführt finde.

Nein, es ist die summarische Urteilsgewissheit und das Hantieren mit den kategorischen Gesamteinschätzungen, die einem heute so fremd vorkommen. Sie leiten insbesondere Sonia Combes Behauptung, dass NS- und SED-Regime gleichsetze, wer beide als Diktatur abstempele. Diese Sicht ist zu verstiegen, um sich ernsthaft mit ihr auseinanderzusetzen; aber sie gibt Gelegenheit, neben der Geltungskraft auch die Geltungsgrenzen des Diktaturbegriffs zu akzentuieren.
Denn so selbstverständlich die DDR eine Diktatur und in weiten Bereichen auch eine partizipative Diktatur war, die ihre Macht nicht zuletzt auf Mitmachbereitschaft gründete, so selbstverständlich war sie unendlich viel mehr – nämlich gelebtes Leben und empfundene Normalität, Wille zur antifaschistischen Erneuerung und erträumte Alternative zur restaurativen Bundesrepublik, Wohlstandserfahrung und Konsumbeschränkung, Reformhoffnung und bleierne Zeiterfahrung, Identifikationsraum und Hassobjekt.
Enttäuschte Rückbesinnung
Hier liegt der eigentliche Grund für den missmutigen Widerstand, den Sonia Combe dem Diktaturbegriff als Relikt des Kalten Krieges entgegensetzt – er zielt auf soziale Akzeptanz statt auf fachliche Adäquanz.
Trägt auch die Geschichtswissenschaft eine Mitschuld an jenem Othering, das „die“ Ostdeutschen im Sinne Dirk Oschmanns zu einer benachteiligten und abgewerteten Spezies gegenüber „den Westdeutschen“ erklärt und ihnen womöglich ihre Identität raubt? Aber wenn die Tagung der Rosa-Luxemburg-Stiftung eines erbracht hat, dann ist es die Feststellung, dass identitätspolitisch motivierte Deutungen, die der enttäuschten Rückbesinnung auf ein vermeintlich besseres Leben in der DDR Rechnung tragen wollen, der fachlichen Erkenntnisgewinnung eher im Weg stehen, anstatt sie voranzubringen: Der Verzicht auf die inhaltlich gebotene Etikettierung der DDR als Diktatur nimmt nicht nur der damals fast einhelligen Freude über ihre Überwindung 1989/90 den Sinn, sondern degradiert auch die historische Aufklärung über die DDR-Geschichte zur Dienerin gesellschaftlicher Befindlichkeiten in der Gegenwart.




