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DDR-Kindheit: Wie das Spiel „Pflicht oder Wahrheit“ in mir Erinnerungen weckte

Ein Spiel mit ihrer Tochter erinnert unsere Autorin an ihre Zeit im Kinder- und Jugendtanzensemble der Nationalen Volksarmee.

Nationales Jugendfestival im Stadion der Weltjugend in Ost-Berlin, 1979.
Nationales Jugendfestival im Stadion der Weltjugend in Ost-Berlin, 1979.imago images

Wenn wir unterwegs sind und unsere Jüngste sich langweilt, schlüpfen wir manchmal für sie in die Rolle von Schulfreundinnen und lassen uns Aufgaben erteilen. Ein bei italienischen Kindern beliebtes Spiel heißt „Obbligo o verità“, was so viel bedeutet wie „Pflicht oder Wahrheit“. Der Spieler darf sich aussuchen, ob er sich zu einer Sache verpflichtet oder auf eine Frage mit einer ehrlichen Antwort reagiert. Dazu gibt es eine Liste mit Dingen, die man tun, und Fragen, die man beantworten muss.

Da ich in aller Öffentlichkeit nicht riskieren will, zehn Liegestütze zu machen oder auf einem Bein hüpfend die italienische Nationalhymne zu pfeifen, entscheide ich mich in der Regel für „Wahrheit“. So stellte mir meine Tochter kürzlich folgende Frage: „Ist es dir mal passiert, dass eine Sache deine Schuld war und du es nicht zugegeben hast?“ Um vor meinen Kindern bei einer derart heiklen Angelegenheit nicht in die Bredouille zu kommen, erzähle ich von früher. Eine Schuld nicht eingestanden zu haben, ist leichter zu verzeihen, wenn ich von einer Situation erzähle, in der ich selbst noch ein Kind war.

Staatsratsvorsitzender Erich Honecker (re.), Michail Gorbatschow (Mitte) und Willi Stoph (li., SED/Vorsitzender Ministerrat) anlässlich des 11. Parteitages der SED
Staatsratsvorsitzender Erich Honecker (re.), Michail Gorbatschow (Mitte) und Willi Stoph (li., SED/Vorsitzender Ministerrat) anlässlich des 11. Parteitages der SEDimago images

Erinnerung an DDR-Zeiten

Also hole ich wieder einmal eine Erinnerung aus DDR-Zeiten hervor. Dabei bin ich mir bewusst, dass diese Geschichten in den Ohren meiner Töchter ‒ ich habe zwei und beide sind in Italien geboren, wo wir leben ‒ zuweilen wie Grimms Märchen klingen müssen.

Diesmal berichte ich von einem hochoffiziellen Anlass. Im April 1986 fand im Palast der Republik in Berlin, der Hauptstadt der DDR, der XI. Parteitag der SED statt. Ich war dabei, als unser Kinder- und Jugendtanzensemble der Nationalen Volksarmee Strausberg vor den Delegierten und Gästen aus den sozialistischen Bruderstaaten einen Tanz aufführen durfte.

Wir überbrachten einen Gruß der Jung- und Thälmannpioniere, so hieß es offiziell. Dazu tanzten wir unter anderem vor Erich Honecker und Michail Gorbatschow. Der Name Honecker sagt meinen Kindern nichts, aber von Gorbatschow, dem im vergangenen Jahr verstorbenen letzten Staatspräsidenten der Sowjetunion, haben sie im italienischen Fernsehen oder Radio schon gehört. Deshalb verstehen sie, dass bei aller tänzerischen Routine eine gewisse Aufregung im Spiel war.

Erschwerend kam hinzu, dass wir nicht auf einer Bühne gegenüber dem Publikum, sondern mitten im Saal auftraten. Als wir anschließend wieder draußen auf dem Marx-Engels-Platz standen, werteten wir den Auftritt aus. Alle diskutierten aufgeregt, warum uns ein kleiner Fehler in der Choreografie unterlaufen war. Ein Kreis, der hätte geschlossen werden sollen, war offen geblieben. Damals schwieg ich und tat so, als wüsste ich nicht, wovon die anderen reden. Denn sie kamen nicht auf die Schuldige. Heute gestehe ich meiner Tochter: Ich war es gewesen, die den Kreis nicht geschlossen hatte.

