Migration

Studie: Schafft Seenotrettung wirklich Anreize für Flucht über das Mittelmeer?

Einige Parteien behaupten immer wieder, Such- und Rettungsaktionen im Mittelmeer würden illegale Migration verstärken. Eine neue Studie widerlegt die These.

Geflüchtete im Mittelmeer werden von Helfern der spanischen Nichtregierungsorganisation Open Arms in Empfang genommen.
Geflüchtete im Mittelmeer werden von Helfern der spanischen Nichtregierungsorganisation Open Arms in Empfang genommen.Joan Mateu Parra/AP

Die Seenotrettung geflüchteter Menschen im Mittelmeer hat einer Studie zufolge keinen Einfluss auf die Zahl der Überquerungsversuche – einen sogenannten „Pull-Effekt“ gibt es demnach nicht. Kritiker behaupten immer wieder, private und öffentliche Rettungsmissionen würden einen Anreiz für weitere Menschen schaffen, die lebensgefährliche Reise über das Mittelmeer auf sich zu nehmen. „Wir finden allerdings keine Hinweise darauf, dass Such- und Rettungsaktionen ein Treiber für irreguläre Migration sind“, heißt es in der am Donnerstag im Fachblatt Scientific Reports veröffentlichten Studie.

Ein internationales Forscherteam um Alejandra Rodriguez Sanchez von der Universität Potsdam hat im Rahmen der Untersuchung eine riesige Datenmenge zu Migrationsbewegungen im Mittelmeer ausgewertet. Die Informationen aus dem Zeitraum von 2011 bis 2020 stammten unter anderem von der Europäischen Grenzschutz-Agentur Frontex, der tunesischen und libyschen Küstenwache und der Internationalen Organisation für Migration (IOM). Mit Hilfe dieser Daten führten die Forscher anschließend mehrere Computer-Simulationen durch, um den Einfluss verschiedener Faktoren auf die Anzahl an Überquerungsversuchen zu messen.

Entstanden ist die Studie in Zusammenarbeit mit dem Deutschen Zentrum für Integrations- und Migrationsforschung (Dezim).

Migration über das Mittelmeer: Es gibt andere Gründe

Laut Angaben der UN-Flüchtlingshilfe sind seit Anfang 2023 mehr als 57.000 Menschen über das Mittelmeer nach Europa gekommen. Allein in den ersten Monaten des Jahres seien dabei 983 Menschen ums Leben gekommen oder gelten derzeit als vermisst. Such- und Rettungsaktionen von Organisation wie Sea-Watch oder SOS Humanity treiben diese Zahlen der Studie zufolge nicht in die Höhe. Doch es gibt offenbar andere Gründe.

„Die Zahl der Grenzübertritte scheint vielmehr durch Veränderungen der Konfliktintensität, der Rohstoffpreise und Naturkatastrophen sowie durch Wetterbedingungen, Währungsumtausch und Luftverkehr zwischen den Ländern Nordafrikas, des Nahen Ostens und der EU gelenkt worden zu sein“, heißt es in einer Mitteilung vom Donnerstag.

Forscher: Theorie vom Pull-Effekt „wissenschaftlich unhaltbar“

Der Begriff der Pull-Faktoren kommt ursprünglich aus der Soziologie und geht auf das Push-Pull-Modell der Migration des US-Forschers Everett S. Lee zurück. Darin werden verschiedene Anreize beschrieben, warum Menschen aus einem Gebiet wegziehen oder sich bewusst für ein anderes entscheiden. Durch die andauernde Migrationskrise entwickelte sich die vormals wertneutrale – und inzwischen als veraltet geltende – Theorie in den letzten Jahren zum oft genutzten Argument vor allem rechts-populistischer Parteien.

Der ehemalige AfD-Bundessprecher Alexander Gauland erklärte 2019 etwa, Geflüchtete würden die Rettungsmissionen im Mittelmeer als „Wassertaxis“ nach Europa benutzen. Zivile Seenotretter müssten daher als „humanitäre Schleuser“ angesehen von der EU verboten werden.

In einem aktuellen Leitantrag der AfD zum anlaufenden Europa-Wahlkampf heißt es, die Migrationspolitik der Bundesregierung habe die „Magnetwirkung Deutschlands“ für illegale Migration weiter verstärkt. Auch andere rechts-nationale Parteien und Politiker wie die italienische Ministerpräsidentin Giorgia Meloni pochen immer wieder auf die Eindämmung angeblicher Pull-Faktoren, einschließlich der Seenotrettung im Mittelmeer.

Laut den Ergebnissen der nun veröffentlichten Studie gibt es für solche Aussagen keine Belege. „Konkret zeigen unsere Ergebnisse, dass die These des ‚Pull-Effekts‘ durch Seenotrettung im Mittelmeer wissenschaftlich unhaltbar ist“, sagte Rodriguez von der Universität Potsdam am Donnerstag. Ramona Rischke, Co-Leiterin der Abteilung Migration am Dezim, forderte angesichts der eindeutigen Ergebnisse auch eine Anpassung der Gesetzgebung. „Wenn (...) es für Thesen wie die ‚Sogwirkung‘ der Seenotrettung keine Datengrundlage gibt, muss das auch politische Konsequenzen haben“, so Rischke.