70 Jahre Kinderheim A. S. Makarenko

„Makarenko stand nur drauf“: Eine Jugend im früheren DDR-Kinderheim in Treptow

Rund 25.000 Jungen und Mädchen wuchsen einst im Berliner Kinderheim in der Königsheide auf. Manche suchen noch heute nach ihren Eltern. 

Neoklassizistische Gebäude unter hohen Bäumen: Sabrina Knüppel auf dem Gelände des früheren DDR-Vorzeigekinderheims in der Südostallee in Treptow. Heute leben hier wieder Mädchen und Jungen, aber mit ihren Eltern.
Neoklassizistische Gebäude unter hohen Bäumen: Sabrina Knüppel auf dem Gelände des früheren DDR-Vorzeigekinderheims in der Südostallee in Treptow. Heute leben hier wieder Mädchen und Jungen, aber mit ihren Eltern.Benjamin Pritzkuleit

Hinter dem Tor mit dem Eichhörnchen-Emblem tut sich eine fast unwirkliche Idylle auf – kaum zu glauben, dass der S-Bahnhof Schöneweide nur rund 600 Meter entfernt ist: Neoklassizistische Gebäude stehen in einem lichten Wald aus hohen Eichen und Kiefern. Sie erinnern an das Haus Zenner im Treptower Park. Hier und da sind Hängematten zwischen den Bäumen gespannt.

Alle Gebäude sind mit blau-rot-beigen Kratzmalereien geschmückt, sie zeigen fröhliche Kinder in allen Lebenslagen. Die Häuser liegen rechts und links an einer von Beeten gesäumten Straße. Sie führt vom Eingangstor mit dem Eichhörnchen auf ein imposantes Haus zu, vor dessen säulengeschmücktem Portal Figuren stehen. Es sieht ein bisschen aus wie eine Miniatur des Weimarer Nationaltheaters.

Eine Gruppe aus zwei Dutzend Menschen schlendert an diesem Nachmittag durch die denkmalgeschützte Anlage an der Südostallee in Johannisthal, einem Stadtteil von Treptow. Manche tragen Klapphocker in der Hand, die Führung wird zwei Stunden dauern, mindestens.

An die Häuser wurden vor ein paar Jahren Balkone angebaut. Die Bewohner der Erdgeschosse bekamen Terrassen. Auf einer ist ein Schild befestigt: „Raupe müsste man sein: Fressen – schlafen. Fressen – schlafen. Fressen – schlafen. Zack – schön“. So leicht möge das Leben hier sein, wünschen sich also die jetzigen Bewohner der Anlage. Aber es ist kein unbeschwerter Ort.

Heute Wohnpark, früher Vorzeige-Kinderheim der DDR

Der heutige Wohnpark war einst das Vorzeige-Kinderheim der DDR. Anfang der 1950er-Jahre begannen die Arbeiten für die 13 Gebäude – darunter eine Säuglingsstation, ein Ambulatorium, vier große Wohnhäuser und eben jene Schule, die wie ein Theater aussieht. Das Kinderheim war das zweitwichtigste Bauprojekt der jungen DDR, gleich nach der Karl-Marx-Allee, erzählt die Frau, die die Gruppe über das zwölf Hektar große Gelände führt.

Nicht zu wissen, warum sie ins Heim kamen, das ist für viele manchmal das Schlimmste.

Sabrina Knüppel, Vorsitzende des Vereins der Königsheider Eichhörnchen

Die Frau heißt Sabrina Knüppel und ist 42 Jahre alt. Sie steht dem Verein und der Stiftung vor, denen es zu verdanken ist, dass die geschichtsträchtige Anlage nicht vollends verfiel. Die beiden Organisationen trommelten nach 2008 Journalisten herbei, als die leer stehenden Häuser immer mehr verwahrlosten. Durch die Berichte wurde ein Würzburger Immobilienunternehmer aufmerksam, er kaufte das Gelände und ließ Wohnungen einbauen. Heute liegt das Hauptaugenmerk von Verein und Stiftung wieder auf dem Wohl und Wehe der früheren Heimkinder.

Ab Ende 1953 wuchsen hier Tausende Mädchen und Jungen ohne ihre Eltern auf, schätzungsweise 25.000 in vier Jahrzehnten. Anfangs waren es viele Kriegswaisen, später Kinder von Vätern und Müttern, die in den Westen gegangen waren. Daneben viele Mädchen und Jungen aus verwahrlosten Verhältnissen. Oder aus besonders privilegierten. Auch Diplomaten, SED-Funktionäre und Intellektuelle gaben ihren Nachwuchs hier ab – im Vertrauen darauf, dass ihre Söhne und Töchter hier besonders kompetent und im sozialistischen Sinne erzogen werden.

