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Georgien vollführt einen gefährlichen Traumtanz am Abgrund: Vernichtung ist jederzeit möglich

Die aktuelle Auseinandersetzung zwischen Regierungspartei und Opposition könnte für das Land in eine Katastrophe münden. Ein geschichtlicher Hintergrund.

Proeuropäische Demonstration in Tbilisi
Proeuropäische Demonstration in TbilisiNicolas Liponne/imago

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Der Vater der Geschichtsschreibung Herodot betrachtete den in der Kolchischen Tiefebene ins Schwarze Meer mündenden Phasis, der inzwischen Rioni genannt wird, als Grenzfluss Europas. Das Wort Europa selbst ist semitischen Ursprungs und bezeichnet den Westen oder den Abend. Das zugrundeliegende phönizische „ʿerob“ deuteten die Griechen als „Εὐρώπη“, als die Weitsichtige.

Den ersten Teil dieses Kompositums „εὐρύς“ (weit) leitete der niederländische Philologe Edzard Furnée im Jahr 1986 von einer vorindoeuropäischen Wurzel ab, die sich im Georgischen „wrzeli“ für „weit“ wiederfindet. Der Doyen der georgischen Altphilologie Rismag Gordesiani betont deshalb, dass das Georgische selbst zur Namensgebung Europas beigetragen haben könnte.

In seiner 1997 in Tbilissi erschienenen Schrift über die „Gegenüberstellung Europa Asien vom Altertum bis zur Gegenwart“ vermutete er zudem, dass die Völker derjenigen Grenzregionen, welche „in sich gleichermaßen Europa und Asien, d.h. die Prinzipien der mythologischen und der kritisch-analytischen Weltauffassung organisch vereinigen“, die „Rolle eines Vermittlers übernehmen“ und „die Funktion einer Übergangsbrücke zwischen den beiden Gliedern der Opposition bekommen“ könnten. Für „die weitere Formung der Weltordnung“ könnte „die aktive Einschaltung dieser Regionen in die Neutralisierung der Opposition Europa/Asien“ eine „nicht geringe Rolle spielen“.

Herodot bezeichnete den Rioni als Grenzfluss Europas.
Herodot bezeichnete den Rioni als Grenzfluss Europas.Dreamstime/imago

Rotes Jerusalemkreuz auf weißem Grund: Die vielsagende Fahne Georgiens

Insbesondere Georgien könne dabei eine wichtige Rolle einnehmen, so Gordesiani. Er schließt mit der Bemerkung, Georgien habe immer „zwischen westlicher griechisch-römischer und östlicher, später zwischen europäischer und asiatischer Orientation“ zu wählen gehabt und man müsse bemerken, dass Georgien „in äußerst kritischen Augenblicken“ stets „der westlichen Orientation folgte“.

Nach der Rosenrevolution kündigte Präsident Micheil Saakaschwili seine Reformen im Januar 2004 mit den Worten an, Georgien gehöre seit jeher zum „ältesten Europa“, was sich an der georgischen Fahne ablesen lasse: Sie zeigt ein rotes Jerusalemkreuz auf weißem Grund und löste 2004 jene Staatsfahne ab, welche das dominante revolutionäre Rot der sozialistischen Menschewiki mit einem schwarzen und weißen Streifen in der Gösch kombinierte, zusammen eine Abwandlung des Schwarz-Weiß-Rot des Kaiserreichs, welches 1918 die erste „Demokratische Republik Georgien“ aus der Taufe gehoben hatte.

