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Europäische Migrationspolitik: Braucht es ein Umdenken?

Unser Autor kritisiert die europäische Migrationspolitik und fordert effektive Entwicklungshilfen.

Spitzentreffen im Juli 2023 in Tunesien mit EU, Italien und den Niederlanden, um eine engere Zusammenarbeit beim Thema Migration auszuloten.
Spitzentreffen im Juli 2023 in Tunesien mit EU, Italien und den Niederlanden, um eine engere Zusammenarbeit beim Thema Migration auszuloten.Freek Van Den Bergh/dpa

Jede Sache hat ihr Maß, und eine das Maß überschreitende Migration baut im Inneren des Landes falsche Kampffronten auf, schafft Widersprüche, die hier nicht positiv auflösbar sind.

Egal wie viele Millionen Flüchtlinge in sogenannten reichen Ländern integriert würden: Die letztlich auch für die Flüchtlingskrise verantwortliche Ursache, eine zerstörerische Entwicklungslogik des globalisierten kapitalistischen Systems, bleibt unangetastet.

Migration: Nationale Teillösungen für die EU?

Da es zurzeit keine Kraft gibt, die die Systemfrage nicht nur stellt, sondern auch den Kampf um ihre Beantwortung erfolgreich führen könnte, müssen die EU und jedes ihrer Länder nationale Teillösungen finden und realisieren.

Mindestens seit dem Ende des Systemkonflikts Anfang der 1990er-Jahre standen die sie regierenden Parteien vor der Alternative, durch massive Entwicklungshilfe und Vermeidung jeglicher Rüstungsgüterexporte in die betreffenden Regionen die hauptsächlichen Ursachen von Massenmigration zu bekämpfen oder Masseneinwanderung in die europäischen Länder zu akzeptieren.

Natürlich haben die Völker der Peripherie alles Recht der Welt, von den reichen Ländern des Nordens und Westens Wiedergutmachung für all das zu fordern, was sie durch koloniale und neokoloniale Ausbeutung wie durch ein ungerechtes Weltwirtschaftssystem verloren haben und weiter verlieren.

Die Abhängigkeit des Südens vom Norden der Erde, das Elend in der Dritten Welt, die durch die Globalisierung verschärfte soziale Ungleichheit sowie die absehbare ökologische Katastrophe können nur überwunden bzw. vermieden werden, wenn verantwortungsbewusste Kräfte es schaffen, das Primat der Politik über die Ökonomie durchzusetzen – angefangen in zwei, drei starken Nationalstaaten und schließlich weltweit.

Eine mehrdimensionale Frage

Ein durchdachter Antwortversuch muss mithin beachten, dass die Migrationsfrage eine mehrdimensionale ist: Eine nationalstaatliche, eine europäische und eine globale sowie eine soziale, d. h. letztlich eine politisch-strategische und natürlich auch eine rechtliche.

Die Position, das Recht auf Freizügigkeit zum allgemeinen Menschenrecht zu erheben, geht allein deshalb in die Irre, weil das Recht wie die Freiheit des Einzelnen dort endet, wo sie die eines anderen verletzen, also auch Zuzug dort endet, wo er das Recht der Ansässigen verletzt.

Unbestritten war Deutschland schon immer ein Einwanderungsland, aber das löst den Streit um Willkommenskultur und Abschottung nicht. Auch Hinweise auf zurückliegende Masseneinwanderungen, die erfolgreich bewältigt und bei denen die Menschen integriert wurden, sie ein Gewinn waren, weil in aller Regel positiv auf Wirtschaft und Kultur wirkend, helfen da nicht.

Zwar wurde zum Beispiel die Einwanderung der vor dem „Sonnenkönig“ in die Schweiz und die Niederlande flüchtenden Hugenotten in den 80er-Jahren des 17. Jahrhunderts, die dann – von Preußen und Hessen eingeladen – zu deren Segen.

Das in vielen Ländern geltende Asylrecht basiert weltweit auf dem nach dem Zweiten Weltkrieg von der UNO proklamierten Menschenrecht auf Freizügigkeit und Asyl. Es war eine Schlussfolgerung aus der Erfahrung, dass in den Jahren des Faschismus und des Krieges einige Zehntausend Flüchtlinge nur in wenigen Ländern ohne Schwierigkeiten Aufnahme fanden und selbst dann oft in vielerlei Hinsicht Beschränkungen unterworfen waren.