Erstes Jubiläum wird am Sonnabend gefeiert
Am 2. Dezember 1953 wurde das in 18 Monaten Bauzeit errichtete Kinderheim in der Königsheide bezogen. Der 70. Jahrestag der Eröffnung wird am 2. Dezember mit einem Empfang im Rathaus Johannisthal gefeiert.
Im Herbst 2018 nahm das Informations- und Begegnungszentrum (IBZ) Königsheide seine Arbeit auf. Die Anlaufstelle für frühere Heimkinder feiert ihr fünfjähriges Bestehen am 30. September. Das Fest mit  Kaffeetafel und Lichterumzug beginnt um 14 Uhr auf dem Gelände in der Südostallee 146 in Treptow. Zudem gibt  das Bundespolizeiorchester Berlin ein Benefiz-Konzert.
Anmeldungen für beide Veranstaltungen unter veranstaltung@ibz-koenigsheide.de

John Erpenbeck, der Sohn des Schriftstellerpaares Fritz Erpenbeck und Hedda Zinner, wuchs hier auf. Und Knut Strittmatter, ein Sohn aus der ersten Ehe des Nationalpreisträgers Erwin Strittmatter. Auch die Familie des ersten DDR-Ministerpräsidenten Otto Grotewohl soll ihren Nachwuchs hierher gegeben haben.

Die Besuchergruppe steht inzwischen vor dem Haus, in dem sich früher der Speisesaal befand. Sabrina Knüppel weist auf die Glasfenster hin, die Walter Womacka gestaltet hat, und erzählt dann, dass das Kinderheim ab 1968 den Namen des ukrainischen Pädagogen Anton Semjonowitsch Makarenko trug.

Auch in der ehemaligen Schule des Kinderheims befinden sich heute Mietwohnungen. Ein Würzburger Immobilienunternehmer hat das verwahrloste Gelände vor etwa sieben Jahren in einen Wohnpark umgewandelt.
Auch in der ehemaligen Schule des Kinderheims befinden sich heute Mietwohnungen. Ein Würzburger Immobilienunternehmer hat das verwahrloste Gelände vor etwa sieben Jahren in einen Wohnpark umgewandelt.Benjamin Pritzkuleit

„Makarenko stand nur drauf“, platzt es da aus einer Besucherin mit blondem Kurzhaarschnitt heraus. Sie ist um die 50, trägt Wandersandalen an ihren nackten Füßen und dazu eine Dreiviertel-Hose. „Wenn die etwas mehr auf Makarenko gehört hätten, dann wäre es mir hier besser gegangen.“ Einige aus der Gruppe gucken erstaunt. Vielleicht hat den Gefühlsausbruch der Anblick jenes Gebäudes neben dem früheren Speisehaus ausgelöst. „Haus 3, im Zimmer links von der Tür, da hab ich in den 80er-Jahren gewohnt“, erzählt die Besucherin aufgewühlt. Sabrina Knüppel ist nicht überrascht. Bei jeder zweiten, dritten Führung sind ehemalige Heimkinder dabei.

Warum bin ich ins Heim gekommen?

Manchmal melden sie sich vorher an, wie die blondhaarige Frau, die mit einer Freundin gekommen ist. Aber selbst wenn sie sich bei der Anmeldung nicht outen: Während des Rundgangs erkennt Sabrina Knüppel sie meistens trotzdem – anhand ihrer Wortmeldungen.

Und viele vereinbaren nach der Führung einen Beratungstermin bei ihr – genauer beim Informations- und Begegnungszentrum (IBZ) Königsheide. Diese Anlaufstelle betreiben Ehemaligen-Verein und Stiftung seit fünf Jahren. Das nur durch Spenden finanzierte, von Ehrenamtlichen geschulterte Zentrum hilft früheren Heimkindern etwa bei Recherchen nach den leiblichen Eltern und Geschwistern, unterstützt sie bei Anträgen auf Rehabilitation und versucht beispielsweise, Kontakte zu Freunden aus Kindertagen herzustellen. Mehr als 4000 ehemalige Insassen haben bislang den Kontakt zu dem Ehemaligen-Verein gesucht.

Infobox image
Das Eichhörnchen ist das Wappentier des früheren Kinderheims, hier am Eingangstor. Foto: Benjamin Pritzkuleit
Hilfe mit Rat und Tat
Beratung: Sprechstunden für Betroffene bietet das IBZ Königsheide immer donnerstags von 17 bis 19 Uhr. Um vorherige Anmeldung unter der Rufnummer  030/67951155 wird gebeten.

