Ein Rätsel ist zu lösen. Es handelt von zwei Büchern. Das eine steht seit 28 Wochen auf den Bestsellerlisten, die zwölfte Auflage ist erschienen. Das andere, es ist etwas später herausgekommen, steht seit 17 Wochen auf den Bestsellerlisten, die sechste Auflage liegt in den deutschen Buchläden. Die Frage, über die gerätselt wird, lautet: Wieso nur sind diese beiden Bücher so erfolgreich?
Sie handeln vom Osten. Das eine erzählt die Geschichte der DDR, das andere vom Blick der Westdeutschen auf die Ostdeutschen seit der Wende. Vor allem aber: Beide Bücher sind vielfach kritisiert worden, in den Medien, den sozialen Netzwerken. Dirk Oschmanns Streitschrift „Der Osten: eine westdeutsche Erfindung“ wurde vorgeworfen, nichts Neues zu erzählen, das aber vollkommen undifferenziert. Katja Hoyers Sachbuch „Diesseits der Mauer – Eine neue Geschichte der DDR“ wurde vorgeworfen, die DDR zu verklären, die Auswirkungen des Systems auf den Alltag der Menschen nicht zu durchdringen, die Historikerin habe oberflächlich gearbeitet.
Und trotzdem kaufen die Leute, vor allem im Osten, die Bücher, lesen und verschenken sie, hören einfach nicht auf damit. Was ist nun schon wieder los mit den Ostdeutschen, lesen sie jetzt auch noch falsch?
Dirk Oschmann und Katja Hoyer sitzen am Montagabend auf der großen Bühne im Haus der Berliner Festspiele. Rechts und links von ihnen die Hörfunkjournalistin und Moderatorin des Abends, Natascha Freundel, und der Soziologe Steffen Mau. Sie sollen auf dem Internationalen Literaturfestival Berlin über „Innerdeutsche Perspektiven“ diskutieren. Der Saal ist zu drei Viertel gefüllt. Das Haus der Berliner Festspiele liegt tief in West-Berlin. Das ist vielleicht der „innerdeutsche“ Teil des Abends? Auf dem Podium jedenfalls wird die Ost-West-Frage wieder nur von vier Ostdeutschen besprochen.
Dirk Oschmann: „Nicht geschrieben, um Erfolg zu haben“
Die Ost-West-Frage ist in diesem Jahr die Hoyer-Oschmann-Frage, könnte man meinen. Also, warum dieser Erfolg?, will die Moderatorin gleich zu Beginn des Abends wissen. Katja Hoyer sagt, sie habe ihr Buch nicht für Deutschland geschrieben, sondern für den Rest der Welt, „für mich war der Bezug immer ein weiterer“. Dirk Oschmann sagt: „Ich habe das Buch nicht geschrieben, um Erfolg zu haben.“ Sondern weil etwas rausmusste, sich Wut angestaut hatte in ihm. Er zitiert Jan und Aleida Assmann, die Historiker, die davon ausgehen, dass sich alle 30 bis 40 Jahre die Erinnerungskultur verändert. Vielleicht sei der Zeitpunkt glücklich.
Bei vielen Lesern von Hoyer und Oschmann scheinen die Bücher nach Jahrzehnten etwas aufgebrochen zu haben. Beide Autoren erzählen von den Briefen, die sie und ihre Verlage seit Wochen bekommen. Aus dem Osten. Oft liegen ganze Lebensläufe bei. Auch bei Lesungen erzählen die Zuhörer von sich, von ihrem Leben.
