Im Klappentext des Romans „Gittersee“, der auf der Longlist für den Deutschen Buchpreis steht, heißt es über die Autorin Charlotte Gneuß, immer wieder nähere sie sich „schreibend der DDR, der Realität und der Utopie, in der ihre Eltern aufwuchsen, und die es heute nicht mehr gibt“. Dort steht auch, sie sei 1992 in Ludwigsburg geboren, einer Stadt nördlich von Stuttgart – im tiefen Westen also. Sie schreibt über eine Jugend in der DDR. „Darf sie das?“, begann ein Artikel in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung am Freitag.
Was sind das für Zeiten, in denen eine solche Frage gestellt wird? Es ist eine Zeit, da bereits mehrere Verlage Manuskripte einem „Sensitivity Reading“ unterziehen, um vor Veröffentlichung zu prüfen, ob sie einen Teil der Leserschaft verletzen könnten. Dabei geht um ein bestimmtes Vokabular etwa bei Darstellungen von Rassismus und um die Frage, wer in wessen Rolle schlüpft. Man kennt die Debatte um „kulturelle Aneignung“ inzwischen vom Theater und von Filmen. Das Thema ist heikel, weil es die Verletzlichkeit von gesellschaftlichen Gruppen gegen die Kunstfreiheit ausspielt.
Ingo Schulze findet Fehler in „Gittersee“
Der Roman von Charlotte Gneuß heißt nach dem Dresdener Stadtteil Gittersee, die Heldin Karin ist 1976, wenn der Roman spielt, 16 Jahre alt. Im Literaturbetrieb kursieren nun Fragen, ob eine westsozialisierte Autorin über eine Kindheit und Jugend im Osten schreiben dürfe, deutet Sandra Kegel, die Feuilletonchefin der FAZ, in ihrem Artikel an. „Gittersee“ wurde schon mehrfach positiv rezensiert und steht auf der Longlist für den Deutschen Buchpreis. Dagegen stehe nun eine „Mängelliste“, die der Jury für den Deutschen Buchpreis zugespielt wurde – kurz vor deren Sitzung zur Auswahl der nur noch sechs Titel zählenden Shortlist. Diese sechs Titel werden am Dienstag veröffentlicht. Am 16. Oktober wird der publikumswirksame Preis verleihen.
Erstellt wurde die Mängelsammlung, so heißt es, von Ingo Schulze. Er ist einer der prägenden deutschsprachigen Gegenwartsautoren; bereits dreimal war er für den Deutschen Buchpreis nominiert, zuletzt mit „Peter Holtz. Sein glückliches Leben, erzählt von ihm selbst“. Er ist auch jemand, der auf verzerrte Bilder über den Osten in den öffentlichen Debatten hinweist. Und: Ingo Schulze lebte zur Handlungszeit von „Gittersee“ in Dresden. Auf unsere Nachfrage versichert er, seine Einwände nur privat ausgedrückt zu haben. Er habe auf Bitten des Verlags das Buch gelesen und es so kommentiert: „So ein Debüt ist selten.“ Ein literarisches Urteil. Er habe außerdem „eine Liste geschrieben von Details“, zu denen er gesagt habe, „dass man das nicht in jedem Fall so lesen muss, aber kann“. Die Mängelliste liegt der FAZ vor, ein Jurymitglied arbeitet für die Redaktion. Ist die Liste wichtig für den Roman?
Ich muss mich kurz selbst ins Spiel bringen, weil ich zur Handlungszeit des Buches auch in der DDR lebte, in Rostock. Natürlich fallen mir auch Details ins Auge wie die Plastik- statt der Plastetüte. Die „pink gestreifte Frittenbude“ am Balaton wirkt fremd auf mich, Briefe beendete man damals nicht mit „liebe Grüße“ oder „herzlich“. Das Wort „Republikflucht“ wurde nur offiziell verwendet, wenn es der Stasi-Typ in „Gittersee“ gebraucht, passt das, aber nicht zu den Jugendlichen.