Hohe Zuwanderungszahlen

Womit wir es heute und zukünftig zu tun haben, stellt eine völlig neue Qualität und andere Quantität dar, und das allein dadurch, dass frühere jährliche Zuwanderungszahlen gegenwärtig oft in wenigen Wochen erreicht werden, trotz all der verschärften Abschottungsmaßnahmen.

Die meisten Ursachen stellte bereits der erste Bericht der Nord-Süd-Kommission der UNO 1980 vor. Die Kommission arbeitete seit 1977 unter dem Vorsitz Willy Brandts.

Unter der treffenden Überschrift „Das Überleben sichern“ wurden Kriege, Hunger, Massenelend als Ursachen und Gefahren benannt. Außer einem großen medialen Echo passierte auf politischer Ebene danach fast nichts.

Nach dem zweiten Bericht von 1982 wurde zwar durch die reichen Staaten die seit den 1970er-Jahren versprochene Entwicklungshilfe von 0,7 Prozent des Bruttonational-Einkommens (BNE) als Ziel bekräftigt, aber zeitlich offen gelassen, wann gezahlt werden sollte.

Entwicklungshilfen nicht eingehalten

Erst 2001 wurde durch die Entwicklungsminister das Jahr 2015 vereinbart, aber außer Norwegen, Schweden (mit mehr als einem Prozent) und Großbritannien kam dem keines der übrigen verpflichteten sieben Länder nach. Die Bundesrepublik brachte es auf beschämende 0,36 Prozent. Der einzige Budgetposten, der weiter rasch anwuchs, waren die Exporte von Rüstungsgütern in Länder der Dritten Welt.

Auch der dritte Bericht „Unsere Zukunft sichern“ (unter der ehemaligen norwegischen Ministerpräsidentin Brundtland erarbeitet) änderte daran nichts, obwohl er nachwies, dass allein eine nachholende privat-kapitalistische Entwicklung nicht ausreiche und eine einfache Gleichsetzung von Wachstum und Entwicklung falsch sei. Das belegten allein die von der UN-Konferenz beschlossenen Millenniumziele bis 2020.

Migrationsproblem unterschätzt?

Auf das Migrationsproblem wurde zwar hingewiesen, aber sträflich unterschätzt und notwendige Maßnahmen der entwickelten Länder lediglich genannt. Zu den in diesen Berichten analysierten Ursachen sind mit der Klimakrise und der verschärften Globalisierung in den letzten Jahren neue hinzugekommen.

Der Kabarettist Frank-Markus Barwasser (Pelzig) hat dies einmal bildhaft erklärt: „In Äthiopien wird Baumwolle gepflanzt und, da diese dort nicht verarbeitet werden kann, nach Europa geschickt. Aus dem dort gewebten Stoff nähen in Äthiopien Näherinnen zu schlechten Löhnen Hemden, die billig nach Europa geschickt und dort teurer verkauft werden. Als Altkleider kommen sie als ‚Spende‘ nach Äthiopien zurück. Da darf man sich nicht wundern, wenn die nach Europa zurückkommen und nun ein Flüchtling drinsteckt.“

Eine strategisch konzipierte Flüchtlings- und Migrationspolitik muss primär auf die erst längerfristig wirksame Beseitigung der Fluchtgründe anstelle einer vorwiegend sozial-fürsorgerische Betreuung und Integration zielen und schon gar nicht auf Abschottung hoffen.

Fluchtgründe langfristig beseitigen

Ein wissenschaftlich begründetes und politisch-pragmatisches Konzept muss zwischen kurzfristig notwendigen und machbaren Lösungen, mittelfristigen und solchen unterscheiden, für die es Jahrzehnte bedarf.

Kurzfristige (nationalstaatliche) Lösungen sind die, bei denen es um die ganze Palette von Versorgung, Unterbringung, Sprachvermittlung und erste Schritte zur Integration von angekommenen Flüchtlingen und Migranten mit Asyl- oder Bleiberecht in den Arbeitsmarkt geht.