Führung: Der nächste öffentliche Rundgang findet statt am Sonnabend, 4. November, um 10.30 Uhr. Der Eintritt ist frei, Spenden sind willkommen.

Information: Das IBZ Königsheide hat sich der Aufbewahrung, Sammlung und Erfassung der Geschichte des ehemals größten Kinderheims der DDR sowie der Arbeit zum Themenkomplex Heimerziehung generell verschrieben.

Öffnungszeiten: Die Anlaufstelle hat geöffnet dienstags von 11 bis 15 Uhr, mittwochs von 10 bis 17 Uhr, donnerstags von 10 bis 19 Uhr und sonnabends von 10 bis 18 Uhr. Mehr Infos auf https://ibz-koenigsheide.de/

„Die Frage, die die meisten beschäftigt, ist: Warum bin ich ins Heim gekommen?“, sagt Sabrina Knüppel. Eine Frage, die zu DDR-Zeiten nicht erwünscht war. Und selbst wenn sie gestellt worden wäre: Auch das Personal wusste wenig über die Geschichte der einzelnen Kinder.

Auch heute lässt sich die Frage nach dem Warum nicht immer beantworten. Das IBZ Königsheide verfügt nur über einen Bruchteil der Akten. Manche Dokumente wurden nach 1989 vernichtet oder gingen in den Abwicklungswirren verloren. Andere Akten zogen mit den Mädchen und Jungen um, die zum Großteil nur zeitweise in der Königsheide lebten und von dort in andere Einrichtungen verlegt oder an Adoptiveltern vermittelt wurden.

Trotz der lückenhaften Aktenlage ist es in dem einen oder anderen Fall doch möglich, die Warum-Frage zu beantworten. Aber das macht es für Sabrina Knüppel nicht immer leicht. In einem Fall etwa rang sie lange mit sich, ob sie der Fragestellerin die Wahrheit zumuten sollte: Sie war ins Heim gekommen, nachdem der Vater ihre Mutter umgebracht hatte.

Die Eingangsbereiche aller Wohngebäude des ehemaligen Kinderheims sind mit mehrfarbigen Wandbildern geschmückt. Die Kratzmalereien zeigen vergnügte Kinder in allen Lebenslagen.  
Die Eingangsbereiche aller Wohngebäude des ehemaligen Kinderheims sind mit mehrfarbigen Wandbildern geschmückt. Die Kratzmalereien zeigen vergnügte Kinder in allen Lebenslagen. Benjamin Pritzkuleit

Sabrina Knüppel hat es ihr dann doch erzählt. Natürlich war das ein Schock, flossen Tränen der Bestürzung. Aber letztlich sei die Frau erleichtert gewesen. „Es nicht zu wissen, ist für viele manchmal das Schlimmste“, sagt die Vereins-Vorsitzende. Und mitunter gebe es ja auch ein Happy End, gelänge es beispielsweise, durch die Recherchen das frühere Heimkind mit seiner Ursprungsfamilie in Kontakt zu bringen. Oder wenigstens die Adresse des Grabes der Eltern ausfindig zu machen.

Das IBZ Königsheide baut seit einigen Jahren eine Datenbank auf, sie wächst kontinuierlich. Denn inzwischen vermachten einige frühere Erzieherinnen, Lehrer und Verwaltungskräfte ihre Nachlässe dem Verein. Ihre Fotos und Dokumente ergänzen die Datenbank und sind im besten Fall ein Puzzlestein, der diesem oder jenem Betroffenen weiterhilft. Auch die Angaben der früheren Bewohner, die sich hilfesuchend an ihre alte Adresse wenden, werden systematisch mit einem eigens entwickelten Fragebogen erfasst. Dabei kommt dem Verein zugute, dass Sabrina Knüppel sich mit Verwaltung auskennt. Die Berlinerin ist Verwaltungsfachwirtin, arbeitete lange Zeit in Personalabteilungen und ist inzwischen Dozentin in der Bundesverwaltung.

Hier ein Dreirad, dort ein Schlitten, drüber die DDR-Verfassung

An diesem Nachmittag sitzt sie im früheren Jugendklub des ehemaligen Kinderheims. In dem einstöckigen Gebäude neben dem Pförtnerhäuschen am Eingang hat das IBZ seinen Sitz, hier betreibt es auch ein Ein-Raum-Museum. Die Sonne schafft es kaum, den prall gefüllten Raum zu erhellen. Puppen in Pionier-Uniform stehen in einer Ecke, von der Decke baumeln hier ein Dreirad, dort ein Schlitten, auf einem Regal steht die DDR-Verfassung. An der Wand hängt ein Bildschirm, auf dem man sich Ausschnitte der „Aktuellen Kamera“ und andere Beiträge des DDR-Fernsehens über das Kinderheim ansehen kann. Im Raum selbst muss sich der Besucher seinen Weg durch Transparente bahnen, die von der Decke hängen. Sie erzählen, wer dort eingewiesen wurde und wie der Alltag war.