Mit dem Maßstab der Kunst
Gegen das Gewicht dieser historischen Fehler oder Unschärfen stehen die sprachliche Qualität und der erzählerische Atem der Autorin. Sie schreibt dichte Szenen, deren Atmosphäre sich beim Lesen überträgt, sie setzt glaubwürdig Familien und Freundeskreise zusammen, sie gestaltet das unangenehme Gefühl, dass einen als Schülerin im Direktorzimmer beschleichen konnte, und das gelangweilte, formelhafte Grüßen zu Unterrichtsbeginn oder beim Appell.
Oliver Vogel, der Verleger des S. Fischer Verlags, sagt, Ingo Schulze habe das Manuskript nicht zur Prüfung im Sinne eines Sensitivity Readings erhalten, sondern nur als Lektüre, weil die Autorin ihn sehr schätze. Mehrere seiner insgesamt 24 Anmerkungen seien für die Nachauflage des Buches berücksichtigt worden. Vogel kann sich nicht erklären, wie die „Mängelliste“ genannten Notizen ihren Weg zur Jury des Deutschen Buchpreises gefunden haben. Er sagt: „Wenn der Roman nicht auf die Shortlist kommt, gehe ich nicht davon aus, dass es an dieser Liste gelegen hat. Die Jury wird sich dann aus anderen Gründen für ihre Auswahl entschieden haben.“ Das heißt: Er will es kleinhalten, weder den Vorgang der Weitergabe der Informationen noch deren Beschreibung zum Skandal erklären.
Kommen wir zur provozierenden Frage „Darf sie das?“ zurück: Sandra Kegel verteidigt den Roman gegen den Vorwurf mangelnder Faktentreue als Kunstwerk, auch sie skandalisiert die Sache nicht, sondern deutet die Unruhe als Zeichen.
Mit dem Maßstab der Kunst, der inneren Wahrhaftigkeit, sollten sich die Leser und Jurorinnen diesem Roman nähern wie auch den anderen Büchern auf der Longlist, die sich mit dem Leben in der DDR beschäftigen. „Gittersee“ ist nicht das einzige. „Muna oder Die Hälfte des Lebens“ von Terézia Mora, 1971 im ungarischen Sopron geboren und 1990 nach Deutschland umgezogen, beginnt Ende der 80er-Jahre in einer DDR-Provinzstadt. Der Mann, in den sich die Heldin verliebt, arbeitet in einem Gymnasium. Das gab es dort jedoch nicht, sondern die Erweiterte Oberschule, EOS. Aber das ist für das Buch egal. Und Anne Rabe, 1986 in Wismar geboren, hat auch nicht selbst erlebt, wie die Eltern ihrer Erzählerin sich in den 70er-, 80er-Jahren an die Verhältnisse anpassten. Es ist die Generation der Figuren in dem Roman von Charlotte Gneuß – für die klingt mancher Vorwurf der jungen Erzählerin empfindlich scharf. An den Brauch einer sozialistischen Namensweihe, wie sie bei Rabe vorkommt, kann ich mich nicht erinnern. Aber das spricht nicht gegen den Roman.
Und dann ist da noch das Buch von Angelika Klüssendorf, „Risse“. Wie Ingo Schulze war diese Autorin zuvor dreimal für den Deutschen Buchpreis nominiert, mit den Büchern ihrer großartigen Trilogie, die 2011 mit „Das Mädchen“ begann. Parallelen zum Leben der 1958 geborenen, in Leipzig aufgewachsenen und 1985 in den Westen ausgereisten Autorin ließen sich erkennen. In einem dreieinhalbseitigen kursiv gesetzten Text zu Beginn von „Risse“ schreibt eine Icherzählerin von ihrem schwierigen Verhältnis zur Mutter und dass diese ihren Erzählungsband „Aus allen Himmeln“ als eine Sammlung von Lügen abqualifizierte.