Relativ kurzfristig wäre auch die Sicherung der Außengrenzen des Schengen-Raums notwendig, um überhaupt wieder Recht und Gesetz zu garantieren und Zeit zu gewinnen, konzentriert Mittel zur Sicherung eines akzeptablen Lebens in bestehenden Flüchtlingslagern herzustellen.

Im Zeitalter modernster Kommunikationsmittel, mit denen irgendwie glücklich Angekommene ihren Familien Fotos ihrer Rettung im Mittelmeer und Videos ihre Hoffnungen auf ein besseres Leben übermitteln, werden weitere Tausende bestärkt, sich mit untauglichen Booten auf See zu begeben und um Rettung zu beten. Das Sterben würde nicht aufhören. Die Beherrschung des Zuzugs würde vielleicht den Weg zu einer europäischen Minimal-Lösung, sprich: zumindest den Weg zur Verteilung der Flüchtlinge mit Asyl bzw. Bleiberecht eröffnen.

Einrichtung von Bewerberzentren

Mittelfristig wäre die Einrichtung von Bewerberzentren bei den Botschaften in den relevanten Ländern notwendig, um akzeptierte Asylbewerber auf legalen und sicheren Wegen nach Europa zu bringen. Das sollte auch für den gesteuerten Zuzug von Fach- und Arbeitskräften nach dem Beispiel der Gastarbeiter-Kampagne gelten.

Dringlicher wäre es allerdings, alle Anstrengungen zur Befriedung der Herkunftsländer und Hilfe bei der Wiederherstellung staatlicher Stabilität in Libyen, Syrien, Jemen, Somalia, Afghanistan, Mali u. a. zu leisten. Es eröffnete zudem Hunderttausenden die Möglichkeit zur Rückkehr, zum Wiederaufbau ihrer Länder. Ohne friedliche stabile Verhältnisse kann der brain drain, der Abzug einheimischer Intelligenz kaum gestoppt werden.

Langfristig müsste durch ein mindestens auf 20 Jahre angelegtes Entwicklungsprogramm die ökonomisch-technologische Unterentwicklung durch die Beseitigung der nicht-äquivalenten weltwirtschaftlichen Beziehungen, durch Schuldenerlass, massiven minimal verzinsten Kapitalexport (Investitionen) in traditionelle Wirtschaftszweige, in die Landwirtschaft und in die Infrastruktur überwunden und eine kontraproduktive Subventionspolitik der EU schnellstens beendet werden.

Heimische Arbeitsplätze

Ausreichende heimische Arbeitsplätze bilden neben weiteren Hilfsprogrammen gegen Hunger und mangelnde Bildung die entscheidende Barriere gegen die Flucht. Bei der Ausbildungskosten sparenden Abwerbung von Intelligenz müsste mit geeigneten Mitteln wie durch finanzielle und andere Hilfen vor Ort gegengesteuert und diese nicht mit „Green Cards“ gefördert werden.

Das Bevölkerungswachstum bedürfte der Begrenzung, da ein überdurchschnittlicher Geburtenüberschuss die einheimischen Arbeitsmärkte laufend überfordert und jedes Wirtschaftswachstum sofort aufzehrt. (Beim jetzigen Wachstum wird sich die Bevölkerung Afrikas bis 2050 verdoppeln.)

Mit der Entwicklung der Wirtschaft und einer einhergehenden besseren Bildung und Ausbildung würden auch die die innerstaatliche Entwicklung hemmenden sozio-kulturellen Faktoren allmählich überwunden. Zivilgesellschaftliche Prozesse würden dann die jetzt zu beobachtende reaktionäre Islamisierung bremsen und Terrorgefahren vermindern.

Ein „Marshall-Plan“ für Entwicklungshilfe und die Bannung des drohenden Klimakollapses statt Billionen von Dollar und Euro in die Rüstung zu stecken – das ist das entscheidende Kettenglied zur Lösung dieser Probleme, die zusammen mit dem präzedenzlosen Überverbrauch der planetaren Lebensgrundlagen zu einer anthropogenen Bedrohung der Menschheit geworden sind.

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