Was für ein erschreckender Satz, dachte ich, als ich die Schlagzeile las. Er lautete: „Im Osten gibt es eine vererbte Brutalität“. Der Osten Deutschlands war gemeint, natürlich, die Schlagzeile stand über einem Interview im Tagesspiegel. Auch ein Newsletter, den ich von der Zeitung bekomme, trug diesen Satz als Betreffzeile. Damit ihn auch ja niemand verpasst. Breaking News.
Der Satz war aus einem Interview mit der Schriftstellerin Anne Rabe, die aus Wismar stammt, und deren erster Roman „Die Möglichkeit von Glück“ gerade für den Deutschen Buchpreis nominiert wurde. Rabe sagt im Interview, dass die DDR „aus der Gesellschaft des Nationalsozialismus“ kam. Direkt danach spricht sie von der „vererbten Brutalität“, die es bis heute im Osten gebe. Die habe sicher auch damit zu tun, dass viele Menschen weggegangen seien. Geblieben seien Menschen die „oft männlicher, älter, ängstlicher“ seien. Das ergebe ein anderes Gewaltpotenzial. „Und ich glaube schon, dass es eine Härte gibt in der Erziehung, im Umgang miteinander, ein traditionelleres Männlichkeitsbild.“ Was sie damit meine, wird sie gefragt. „Die Hand sitzt lockerer“, antwortet Rabe.
Rabe sagt auch, dass ihr viele Leute schreiben, die sich in ihren Schilderungen von gewaltsamer Erziehung im Osten wiederfinden. Die meisten meiner Freunde, die wie Anne Rabe und ich in der DDR geboren wurden, wurden zu Hause zum Glück nicht geschlagen. Aber ich kenne auch Familien, in denen es Gewalt gab. In der Generation meiner Mutter, die 1951 in der DDR geboren wurde, kam das noch häufiger vor. Ich hatte das für ein Phänomen der Zeit gehalten, im Osten wie im Westen erzog man Kinder früher härter, kälter. Auch die BRD kam aus dem Nationalsozialismus.
Kindheitstraumata: Im Osten seltener
Mit persönlichen Eindrücken kommt man aber nicht weiter, wenn man wissen will, wie es nun wirklich war im Osten, ob es in Familien brutaler zuging als im Westen – und bis heute zugeht. Zahlen wären gut. Fakten.
Zahlen zu häuslicher Gewalt gab es in der DDR offiziell nicht, das Problem durfte es ja nicht geben. Im Internet fand ich den Frauengesundheitsbericht der Bundesregierung von 1999, dort steht: „Eine Auswertung verschiedener Datenquellen deutet darauf hin, daß häusliche Gewalt in der DDR nicht weniger verbreitet war als in der Bundesrepublik.“
Es gibt die Studien des Sozialpsychologen Elmar Brähler, der in Leipzig forscht und festgestellt hat, dass Ostdeutsche seltener traumatisierende Erfahrungen in der Kindheit gemacht haben. Andere Forscher der Uni Leipzig haben Datensätze aus drei Befragungen ausgewertet, und nur danach geschaut, was Menschen, die bis 1980 geboren wurden, als Kinder erlebt haben. Auch hier kam heraus: Menschen, die in der DDR aufwuchsen, berichteten seltener von Gewalt. Eine repräsentative Studie, die erst in diesem Jahr erschien, und die Kristine Khachatryan von der Uni Mainz leitete, ergab, dass im Osten aufgewachsene Teilnehmer seltener von „schweren Körperstrafen“ und anderen Bestrafungen durch die Eltern in ihrer Kindheit berichten. Die Daten wurden 2020 erhoben.
2011 wurden 11.500 Menschen in ganz Deutschland nach ihrer Kindheit gefragt. Nur 52 Prozent sagten, sie seien ganz ohne Gewalt aufgewachsen. Nur gut die Hälfte! Der Kriminologe Christian Pfeiffer lobte in der Süddeutschen Zeitung aber den „Wandel der Erziehungskultur“. Noch 1992 hatten in einer ähnlichen Umfrage sogar nur 27 Prozent der Deutschen gesagt, dass sie komplett gewaltfrei erzogen wurden. Auch das „massive Schlagen“ von Kindern sei seit den 1980ern um die Hälfte zurückgegangen, schrieb Pfeiffer. Wie gesagt: In ganz Deutschland.
2012 stellte eine Forsa-Umfrage fest, dass 42 Prozent der Eltern in Westdeutschland ihren Kindern ab und an „einen Klaps auf den Po“ geben. Im Osten waren es nur 32 Prozent. Im Osten verteilten aber 14 Prozent der Eltern Ohrfeigen, im Westen nur neun Prozent. Das berichtete damals Spiegel Online. Im Bericht stand auch: „Ostdeutsche Eltern wurden der Studie zufolge in ihrer eigenen Kindheit seltener geschlagen als westdeutsche.“