Der Soziologe Steffen Mau, dessen Buch „Lütten Klein - Leben in der ostdeutschen Transformationsgesellschaft“ schon 2019 erschien, auch ein Bestseller war, aber kein so großer wie die Bücher von Oschmann und Hoyer, sagt: Sein Buch unternehme eben „eine Differenzierungsleistung“. Er spricht von einer Vereinfachung der Debatte durch Oschmann und Hoyer, er sei mit beiden Büchern „nicht so richtig glücklich“. Die Moderatorin zitiert den Historiker Ilko-Sascha Kowalczuk, der Oschmann und Hoyer sogar vorgehalten habe, den Diskurs zurückzuwerfen. So harsch würde er das nicht formulieren, sagt Mau. „Beide Bücher sind für mich erst mal ein Zeichen für irgendetwas.“ Vielleicht für das, was er auch oft bei Gesprächen im Osten höre: Die DDR war eine Diktatur, aber eben nicht nur, sagen die Leute. „Viele Ostdeutsche wollen das andere miterzählt wissen.“
„Dirk Hoyer“, sagt Mau einmal aus Versehen. Dann noch einmal „Herr Hoyer“. Später spricht auch die Moderatorin Dirk Oschmann als „Herrn Hoyer“ an. Wahrscheinlich ist auch das ein Zeichen für irgendetwas. Zwei Autoren, deren Bücher inhaltlich und stilistisch wenig verbindet, verschmelzen zu einer Debattenfigur. An der man sich abarbeiten kann.
Es wirkt an diesem Abend zunehmend, als würden Mau und Freundel, die außen sitzen, Katja Hoyer und Dirk Oschmann in die Zange nehmen. Vier Ostdeutsche streiten in West-Berlin. Oder, wie Mau selbst es später sagen wird: „Wenn ein inner-ostdeutscher Diskurs hochkocht, dann immer vor westdeutschem Publikum.“ Aber der Abend wäre langweilig, wenn sich alle vier einig wären.

Katja Hoyer: „Jeder sucht sich einen Halbsatz, der ihn stört“
Es geht um die Einseitigkeit von Oschmanns Buch. Ein Vorwurf, den der Autor schon Hunderte Male gehört und pariert hat, indem er sagt, er wollte ja ein einseitiges Buch schreiben. Etwas unter die Lupe nehmen. „Man sieht unter der Lupe bestimmte Dinge größer und näher, alles andere sieht man nicht“, sagt er. Immerhin habe er mit seinem undifferenzierten Buch offenbar zu einer differenzierten Debatte beigetragen. Dirk Oschmann ist fast ohne Pause auf Tour, seit das Buch erschienen ist, aber er ist noch in der Lage, sich ein bisschen in Rage zu reden. Er wirkt nicht cool, man merkt ihm immer noch an, dass ihm die Debatte nahegeht.
Die Kritik an Katja Hoyer ist härter, umfassender, auch im Haus der Berliner Festspiele. Natascha Freundel hält ihr einen Satz aus ihrem Buch vor: „In der Schule wurden die Kinder an praktische Arbeit herangeführt.“ Freundel, 1974 in Magdeburg geboren, erzählt von ihrem Unterricht in PA, produktiver Arbeit, der sinnlosen Schufterei in einem Werk, die zu den schlimmsten Erinnerungen an ihre Schulzeit gehöre.
Hat Katja Hoyer da etwas verklärt? „In Deutschland sucht sich jeder einen Halbsatz, der ihn stört“, aus ihrem Buch, sagt Hoyer. Aus mehr als 600 Seiten. Mit diesen Halbsätzen werde ihr dann eine Weichzeichnung der DDR vorgeworfen. Oder das Gegenteil. Steffen Mau steigt ein, wirft Hoyer vor, die DDR „ein Stück weit als Bildungsparadies“ zu beschreiben, als Land der Aufstiegsmobilität. Doch damit sei es nach den ersten zwanzig Jahren vorbei gewesen, das System erstarrt, es gab kein Recht auf freie Bildungs- und Berufswahl. Am Ende seien keine Arbeiter- und Bauernkinder mehr an den Universitäten gewesen. Das hätte Hoyer wissen können, wenn sie mehr Quellen studiert, sich mit Bildungsforschung befasst hätte. Dirk Oschmann sagt: „Der Zeitzeuge ist der größte Feind der Zeitgeschichte.“ Er nämlich habe als Arbeiter- und Bauernkind in der DDR studiert, wisse aber, wie viel Glück er gehabt habe.