„6.15 Uhr Wecken, der Größe nach antreten und Meldung erstatten. Gleich darauf Frühsport, Gymnastik oder Geländelauf, ganz egal, ob es draußen regnete, hagelte oder schneite. Nach dem Frühsport Waschen, Schrankbau, Bettenbau.“ Anschließend erneut im Flur antreten, schweigend im Gänsemarsch zum Frühstück. Und wehe, es fiel auf dem Weg dorthin ein Wort. Dann gab es Schweige-Übungsmärsche – „vom Tor zur Schule und zurück. Immer hin und her“.

In der Jugend gibt es immer vieles, an das man sich gern erinnert. So geht es mir auch in Bezug auf meine Zeit in der Königsheide – Freunde, Abenteuer usw. –, aber es war eben nicht alles schön. Und in einem Kinderheim, in dem so einige Hundert Kinder kasernenhaft untergebracht sind und in straffer Ordnung zu jungen DDR-Sozialisten erzogen werden sollen, wie soll da alles warm und gemütlich gewesen sein?

Klaus Kordon, Schriftsteller, lebte von Januar 1958 bis Sommer 1959 im Kinderheim

So beschreibt der Schriftsteller Klaus Kordon in seinem autobiografischen Roman „Krokodil im Nacken“ den Alltag. Kordon war 14, als er nach dem Tod seiner Mutter ins Heim in der Königsheide kam, er lebte dort von Januar 1958 bis zum Sommer 1959.

Der militärische Drill ist es, der dem Schriftsteller in Erinnerung geblieben ist. Wärme, Nähe, Gemütlichkeit habe es kaum gegeben in dem Heim, „in dem so einige Hundert Kinder in straffer Ordnung zu jungen DDR-Sozialisten erzogen werden“ sollten. Er wisse, dass inzwischen viele ehemalige Heiminsassen – darunter auch ehemals kritische Geister – eine gewisse Altersmilde entwickelt haben, sagt der jetzt 80-jährige Kordon. Die kasernenhafte Unterbringung, die verlangte militärische Disziplin erscheine ihnen plötzlich nicht mehr arg, sagt er, vielleicht weil im Rückblick die „Jugend immer irgendwie schön ist“. Er schaue da genauer hin, riskiere auch Diskussionen – wohl wissend, dass es den Kindern in den westdeutschen Heimen damals auch nicht immer gut ergangen ist.

Die Kratzmalereien, hier im Eingangsbereich des ehemaligen Kinderheims in der Südostallee, wurden vor wenigen Jahren restauriert.
Die Kratzmalereien, hier im Eingangsbereich des ehemaligen Kinderheims in der Südostallee, wurden vor wenigen Jahren restauriert.Benjamin Pritzkuleit

Neben „Krokodil im Nacken“ gibt es weitere Bücher, in denen die Zeit im – so der zeitweilige Name – Heimkombinat reflektiert wird. „Heimkind – Neger -Pionier“ stammt vom Tänzer und Choreografen Detlef Soost, 1970 in Pankow geboren und ab 1979 im Kinderheim. Soost erinnert sich an den durchorganisierten Tagesablauf, aber auch an „Einsamkeit, Fremdheit und Demütigung“. Besonders schlimm sei es an Feiertagen wie Weihnachten gewesen, schreibt der frühere Juror der ProSieben-Castingshow „Popstars“, da machte sich ein deprimierendes Gefühl breit: „Uns wollte keiner. Wir wurden nicht gebraucht. Wir gehörten zu niemanden.“

Interessanterweise ist anderen früheren Heimkindern gerade das Weihnachtsfest in guter Erinnerung. Sie begehen bis heute das Weihnachtsritual aus Kindertagen: Sie spazieren in der Dämmerung zum Sportplatzgelände, wo wie früher ein geschmückter Weihnachtsbaum wartet. „Das hier, der Verein, ist für viele so etwas wie eine Familie geworden“, sagt Sabrina Knüppel. „Eine andere haben sie oft nicht“, sagt sie.

