Als Kaiser Franz Joseph I. von Österreich-Ungarn 1910, ein Jahr nach der Annexion Bosnien-Herzegowinas, das Land besuchte, lag die habsburgische Balkanstrategie bereits auf dem Tisch. Demografisch war Serbien damals wie heute die größte Macht in der Region, mit etwa doppelt so vielen Einwohnern wie Kroatien. Um Belgrad auszubalancieren, sollte Sarajevo enger an das österreichische Zagreb gebunden werden. Gemeinsam sollten die beiden Länder den serbischen Hegemonialanspruch beenden und die österreichische Hegemonie in der Region durchsetzen. Dazu kam es wegen des Ersten Weltkriegs nicht. Eine deutsche Balkanstrategie muss an diese Geschichte anknüpfen. Denn die strategische Lage auf dem Balkan hat sich seit mehr als 100 Jahren kaum verändert.
Serbien hat den Traum der Balkan-Hegemonie nie aufgegeben
Serbien ist nach wie vor der stärkste Staat, und Präsident Aleksandar Vučić ist der mächtigste Mann in der Region. Der Westen will eine territoriale Ordnung besiegeln, aber Serbien steht dem vor allem deshalb im Weg, weil es den Traum von der Hegemonie über den Balkan nicht aufgegeben hat. Serbien hat aus historischen Gründen in zwei Staaten, im Kosovo und in Bosnien und Herzegowina, die Macht, Spannungen oder Entspannung zu forcieren. Vučić nutzt diese Macht in einem äußerst geschickten Balanceakt, indem er gleichzeitig für Spannung und Entspannung in der Region sorgt und so jede Entwicklung zu einer geregelten Ordnung in der Schwebe hält, weil die Besiegelung einer Ordnung die territorialen Ambitionen Serbiens beenden würde. Seine Taktik ist immer dieselbe: In Bosnien sorgt er über den bosnisch-serbischen Präsidenten Milorad Dodik für Instabilität, indem er ihm erlaubt, seine Sezessionspolitik fortzusetzen.

Im Kosovo dagegen provoziert man sich gegenseitig so lange, bis kein vertraglicher Fortschritt mehr möglich ist. Und das seit mehr als einem Jahrzehnt. Vučić als Provokateur legt oft ein kleines Feuer, von dem er weiß, dass es sich zu einem großen Brand ausweiten wird, und spielt dann den Feuerlöscher, der jeden Fortschritt verzögert, indem er alles tut, um den Westen zu beschwichtigen, abzulenken und Kooperation vorzutäuschen. Wichtige Waffenlieferungen an die Ukraine werden logistisch über Serbien abgewickelt, gemeinsame Militärübungen abgehalten. Vučić ist es gelungen – und das ist sein großes staatsmännisches Kunststück –, den Westen, vor allem Deutschland, davon abzulenken, dass nicht Serbien, sondern Deutschland die Macht hätte, eine Ordnung auf dem Balkan zu etablieren.
Weil Vučić dem Westen mit symbolischen Gesten entgegenkommt, glauben weite Teile des Westens, Serbien in Richtung einer Ordnung bewegen zu können, während Vučić diese Kooperation nutzt, um an der geopolitischen Substanz nichts zu ändern. Das Faszinierende an all dem ist, dass niemand Serbien seinen Status als mächtigster Staat und seinen Einfluss nehmen will. Es genießt die Dominanz, auch ohne sich in die territorialen Fragen seiner Nachbarn einzumischen und sich ihnen aufzuzwingen. Aber es will mehr, es will keine Partnerschaft, sondern die Vorherrschaft über seine Nachbarn. Hier setzen die unterschiedlichen Positionen des Westens an, die ihm die Lücke zur Aufrechterhaltung des fragilen Status quo verschaffen.
Für die USA ist der Balkan kaum von Bedeutung
Gegenwärtig üben die USA den dominantesten Einfluss auf die Ordnung im Balkans aus. Das Problem ist, dass der Balkan für die Amerikaner kaum von Bedeutung ist und sie sich auf die Ukraine und Taiwan konzentrieren müssen. Je mehr Zeit vergeht, desto mehr werden sich die USA aus dieser Region zurückziehen. Deshalb wollen die USA ihre Ressourcen und ihre ganze Macht nicht für eine geregelte Ordnung auf dem Balkan einsetzen. Darunter, dass die Ressourcen beschränkt sind, muss die Qualität ihrer Balkanpolitik zweifelsfrei leiden, weil es zwangsweise Lücken öffnet, die von Vučić ausgenutzt werden.
Das einzige Land, das eine Ordnung auf dem Balkan erzwingen und seine eigenen strategischen Interessen in der Region dauerhaft sichern könnte, ist Deutschland. Es ist der mit Abstand wichtigste Handelspartner Kroatiens, Bosniens und Serbiens und geografisch nur wenige Hundert Kilometer entfernt. Sowohl die wirtschaftlichen als auch die geografischen und militärischen Voraussetzungen wären gegeben, um eine territoriale Ordnung nach deutschen Vorstellungen zu gestalten. Warum das Zögern?