„Ihr seid Europäer, weil ihr Georgier seid“, erklärte einst der Dichter und Germanist Amiran (Pako) Swimonischwili (1974–2014) seinen Eleven der Sechsten Schule von Tbilissi, einer noch zu Sowjetzeiten gegründeten Experimentalschule mit vertieftem Deutschunterricht, deren Absolventen nach der Rosenrevolution zahlreiche Ämter in Politik und Diplomatie bekleiden sollten und bis heute im georgischen Kulturleben stark präsent sind. Er nahm damit das Wort des georgischen Parlamentsvorsitzenden Surab Schwania auf, der bereits am 27. Januar 1999 anlässlich des Beitritts Georgiens zur Parlamentarischen Versammlung des Europarats erklärt hatte: „Ich bin Georgier, folglich bin ich Europäer.“

Micheil Saakaschwili als neu gewählter Präsident Georgiens im Jahr 2004
Micheil Saakaschwili als neu gewählter Präsident Georgiens im Jahr 2004Zurab Kurtsikidze/dpa

Im Februar 2004 wurde Schwania auf Vorschlag Saakaschwilis zum Premierminister gewählt. Kurz darauf traten Spannungen zwischen Präsident und Premier auf. Schwania versuchte, Georgien behutsam nach Europa zu führen, ohne dabei die offene Konfrontation mit Russland zu suchen. Im Februar 2005 starb der Premier unter ungeklärten Umständen. Er war sich der Bedenklichkeit der Geografie Georgiens bewusst: Eine Mittellage ist immer heikel. Umzingelt von Freunden und den Freuden der Tücke, war das kleine Land stets zur historischen Gratwanderung gezwungen. Ein Fehltritt Georgiens war kein Verbrechen. Es war sein Untergang.

Legende um Christus und Dschingis Khan

Ästhetisch ist es dem alten Kulturland in seiner tragödienreichen Geschichte bis jetzt stets gelungen, das daraus erwachsende Grauen zu bannen, so in den Versen des pschawischen Volksdichters Micha Chelaschwili, der seine Beteiligung am Augustaufstand von 1924 für die Unabhängigkeit Georgiens mit dem Leben bezahlte; oder die Abgründigkeit des menschlichen Daseins mit dem Licht der georgischen Kunst in trotziger Heiterkeit auszuleuchten: etwa in der Brigantenparabel des Regisseurs Othar Iosseliani oder der Kairosmalerei des magischen Realisten Zurab Sumbadze.

Den lebenskünstlerisch vollzogenen Traumtanz am Abgrund, mit dem die Georgier ihre geschichtliche und geografische Lage zu meistern gelernt hatten, bezeichnete der georgienbegeisterte englische Historiker und Diplomat W.E.D. Allen in seiner „History of the Georgian People“ als „aesthetic irresponsibility“.

Ein Interventionsverbot für traumfremde Mächte ließ sich bis heute nur im Reich der Kunst erwirken. Realpolitisch kann der Traum stets in einen Albtraum münden. Die georgische Chronik Kartlis Zchowreba, das „Leben Georgiens“, berichtet von einer Legende, wonach Christus Dschingis Khan erschienen sei, weswegen die Georgier den Mongolen als vermeintlichen Christen mit Kreuzen und nicht mit Waffen entgegengezogen seien.

Von der langen christlichen Kultur des Landes zeugen eine Vielzahl an alten Kirchen.
Von der langen christlichen Kultur des Landes zeugen eine Vielzahl an alten Kirchen.Mykola Ivashchenko/imago

1223 schrieb Königin Rusudan von Georgien an Honorius III. in einem Brief, – in welchem sie den Papst vergeblich um westliche militärische Unterstützung ersuchte, – die Georgier hätten angenommen, die Mongolen seien Christen, da sie gegen die Muslime gekämpft hätten, aber es habe sich doch herausgestellt, dass sie Heiden seien. Die Georgier waren zunächst gezwungen, den Mongolen Heerfolge zu leisten. Die mongolische Vorherrschaft erschien milde angesichts der Schrecken der ab 1386 erfolgenden Einfälle Tamerlans, der das Land bis 1403 achtmal verwüstete.

Erst unter der im 19. Jahrhundert einsetzenden Vorherrschaft Russlands erlebte Georgien eine längere Friedensperiode. Getrübt wurde diese Zeit der demografischen Erholung des Landes durch die mit der bürokratischen Herrschaft einhergehende Russifizierung von Verwaltung, Bildungswesen und Kirche, welche den Georgiern indes Karrierewege im größeren zarischen, sodann im sowjetischen Imperium eröffnete.