Vermutlich hatten den Patzer nur die anderen Tänzerinnen, aber keiner der Zuschauenden bemerkt. Auf den Bildern, die heute nach fast 40 Jahren im Internet kursieren, sieht man einen perfekt geschlossenen Kreis tanzender Mädchen in Pionierkleidung. Ich war damals 14 und trug im wahren Leben schon das FDJ-Hemd.

Andere Tänzerinnen waren sogar ein oder zwei Jahre älter als ich und genierten sich ein bisschen, mit einem Pionierhalstuch aufzutreten. Ihres Alters, nicht der Ideologie wegen.

Großkundgebung auf dem Schlossplatz anlässlich des 11. Parteitages der SED.
Großkundgebung auf dem Schlossplatz anlässlich des 11. Parteitages der SED.imago images

Eine anspruchsvolle Ausbildung

Als Tanzensemble der Nationalen Volksarmee hatten wir einen kulturpolitischen Auftrag und neben klassischen und modernen Tänzen auch immer Choreografien im Programm, die die Nähe zum Staat und den Streitkräften betonten. „He he he he, wir gehen zur Volksarmee. Den Frieden zu schützen, der Heimat zu nützen …“, so hieß es im Refrain eines Kinderliedes, zu dem wir tanzten.

Ich war selbst Tochter eines Offiziers der NVA und fand nichts Befremdliches an diesen Liedern und Gedichten. Wenn ich heute an meine Zeit als junge Tänzerin zurückdenke, schätze ich all die Erlebnisse und Erfahrungen sehr, die mir das Ensemble ermöglicht hat. Die anspruchsvolle Ausbildung mit dreimal wöchentlichem Training war kostenlos.

In Westdeutschland war und ist alles nicht nur eine Frage des Talents, sondern des Geldes, das Eltern aufbringen können, um ihre Kinder zu fördern. Sicher spielten im Osten irgendwann auch Beziehungen und Parteizugehörigkeit eine Rolle, zumindest konnten sie nicht schaden. Aber sie waren nicht Voraussetzung, um seinen Leidenschaften nachzugehen. Wenn die Talentsucher für sportliche oder künstlerische Aktivitäten in die Kindergärten und Grundschulen gingen, hatte jeder eine Chance.

Auch in unserem Tanzensemble der NVA war ‒ entgegen naheliegender Vermutung ‒ die Mitgliedschaft in der Partei oder Zugehörigkeit der Eltern zu den Streitkräften keine Voraussetzung, um in den Genuss des Ballettunterrichts und all der wunderbaren gemeinsamen Erlebnisse zu kommen.

Ich weiß noch genau, wie ich die schicken Westklamotten einer meiner Tanzpartnerinnen bewunderte. Das Mädchen kam definitiv nicht aus staatsnahen Gefilden. Dem Tanzensemble verdanke ich auch meine erste Flugreise. Mitte der 80er-Jahre fand im bulgarischen Varna ein internationales Folklorefestival statt, bei dem wir unser Land vertreten durften.

Sowjetische Tanzdarbietung zum Freundschaftstreffen der Jugend der DDR und der UdSSR in Karl Marx Stadt, 1980
Sowjetische Tanzdarbietung zum Freundschaftstreffen der Jugend der DDR und der UdSSR in Karl Marx Stadt, 1980imago images

Wettbewerbe im Ausland

Die durchwachten Nächte in der Unterkunft waren besonders aufregend, und dabei kamen wir manchmal mit Teilnehmern aus nichtsozialistischen Ländern in Kontakt. Wir unterhielten uns auf Englisch mit griechischen Kindern. Es war uns allerdings streng untersagt worden, die Adressen für einen Briefwechsel auszutauschen.

Mit den bulgarischen Kindern durften wir das, und ich erinnere mich daran, wie ich einige Monate später sogar ein Päckchen bekam. Leider war es geöffnet und der kleinen Trachtenpuppe war der Kopf abgetrennt worden. Was hatte man darin gesucht? Ich war tieftraurig und weiß bis heute nicht, welche Erklärung mir meine Eltern dazu gaben. Vermutlich hatten sie auch keine.

