Osten

Die DDR, die Ostdeutschen und das Märchen von den Seelenschäden

Sind Ostdeutsche „chronisch seelenkrank“, wie Wolf Biermann behauptet? Eine Studie zeigt das Gegenteil. Warum wird die Legende trotzdem weiter behauptet? Eine Kolumne.

Der Lyriker und Liedermacher Wolf Biermann bei der Eröffnung einer ihm gewidmeten Ausstellung im Deutschen Historischen Museum.
Der Lyriker und Liedermacher Wolf Biermann bei der Eröffnung einer ihm gewidmeten Ausstellung im Deutschen Historischen Museum.Jens Kalaene/dpa

Es ärgert mich, dass ich mich ärgere. In Berlin hängen Plakate, die auf eine große Ausstellung hinweisen, die gerade begonnen hat und die Wolf Biermann gewidmet ist. Dem Dichter, Liedermacher, Dissidenten. Der aus dem Westen in die DDR übersiedelte, später nicht mehr in die DDR zurückdurfte, der ausgebürgert wurde, ein Mann, dessen Lebensgeschichte ich immer bewundert habe. Aber wenn ich die Plakate sehe, denke ich an ein Interview, das Biermann kurz vor der Eröffnung der Ausstellung dem Tagesspiegel gegeben hat.

Eigentlich denke ich vor allem an eine Passage aus diesem Interview. Biermann wird auf aktuelle Bücher angesprochen, die angeblich „die Diktatur weich zeichnen“. Vielleicht ist das Buch der Historikerin Katja Hoyer gemeint, ihre Geschichte der DDR, der dieser Vorwurf gemacht worden ist, obwohl sie das Land den schlimmsten Polizeistaat nennt, den man sich vorstellen kann. Vielleicht ist auch das Buch von Dirk Oschmann gemeint, in dem es gar nicht um die DDR geht. Vielleicht habe ich auch Bücher übersehen.

Jedenfalls antwortet Biermann, dass Leser dieser Bücher von „aggressivem Selbstmitleid“ getrieben werden. Er nennt Ostdeutsche „chronisch seelenkrank“, weil von zwei Diktaturen geprägt, er sagt: „Kaputte Häuser und Straßen kann man in 30 Jahren wieder aufbauen, kaputte Menschen dauern etwas länger.“ Kaputte Menschen. Von innen verrottet, nehme ich an. Eine normale Sanierung bringt da nichts. Der Interviewer widerspricht nicht. Es hat auch, soweit ich das beobachtet habe, sonst niemand öffentlich widersprochen, es gab keine Empörungswelle, keinen Shitstorm. Dirk Oschmann muss sich für sein Buch in jeder Diskussion seinen polemischen Ton vorwerfen lassen. Niemand regt sich über Biermanns Ton auf.

Kindheitstraumata: Im Osten seltener als im Westen

Seine Sätze passen schließlich auch in eine Geschichte, die seit Jahrzehnten über Menschen aus dem Osten erzählt wird. Also auch über mich, meine Familie, meine Freunde. Wir haben, anders als Westdeutsche, alle einen Diktaturschaden, den man nicht wegbekommt. Wenn wir das abstreiten, dann ist unser Schaden noch größer, weil wir dann auch noch unter Verdrängung leiden.

Ein paar Tage nachdem ich das Interview gelesen habe, habe ich mit dem Sozialpsychologen Elmar Brähler gesprochen. Es ging um die Frage, warum im Osten rechtsextreme Einstellungen weiter verbreitet sind als im Westen. Auch das wird ja gern mit ostdeutschen Seelenschäden erklärt.

Brähler, ein Professor aus dem Westen, sagte: „Wenn man Räume untersucht, die ähnliche Sozialstrukturen haben, fallen die Ost-West-Unterschiede weg.“ Und er erzählte von seiner Forschung zur psychischen Gesundheit. Bei Ostdeutschen seien die Grundlagen eher besser, sagte er. Es gebe dort weniger Kindheitstraumata als im Westen. Er habe das selbst erforscht.

Nach dem Interview schickte er seine Studien, zum Nachlesen. Die Untersuchung zu Kindheitstraumata ist im September erschienen. 3711 Westdeutsche und 1015 Ostdeutschen wurden befragt, im Durchschnitt knapp 50 Jahre alt. Heraus kam: Die Ostdeutschen hatten in der Kindheit seltener emotionalen Missbrauch, körperlichen Missbrauch, Vernachlässigung erlebt. Brähler und seine Co-Autoren vermuten als Gründe unter anderem die bessere Kinderbetreuung (mit einer Ausnahme, den Wochenkrippen), weniger strenge Erziehungsideale, das frühere Verbot der Prügelstrafe in Schulen. In der DDR wurde sie 1949 abgeschafft. In der BRD erst 1973. Vielleicht ist es an der Zeit, sich auch den Westen genauer anzugucken. 

Ich las die Studie und konnte kaum glauben, dass ich nie zuvor von ihr gehört hatte, dass sie nicht für Schlagzeilen sorgte, als sie erschien. Meinetwegen: kontrovers diskutiert wurde. Aber was sind Studienergebnisse schon gegen eine Geschichte, die man sich weiter erzählen will.