Die Gefahr eines Krieges ist nicht irreal

Einen solchen Weg schlug der 1956 geborene imeretinische Kleinbauernsohn Bidsina Iwanischwili ein, der am Moskauer Verkehrsinstitut Wirtschaft studierte, im Chaos des Zusammenbruchs des sowjetischen Wirtschaftssystems 1990 eine Kreditbank gründete und im Zuge und Zwielicht der Privatisierungen zu sehr günstigen Preisen Eisenminen erwarb und ein Milliardenvermögen erwirtschaftete. Nach der Rosenrevolution unterstützte er zunächst Saakaschwili, mit dem er sich 2008 überwarf. Ab 2011 unterstützte er die Opposition und gründete 2012 das Parteienbündnis Georgischer Traum, das die Parlamentswahlen gewann und ihn in das Amt des Premierministers wählte, von dem er 2013 zurücktrat. Durch sein Vermögen bestimmt er aber bis heute die georgische Politik.

Bidsina Iwanischwili bestimmt mit seinem Vermögen die georgische Politik.
Bidsina Iwanischwili bestimmt mit seinem Vermögen die georgische Politik.Jay Kogler/dpa

Der Oligarch, der das Ziel einer euroatlantischen Integration Georgiens verkündete, dem jedoch eine Nähe zu Russland vorgeworfen wird, verfolgt in erster Linie eigene Interessen. Geistig lebt der Selfmademan von Aufgeschnapptem. Als Premier gab er Gemeinplätze von der Wissenschaftsfeindlichkeit der Kirche (Galilei etc.) zum besten und kritisierte den georgischen Patriarchen für dessen Ablehnung der Leihmutterschaft. Inzwischen spricht er von einer globalen Kriegspartei, die er einzudämmen gedenke, um seinem Land den Frieden zu wahren.

Die Kriegsgefahr ist in Georgien freilich nicht irreal. Dass er eine Integration Georgiens und der Ukraine in die Nato nicht dulden werden, hatte Putin bereits in seiner Münchner Rede 2007 erklärt. Die Stärkung und Modernisierung der ukrainischen Streitkräfte und der Infrastruktur sowie die Anpassung an den Nato-Standard beantwortete Putin im Februar 2022 mit dem Einmarsch in der Ukraine.

Im Falle Georgiens wäre Putin nicht einmal auf einen Einmarsch eigener Truppen, die derzeit größtenteils noch in der Ukraine gebunden sind, angewiesen. Sie stehen bereits 40 Kilometer vor der georgischen Hauptstadt, die sie jederzeit unter Beschuss nehmen könnten. Doch nicht einmal dies wäre nötig. In Karabach hat er demonstriert, dass sein Nichthandeln bereits das strategische Gleichgewicht verschieben kann: Aserbaidschan konnte mit türkischer Unterstützung die Enklave einnehmen. Dem türkischen Staatschef Erdogan, der seine georgischen Wurzeln betont, könnte er ebenso sein Nichthandeln signalisieren, sollte die Türkei, die bereits Batumi als Inlandsflughafen ausweist, Ansprüche auf das muslimisch geprägte autonome Adscharien erheben. Oder aber sollte Aserbaidschan Teile Kachetiens bzw. Armenien Dschawachetien beanspruchen.

Russische Truppen in Georgien während des Kaukasuskriegs 2008.
Russische Truppen in Georgien während des Kaukasuskriegs 2008.Xinhua/imago

Eine weitere Wirkmöglichkeit, Georgien zu destabilisieren, böten die mittlerweile im Land lebenden Wahhabiten, die mit finanzieller Unterstützung Saudi-Arabiens eigene Strukturen aufbauen konnten. 1999 marschierten tschetschenische Wahhabiten in Dagestan ein. Der russische Oligarch Beresowski, der damals noch dem Kreml nahestand, hatte nach eigenen Angaben im Vorjahr dem Rebellenführer Schamil Bassajew zwei Millionen Dollar übergeben.