1. In Berlin mangelt es an kulturellem und historischem Wissen über diese Region. 2. Viele hohe Beamte glauben, dass eine Appeasement-Politik gegenüber Vučić besser sei, weil er der Garant für Stabilität in Serbien sei. Zu dieser Erkenntnis kann man nur kommen, wenn Punkt 1 fehlt. 3. In Berlin glaubt man, dass der Balkan kein zentraler Eckpfeiler der deutschen Außenpolitik ist. Das ist ein strategischer Fehler. Deutschland muss Osteuropa auf seine Seite ziehen, wenn es ein Übergewicht in Europa erreichen will, und dazu gehört der Balkan.
Angela Merkel, aber auch die Ampelkoalition, haben die Bedeutung des Balkans für Deutschland erkannt, aber dort zu wenig getan. Scholz hat mit Manuel Sarrazin von den Grünen einen Balkan-Beauftragten ernannt. Er plädiert für Dialog und Wirtschaftsförderung, was in den letzten zehn Jahren völlig gescheitert ist. Es braucht Macht, deutsche Macht, um dem Balkan eine Ordnung zu geben. Alles andere ist kurz-, mittel- und langfristig zum Scheitern verurteilt. Denn damit es zu einer europäischen Integration der Region kommen kann, auf die derzeit alle drängen, muss eine territoriale Ordnung vorausgehen und nicht umgekehrt, weil das historisch noch nie funktioniert hat. Das Einzige, was Berlin tun muss, ist, in die Gänge zu kommen und eine Strategie zu entwerfen, wie man dem Balkan eine Ordnung geben kann.
So könnte die deutsche Balkan-Strategie aussehen
Serbien ist der Schlüssel für die territoriale Ordnung auf dem Balkan mit seiner Fähigkeit, die Konflikte mit Kosovo und Bosnien zu eskalieren. Jede Strategie für den Balkan muss daher Serbien als wichtigsten Faktor berücksichtigen. Da Europa, insbesondere Deutschland, keine territorialen Verschiebungen mehr zulassen kann, muss Serbien diese Möglichkeit genommen werden. Mehrere Wege führen dort hin.
Zum einen ist es weise, wie von Kaiser Franz Joseph I. geplant, Kroatien, den zweitstärksten Staat auf dem Balkan, und Bosnien wirtschaftlich und geopolitisch miteinander zu verbinden. Das hätte zur Folge, dass Kroatien in Bosnien keine territorialen Ambitionen mehr hegen müsste und dass Kroatien und Bosnien genügend Macht hätten, um Serbien dauerhaft auf dem Balkan ausbalancieren zu können. Jedes Problem, das auf dem Weg dorthin auftauchen könnte, könnte Deutschland auf nationaler und vor allem auf europäischer Ebene mit wirtschaftlicher Hard Power aus dem Weg räumen.

Deutschland könnte bei Problemen Soldaten entsenden
Andererseits führt kein Weg daran vorbei, Serbien aktiv auszubalancieren. Belgrad muss begreifen, dass es keinen Raum mehr hat, westliche Staaten gegeneinander auszuspielen, Verträge und dadurch eine Ordnung auf den Sankt Nimmerleinstag zu verzögern und sich in territorialen Fragen auf dem Balkan in die Angelegenheiten anderer Länder einzumischen. Hier kann Deutschland, wann immer Dodik mit der Abspaltung Bosniens droht, deutsche Soldaten entsenden, um ein klares Signal der innerbosnischen Beruhigung zu setzen, aber auch um Dodik und Vučić klarzumachen, dass Berlin eine Veränderung des territorialen Status quo niemals akzeptieren wird. Begleitet von wirtschaftlichen Sanktionen auf nationaler und europäischer Ebene bliebe Belgrad nur das Einlenken, denn die Alternative wären die Zerstörung der heimischen Wirtschaft und innenpolitische Instabilität. Das Gleiche gilt für den Kosovo.




