Die DDR war noch nicht lange Vergangenheit, da begann die Arbeit an deren Verschwinden. Nicht nur Mauer, Stasi und Staatspartei wurden demontiert, auch Leistungen und Biografien der Bürger. Wie das in den Jahren nach dem „Betritt zum Geltungsgebiet des Grundgesetzes“ ablaufen würde, erlebte der Architekt Wolf R. Eisentraut schon früh. Den Teilnehmern einer Tagung wusste der West-Berliner Senatsbaudirektor Hans Stimmann zuerst alles über DDR-Architektur zu erklären, um dann zu behaupten, in Ost-Berlin gebe es keine Architekten.
Millionen haben den Versuch, ihr Leben zu entwerten, so oder ähnlich erfahren – und blieben still. Die Überforderung inmitten der Transformation und Neuorientierung und des Neusortierens des Lebens führte damals dazu, dass die große Mehrheit selbst gegen gemeinste Zumutungen nicht protestierte.
Doch während jener Architekten-Tagung stand Professor Dr. Wolf R. Eisentraut auf und widersprach: „Doch, hier ist einer, und ich kann Ihnen locker mehrere Dutzend Namen guter Leute nennen.“ Man überhörte ihn, der Vortrag ging weiter. Die Marzahner Bürger, Nutznießer Eisentraut’scher Bauten, waren besser informiert als der Senatsbaudirektor: Sie erkannten den durch ihr Viertel spazierenden Eisentraut und riefen ihm zu: „Da kommt unser Architekt!“
Bittere Erlebnisse der Transformation
Szenen von Missachtung, von gönnerhaftem Gehabe westlicher Kollegen, die um die womöglich bald neu zu vergebenden Professorenstellen Ost herumschlichen, und schließlich die Erlebnisse mit ehemaligen Ostmitarbeitern, die nun einstige Kollegen diffamierten und sich so in der neuen Welt Karrierevorteile erhofften – all das erlebte Eisentraut reihenweise.

Der promovierte, habilitierte und vielfach ausgezeichnete Architekt, Schöpfer einzigartiger Bauten und Bauensembles wie des Marzahner Rathauses, des Marzahner Stadtzentrums mit Kino, Kaufhaus, Gaststätten, Kunstgalerie, Freizeitforum, der wunderbaren Seeterrassen am Fennpfuhl, der viel gepriesenen Schule für Körperbehinderte in Hellersdorf, Mitgestalter des Palastes der Republik, Professor an der Technischen Universität Dresden beschreibt sie in seinem jetzt vorgelegten biografischen Buch „Zweifach war des Bauens Lust. Architektur – Leben – Gesellschaft“. Natürlich machen die betrüblichen Nachwende-Erinnerungen nur einen Teil des Lebensberichtes aus. Neben seiner eigenen Geschichte erzählt Eisentrauts Buch auch Architekturgeschichte, vor allem die der DDR.
Er hat es in drei Teile gegliedert: Werden, Wirken, Weiterbauen. Der erste Teil berichtet aus dem Leben eines in recht bürgerlichen Verhältnissen (mit Meißner Porzellan) aufgewachsenen Jugendlichen, der in Plauen mit den Bauten seines Vaters, ebenfalls Architekt, bei den Mädchen Eindruck machen konnte. Eine Maurerausbildung nach dem Abitur sollte ihm ein Berufsleben lang dienlich sein.
Nach dem Studium in Dresden begann die Karriere sofort an bester Stelle – man hatte sein Talent früh entdeckt; Fleiß und Ehrgeiz schadeten nicht. Der Start im Experimentalbüro des bedeutendsten Architekten der frühen DDR, Hermann Henselmann, darf man sich höchst spannend und anspruchsvoll vorstellen. Hier wurden die meisten der in den 1970ern errichteten interessanten Solitärbauten der DDR entworfen, solche wie das Uni-Hochhaus in Leipzig oder der Jenaer Turm. Eisentraut war auch beteiligt an der Entwicklung der in den 1980ern nach dem Umsteuern der Politik auf Wohnungsbau massenhaft eingesetzten Wohnungsbauserie 90 (WBS 70).
Doch bevor er selber voll und ganz zum Gestalter ganzer neu zu bauender Stadtzentren wurde, kam er – als 29-Jähriger und Mitglied des Teams um Heinz Graffunder – zu der grandiosen Aufgabe, am Palast der Republik mitzuarbeiten. Dieses Kollektiv (nach Stimmann alles Nicht-Architekten) errichtete in Rekordzeit von 1973 bis 1976 das populärste DDR-Gebäude. Eisentraut verantwortete den Mittelteil samt Foyer, Eingangs- und Garderobenhalle, Bankettetage und Theater im Palast. Ein überdachter Stadtraum, Teil eines komplexen Gesamtwerkes, das Millionen DDR-Bürger in Beschlag nahmen, als Haus des Volkes akzeptierten und mit Freude nutzen.
Kaum war das vollbracht, wuchsen die Aufgaben weiter: Für die auf grüner Wiese entstehende Siedlung Marzahn war ein Zentrum zu bauen, das der Stadt Charakter, Halt und geselliges Leben verlieh. Da muss der Meister sich selber nicht loben, seine Arbeit wurde hoch wertgeschätzt von den Wichtigsten im Spiel: den Menschen in ihrem Alltag.
Der Buchtitel verrät es schon: Mit Lust und Leidenschaft für das Bauen, mit Verständnis für das elementare Bedürfnis der Menschen nach einem funktionalen und zugleich schönen Lebensumfeld ausgestattet, setzte sich der „Ost-Architekt“ auch unter West-Bedingungen durch. Je die Hälfte seines Berufslebens verbrachte er in dem einen wie dem anderen System.