Auf den Handel mit Russland angewiesen

Bei seiner Wahlentscheidung vom 26. Oktober 2024 hatte ein Teil des georgischen Elektorats das Beispiel der Ukraine vor Augen, die der Westen zwar finanziell und mit Waffenlieferungen unterstützt, ohne jedoch eigene Truppen zu entsenden, um sich nicht der Gefahr einer möglichen eigenen Vernichtung auszusetzen. Zum Einsatz eigener Truppen zur Verteidigung Georgiens waren bereits während des Augustkrieges 2008 weder die USA noch die Europäer bereit gewesen.

Wirtschaftlich ist die georgische Landwirtschaft zu einem großen Teil auf die Ausfuhr nach Russland angewiesen, während sich der westliche Markt noch nicht in ausreichendem Maß georgischen Erzeugnissen geöffnet hat. Anders als der mobile westlich orientierte Teil der Wählerschaft, der seine Hoffnungen auf eine rasche euroatlantische Integration setzt, hätte sowohl der in der Landwirtschaft tätige Teil der Wähler als auch die in Russland lebenden georgischen Gastarbeiter bei einer Konfrontation mit Russland viel zu verlieren.

Zu verlieren hätte ebenfalls die Staatsdienerschaft, die bei den Machtwechseln seit der Unabhängigkeit bisher immer zu einem erheblichen Teil ausgetauscht wurde. Auch wenn dessen Partei mittlerweile eine neue Führung gewählt hat, fürchtet ein weiterer Teil der Wähler die Rückkehr Saakaschwilis an die Macht, der 2012 durch einen Folterskandal zu Fall kam.

Ungeachtet dieser Bedenken gibt die Mehrheit der Befragten bei Umfragen regelmäßig den Wunsch nach Aufnahme des Landes in Nato und Europäische Union an. Die Opposition erkennt deshalb den von der Wahlkommission erklärten Sieg der Regierungspartei von knapp 54 Prozent der Stimmen nicht an. Russland habe die Wahl manipuliert.

Wahl in Georgien: Ein Wähler gibt am 26. Oktober 2024 seine Stimme ab.
Wahl in Georgien: Ein Wähler gibt am 26. Oktober 2024 seine Stimme ab.Maira Giulia/imago

Surabischwili ruft zur Demonstration auf

Während der ungarische Ministerpräsident Viktor Orbán die Wahl als „frei und demokratisch“ bezeichnete, kritisierten die Wahlbeobachter der OSZE, des Europarats, des Europaparlaments und der Nato am 27. Oktober in einer gemeinsamen Erklärung „Ungleichheiten, Druck und Spannungen“, die den Urnengang erheblich gestört hätten. Die Oppositionspolitiker wollen ihre Sitze im Parlament aus Protest nicht einnehmen.

Dem Aufruf von Präsidentin Salome Surabischwili zur Demonstration gegen das offizielle Wahlergebnis folgten am 29. Oktober Zehntausende Georgier und zogen vor das Parlamentsgebäude. Anfang der Neunzigerjahre ging die Auseinandersetzung zwischen Regierung und Opposition in einen Bürgerkrieg über, der zum Verlust zweier Landesteile führte.

Es ist zu hoffen, dass die Auseinandersetzung zwischen der Regierungspartei des Georgischen Traums und der Opposition nicht in einen Albtraum mündet. Die Wunden eines Bürgerkrieges, zweier Separationskriege und eines Krieges mit Russland liegen noch offen. Die Vernichtung des Landes ist jederzeit möglich.

Philipp Ammon ist Historiker und Kaukasiologe. 2020 erschien im Verlag Vittorio Klostermann der Band „Georgien zwischen Eigenstaatlichkeit und russischer Okkupation: Die Wurzeln des Konflikts vom 18. Jahrhundert bis 1924“. Im Gans-Verlag erscheint nun der Reiseessay „Tuschetiens Wolken und Karthlis Untergang“ und die europäische Elegie „Die schöne Zeit“.

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