Aus dem kapitalistischen Ausland hätten Drogen oder Abhörgeräte eingeschmuggelt werden können, so glaubten wir vielleicht. Aber aus Bulgarien? Hinter den Kulissen dieses Staates ging einiges mit fragwürdigen Dingen zu, so viel war klar. Aber vorne auf der Bühne, in unserem Leben, da waren wir Kinder unbeschwert und voller Elan und hatten keine Angst, mal etwas falsch zu machen. Denn das kam vor und passierte auch den Großen.

Ich erinnere mich an einen weiteren Auftritt, bei dem ich besonders aufgeregt war. Auch hier unterlief mir ein Missgeschick. Wir tanzten vor Kollegen und Kolleginnen meines Vaters. Ich wusste, alle Blicke in seiner Zuschauerreihe waren auf mich gerichtet. „Das Mädchen, das links als Erste rauskommt, das ist meine Tochter“, hatte er seinen Sitznachbarn stolz zugeflüstert.

Ich kam tatsächlich links als Erste raus und vergaß im Übereifer, in der Eröffnungsdiagonale dem Mädchen von der rechten Seite den Vortritt zu gewähren. Wir knallten sprichwörtlich zusammen und fielen hin. Das tat weh, aber ich hatte gelernt: Wenn man hinfiel, musste man so schnell wie möglich aufstehen und weitertanzen. Und weiterlächeln, das war am allerwichtigsten. Also lächelte ich und scherte mich nicht um mein blutendes Knie.

Mein Vater war am Ende vielleicht noch stolzer auf mich, als wenn ich einen routiniert glatten Auftritt hingelegt hätte. Hinter der Bühne entschuldigte ich mich bei der anderen Tänzerin und sie sich bei mir, weil ich ein wenig zu schnell und sie zu langsam gewesen war. Wir lachten und knufften uns in die Seite, bekamen ein Pflaster auf die Knie und zogen uns schnell für den nächsten Tanz um.

In Norditalien, wo ich seit mehr als 20 Jahren lebe und eine Familie gegründet habe, suche ich vergeblich nach einem vergleichbaren Ensemble, in dem meine Töchter musizieren oder tanzen könnten. Auch ich selbst würde mich gern wieder kulturell betätigen, ob nun auf oder hinter der Bühne.

Volksfest zum Jahrestag der Deutschen Demokratischen Republik, 1983.
Volksfest zum Jahrestag der Deutschen Demokratischen Republik, 1983.imago images

Leider gibt es hier bei uns ‒ und womöglich ist es im heutigen Deutschland ähnlich ‒ nur sogenannte Tanz- oder Musikschulen, an denen man einen Kurs besucht und am Ende des Jahres eine einzige Aufführung vor den Eltern und Verwandten bestreitet. Das Resultat der bezahlten Kursteilnahme muss vorgeführt werden, und das war’s. Ein Gruppengefühl oder Teamgeist, wie es heute heißt, kommt dabei schwer zustande. Aber genau dieses Zusammengehörigkeitsgefühl war das Schönste an unserer Zeit im Tanzensemble.

Bis heute lache ich zuweilen mit einer Freundin von damals über Erinnerungen an gemeinsame Abenteuer im Trainingslager, auf und hinter der Bühne. Es gab solche Kulturgruppen in der DDR nicht nur bei der Armee, sondern landauf, landab bei volkseigenen Betrieben und an größeren Bildungseinrichtungen.

Für uns Kinder war es eine Chance auf kostenlose Förderung und Entfaltung unserer Talente. Es bestand keine Verpflichtung zu etwas, das wir oder unsere Eltern nicht guthießen. Wir taten, was wir liebten. Auch, wenn wir mal in Pionierkleidung auftreten mussten.

Hätte die Frage im Spiel unserer Tochter gelautet: „Bist du damals gegen deine Überzeugung Kompromisse eingegangen, um tun zu dürfen, was dir Freude macht?“, dann wäre Nein die ehrliche Antwort gewesen.

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