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Doppelmoral: Wenn das Leben eines Millionärs mehr wert ist als das von 700 Migranten

Die ganze Welt verfolgt das Schicksal eines U-Bootes. Unser Autor fragt sich: Warum erregten die vorige Woche im Mittelmeer ertrunkenen Migranten nicht die gleiche Aufmerksamkeit?

Migranten sitzen in einem Holzboot südlich der italienischen Insel Lampedusa auf dem Mittelmeer. 
Migranten sitzen in einem Holzboot südlich der italienischen Insel Lampedusa auf dem Mittelmeer. Francisco Seco/AP

Schon bei der Rettung des einzelnen Forschers aus der Höhle mit dem bemerkenswerten Namen „Riesending“ zwischen Bad Reichenhall und Salzburg im Jahr 2014 hat es unerträgliche Stimmen gegeben, die sich über die Kosten und den Aufwand echauffiert haben. Die Rettung Johann Westhauser, die mehrere Tage dauerte, hat laut Angaben des bayerischen Innenministeriums 960.000 Euro gekostet. Fast alle Helfer haben ehrenamtlich gerettet und es dürften weitere Kosten angefallen sein, die uns unbekannt sind. Ist es eine ethische oder eine unmoralische Frage, was ein Leben wert ist?

Vor einer Woche ist im griechischen Mittelmeer ein völlig überladendes Boot mit vermutlich über 700 Flüchtlingen gesunken. Bis heute weiß man nicht genau, wie viele Menschen ertrunken sind. Aber rechnen wir doch mal: 700 mal 960.000 Euro sind 672.000.000 Euro!

In den vergangenen Tagen rückte die Presse ein Ereignis ins Zentrum der Spannungsberichterstattung. „U-Boot-Krimi“ – so nennen es die Redakteure des Bild-Online Livetickers. Eine große Rettungs- und Suchaktion ist in Bewegung gesetzt worden, Ressourcen spielen offenbar keine Rolle: Ein französisches Forschungsschiff mit Tauchroboter, genauso ein kanadisches mit Dekompressionskammer und Einheiten der US Navy sind ausgerückt, die US-Küstenwache fliegt alles ab und auch die kanadische Marine ist unterwegs. Fünf Männern, die es sich jeweils – so ist es der Presse zu entnehmen – 250.000 Dollar kosten haben lassen, in einem kleinen U-Boot in über 3000 Meter Tiefe zum Wrack der Titanic abzutauchen, droht nun die Luft auszugehen. Sie werden vermutlich einen qualvollen Tod erleiden. Genauso wie viele Hundert Flüchtlinge im Mittelmeer. Weder die türkische Luftwaffe noch die griechische Marine haben eine Rettungsaktion unternommen. Sind wenigstens ein paar Schiffe der Nato-Verbände mobilisiert worden? Alle Behörden weisen jede Verantwortung von sich und schieben die Schuld auf die Schieber. Wo sind französische Forschungsschiffe, die vielleicht helfen könnten, die sterblichen Überreste zu bergen?

Ich weiß nicht, wie viel am Ende der Rettungsversuch an der nordamerikanischen Küste kosten und wer diese Kosten tragen wird. Dass das einige Millionen kosten wird, ist bei dem Aufwand zu vermuten.

Die Besatzung der „Sea-Watch 3“ verteilt Rettungswesten an Menschen in einem Schlauchboot, mit dem sie versuchten, nach Europa zu gelangen. 
Die Besatzung der „Sea-Watch 3“ verteilt Rettungswesten an Menschen in einem Schlauchboot, mit dem sie versuchten, nach Europa zu gelangen. Nora Boerding/Sea Watch

Da sind halt ein paar Flüchtlinge abgesoffen! Die Empörung darüber unter uns – man kann noch nicht mal das Wort Empörung oder auch Erschütterung sagen – hält sich in Grenzen. Über eine Rettungsaktion für Millionäre, die unbedingt die versunkenen Reste der Titanic sehen wollten und die Biografien derer, die dafür ein gewisses Risiko eingegangenen sind, werde detailliert recherchiert. Freunde der in dem U-Boot gefangenen werden interviewt. Würde man einer der verlogenen, opportunistischen Redakteure der Spannungsberichterstattung nach den Namen von wenigstens zwanzig ertrunkenen Flüchtlinge fragen, ich wette, dass niemand einen einzigen Namen kennt. Geschweige denn, dass jemand wirklich etwas über die Herkunft dieser Menschen weiß, die in der Abwägung ihrer Not das Risiko eingegangen sind, auf Schlepper zu setzen und dabei ihr Leben verloren haben. Wo ist der Sensationsreporter, der im Geburtsort eines Ertrunkenen ein bewegendes Interview mit der trauernden Mutter führt?

Seit 2014 sind – laut Sea-Watch – 27.000 (!) Menschen im Mittelmeer ertrunken! Am 11. Mai 2023 hat der Papst zum Welttag des Migranten- Und Flüchtlings unter anderem Folgendes gesagt: „Da erschien dem Josef im Traum ein Engel des Herrn und sagte: Steh auf, nimm das Kind und seine Mutter und flieh nach Ägypten; dort bleibe, bis ich dir etwas anderes auftrage; denn Herodes wird das Kind suchen, um es zu töten“ (MT 2,13). Die Flucht der Heiligen Familie nach Ägypten ist nicht das Ergebnis einer freien Entscheidung, so wie viele der Wanderungen, die die Geschichte des Volkes Israel gekennzeichnet haben, nicht freiwillig waren. Migration sollte immer eine freie Entscheidung sein, aber in vielen Fällen ist sie das heute noch nicht. Konflikte, Naturkatastrophen und ganz einfach die Unmöglichkeit, in der Heimat ein würdiges und gedeihliches Leben zu führen, zwingen Millionen von Menschen zum Weggehen!“

Stellen wir uns mal vor, Josef wäre auf seinem Weg nach Ägypten gekentert oder nicht aufgenommen worden, dann hätten wir Christen womöglich kein Weihnachten zu feiern. Wir wären wahrscheinlich gar nicht Christen!

672.000.000 Euro sind unvorstellbar viel Geld. Man kann Menschen dadurch retten, indem sie in ihrer Not keine Entscheidung treffen müssen, das Risiko einer Überfahrt in brüchigen Booten über das Mittelmeer einzugehen. Ein Menschenleben, ganz gleich welcher Herkunft, ist unbezahlbar! Auch das von bescheuerten Millionären.


Alexander van Dülmen ist seit 1990 in der Filmbranche tätig. 1997 hat er den Film „Knockin’ On Heaven’s Door“ mit Til Schweiger unter anderem auf das Moskauer Filmfestival gebracht. Seit dieser Zeit hat er ununterbrochen Filme in Russland, der Ukraine und allen anderen GUS-Staaten ausgewertet. Von 2003 bis 2015 war er Vorstand des Unternehmens A-Company Filmed Entertainment, das ein großes Filmvertriebs- und Verleihnetzwerk in Osteuropa betreibt. Seit 2006 hat das Unternehmen verschiedene Tochtergesellschaften in Russland betrieben. Heute ist van Dülmen vor allem Produzent. Er hat unter anderen den ARD-Film „Die Getriebenen“ auf der Basis des Sachbuchs von Robin Alexander produziert. Der letzte Film, der im September vergangenen Jahres ins Kino kam, hieß „Ein nasser Hund“ und erzählt die Geschichte eines jüdischen Jugendlichen, der in Wedding unter Arabern, Türken und Kurden aufwuchs.


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