Eine seiner vielen Erfahrungen besagt: „Es gibt weder kapitalistische noch sozialistische Architektur, sondern nur Architektur im Kapitalismus und im Sozialismus.“ Leicht variierend könnte man zusammenfassen: Es gibt nur gute und schlechte Architektur – wobei sich erstere dadurch auszeichnet, konsequent auf die Bedürfnisse der Menschen ausgerichtet zu sein, und die zweite im Wesentlichen aufs Geld.

Zum Architektenleben gehört offenbar auch die Erfahrung, dass jede gute Architektur mehrere Hauptfeinde hat: Gedankenfaules Beharren auf sturer Umsetzung einförmiger Typologie durch routinemäßiges Zusammensetzten der industriell vorgefertigten Bauteile, die immer wieder gegen Varianten, gegen die Individualisierung von Bauten vorgetragenen Argumente wie: „Das haben wir noch nie so gemacht“ bzw. „Wir machen das immer so und so“; überbordende, sinnferne Bürokratie; kurzsichtige Ahnungslosigkeit von Auftraggebern und politischen Entscheidern. Wie sich all das im Detail auswirkt, ist bei Eisentraut auf der Lesetour zu vielen Dutzend Baustellen in Ost und West zu erfahren – von Plauen bis Cuxhaven, vom Brocken bis zum Strand von Usedom.
Erstaunlich ist, wie gelassen Wolf R. Eisentraut, demnächst 80 Jahre alt, mit den sicherlich betrüblichsten Momenten seines Berufslebens umgeht, dem reihenweisen Abriss einiger seiner besten Bauten; genannt seien exemplarisch die Seeterrassen am Fennpfuhl mit ihrer gehobenen Gastronomie, das nur noch als Ruine existierende Kino Sojus in Marzahn und schließlich der Palast der Republik. Keine Verbitterung, keine Spur von Resignation angesichts des Abrisses Ost, aber die Feststellung: „Man hat gebaute Qualität ohne Not weggeworfen“, wie er 2020 im Interview mit der Berliner Zeitung sagte, und durch „üble Konfektion ersetzt“. Geschmerzt hat das schon.

Titel: Zweifach war des Bauens Lust. Architektur – Leben – Gesellschaft
Verlag: Lukas-Verlag für Kunst- und Geistesgeschichte, Berlin 2023
Umfang und Preis: 379 Seiten, 360 Abbildungen, 40 Euro
Das Buch ist weit mehr als die Lebenserinnerung eines Architekten, mehr auch als Bilanz eines ungewöhnlichen, auch ungewöhnlich erfolgreichen Baumeister- und Architekturlehrerlebens – es ist zugleich Architekturgeschichte und Gesellschaftsbetrachtung. Eisentraut war ein loyaler DDR-Bürger, der seine Eigenwilligkeit in seinen Arbeiten umsetzte und dabei nimmermüde für Individualität seiner Bauten stritt. Oft genug kann man den Eindruck gewinnen, die staatlichen Vorgaben im DDR-Bauwesen, die mit schrumpfenden Ressourcen immer enger wurden, hätten seine Kreativität nur beflügelt.

Auch später hat er seine beruflichen und ethischen Maximen beharrlich vertreten: schön, menschenfreundlich und qualitätvoll – bis zur Fliesenfuge – zu bauen. Mit Stil und im ewigen Kampf gegen schlechten Geschmack, Eintönigkeit und Schlamperei, gegen allzu technische Verödung und kalte Form.
Nehmen wir das Beispiel Rathaus Marzahn, eines der originellsten Gebäude aus DDR-Zeiten: Diesen Bau abzureißen, das hat man dann doch nicht gewagt. Das Haus steht inzwischen unter Denkmalschutz und hat einen Eintrag im Handbuch der Deutschen Bau- und Kunstdenkmäler Dehio. Dass es ein Plattenbau ist, sieht man ihm nicht an – und das macht das Großartige aus: Es zeigt, dass mit Fantasie, Baulust, Können und Respekt vor den Bedürfnissen der Bürger auch aus industriell vorgefertigten Elementen Gebäude von großer Individualität und hoher Funktionalität entstehen konnten.
Im vereinigten Deutschland arbeitete Wolf R. Eisentraut mit eigenem Büro an einer erstaunlichen Vielzahl von Projekten. Eines beeindruckt besonders, weil es weitsichtig die Frage des nachhaltigen Bauens in den Blick nahm. Es geht wieder um DDR-Plattenbauten. Als allenthalben in Ost-Städten die Abrisswut grassierte, machte Eisentraut gebaute Vorschläge, wie es auch anders gehen könnte.

Die im Buch präsentierten Fotos beeindrucken: Aus Plattenbauzeilen wurden zum Beispiel durch Abtragen der oberen Geschosse, durch Terrassierung der Typenbauten und durch Öffnen von Lücken in den „Wohnschlagen“ ganze Wohngebiete aufgelockert, sodass sie gewissermaßen die Anmutung von Gartenstädten erhielten. Aus abgenommenen Großplattenelementen ließ der Architekt in der Nähe schicke Einfamilienhäuser errichten. So rettet man Material, schont Ressourcen, vermeidet Energieverschwendung. Vor 30 Jahren war Eisentraut damit seiner Zeit voraus, das Verfahren machte (noch) nicht Schule. Dem Abriss folgten Wohnungs- und Schulmangel. Fachleute hatten gewarnt. Auch Eisentraut.