Es gibt bis heute auch jährliche Ferienfahrten zu anderen Kinderheimen, etwa in Ungarn oder der Slowakei. Die zwei Dutzend im IBZ Königsheide engagierten Ehrenamtlichen kämpfen zudem um den Erhalt ihres früheren Feriendomizils in der Uckermark, weil sie schöne Erinnerungen daran haben. Davon kann man in der Buchreihe „Heimecho“ lesen, die der Ehemaligen-Verein herausgibt und dessen dritter Band nächstes Jahr erscheint. Positiv sind auch die Schilderungen im Buch „Mehr als ein Vater“, das aus Erinnerungen von Zeitzeugen an Günter Riese besteht, den ersten Direktor des Heims.

Die Heimleitungen seien prägend für das ganze Klima in der Anlage gewesen, sagt Sabrina Knüppel. Von den Direktoren hing ab, ob die einstigen Heimkinder heute mit guten oder schlechten Gefühlen an ihre Jahre in der Königsheide denken. Und auch vom Zeitpunkt und den Umständen ihrer Einweisung: Den Kriegswaisen, die zunächst allein in zerbombten Häusern campierten, kamen die Zimmer in der Königsheide wie ein Hotel vor. Anders empfanden es die Mädchen und Jungen, die zunächst wohlbehütet aufgewachsen waren und die ins Heim kamen, weil ihre Eltern etwa aus politischen Gründen inhaftiert wurden.

Der militärische Drill sei sicherlich auch der Größe des Heimes geschuldet gewesen, berichtet Sabrina Knüppel: 600 Kinder vom Säugling bis zum Fast-Erwachsenen lebten anfangs dort; es war das größte Kinderheim im deutschsprachigen Raum und das zweitgrößte im Ostblock. Doch Ende der 70er-Jahre erkannte man, dass die Größe ein Problem ist – und wandelte das Heim zum Hilfsschulheim mit weniger Plätzen um.

Ab Mitte der 1990er-Jahre ging es mit der Einrichtung bergab: Erst wurde es in ein Jugendzentrum umgewandelt, dann 1997 vom Senat geschlossen und 2008 schließlich vom Liegenschaftsfonds an einen russischen Investor verkauft. Der Käufer ließ das Areal über Jahre verwahrlosen.

Jugend in der Königsheide: Schöne Erinnerungen an den Spielmannszug

Zu diesem Zeitpunkt sei sie das erste Mal da gewesen, erzählt die blondhaarige Frau bei der Führung. Ihr Mann habe sich damals nicht getraut, in das abgesperrte Areal mit den baufälligen Häusern vorzudringen; aber bei ihr sei der Wunsch nach einem Wiedersehen so groß gewesen, dass sie es auch auf eine Begegnung mit der Sicherheitsfirma ankommen ließ.

Ihre Jugend in der Königsheide hat die Frau sehr beschäftigt: Viele Jahre habe sie ihre Traumata in einer Therapie bearbeitet, erzählt sie. Bei der Therapie hat sie die Freundin kennengelernt, die sie an diesem Tag begleitet. Auch sie ist hier aufgewachsen. Sie hat gute Erinnerungen an das Heim, etwa an das Musizieren im Spielmannszug, und schlechte: Nachts musste sie mitunter zur Strafe im dunklen Flur stehen, bis sie vor Müdigkeit umfiel.

Sabrina Knüppel im Museum des IBZ
Sabrina Knüppel im Museum des IBZBenjamin Pritzkuleit

Bei anderen ehemaligen Heimkindern war die Verbundenheit zum Ort ihrer Jugend so groß, dass sie hier gerne alt geworden wären, erzählt Sabrina Knüppel. Einige hätten sich die Musterwohnung des Wohnparks angesehen, aber letztlich sei keiner zum Zuge gekommen.

Knüppel selbst ist in Prenzlauer Berg, bei ihren Eltern und Großeltern, groß geworden. Sie kam erst nach der Wende zu dem Thema, das heute ihr Leben prägt. Damals bat eine Freundin sie um Hilfe. Ihre Kollegin, die im Kinderheim aufgewachsen war, suchte ihre Eltern. Es war die erste Recherche, die Sabrina Knüppel übernahm, viele weitere folgten.

Auch um die Lücken in der Biografie der blondhaarigen Besucherin wird sie sich kümmern. Es gebe Chancen, den Kontakt zu ihrer Lieblingserzieherin herzustellen, der sie viel zu verdanken hat. „Das könnte ein Highlight werden“, sagt Sabrina Knüppel; so wie der Fall vor zwei Jahren, als sie dafür sorgte, dass eine Familie sich nach 50 Jahren wieder in die Arme schließen konnte. „Dann weiß man wieder, wofür man das macht.“