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Aufstand in Russland: In der Ukraine war „in vielen Supermärkten Popcorn ausverkauft“

Jewgeni Prigoschin sorgte einen Tag lang für Hoffnung unter den Ukrainerinnen und Ukrainern. Manche fragen sich, ob alles nur Show war. Was bleibt, ist Ernüchterung.

Archivbild: Während eines Luftalarms verkauft eine Frau in den Straßen von Kiew Popcorn.
Archivbild: Während eines Luftalarms verkauft eine Frau in den Straßen von Kiew Popcorn.Mark Edward Harris/ZUMA Press Wire

Es waren gestern Stunden, in denen die Welt den Atem anhielt. Wagner-Chef Jewgeni Prigoschin, der in den vergangenen Jahren als eine Art militärische Feuerwehr die kriegerische „Drecksarbeit“ für Russlands Präsident Putin erledigte, marschierte mit seinen Truppen bis knapp 200 Kilometer vor Moskau, nahm zuvor Rostow am Don quasi ein. Russland, das seit 16 Monaten einen nicht nach Plan verlaufenden Angriffskrieg in der Ukraine führt, stand am Rande des Bürgerkriegs.

In der Ukraine selbst wurden die Aktivitäten jenseits der Grenze freilich mit Argusaugen beobachtet. Könnten sich die Wagner-Aktivitäten entscheidend auf den Krieg in der Ukraine auswirken? Ist es gar das Ende der Angriffe, bricht nun die Verteidigungslinie der Russen im Osten und besonders im Süden zusammen? Ist gar jenes Russland, wie man es heute noch kennt, bald Geschichte?

„Wir wohnen dem Treiben im Nachbarland bei, als würden wir im Kino sitzen“

Das Motiv, das sich durch die gesamte Ukraine seit Bekanntwerden der Wagner-Vorgänge zog, war jenes des Popcorn-Essens. Videos von ukrainischen Soldaten an der Front, die Popcorn lachend aus ihren Magazinen und Panzern konsumierten, gingen schnell viral. Entsprechende Emoticons wurden via WhatsApp und Social-Media-Apps versendet und weithin in sämtlichen Bevölkerungsgruppen verstanden – die Botschaft: „Wir lehnen uns zurück und wohnen dem Treiben im Nachbarland bei, als würden wir im Kino sitzen.“

Das bestätigt auch Karina Beigelzimer, Lehrerin und Journalistin aus Odessa. „Als die ersten Meldungen über die Vorgänge die Ukraine erreichten, war das für uns ziemlich überraschend – viele haben gesagt, es sei wie ein Film. Bei uns steht das Popcorn als Synonym für das Kinogehen und viele Menschen haben hier tatsächlich Popcorn gekauft, sodass es in vielen Supermärkten sogar ausverkauft war.“ Auf der einen Seite sei dies natürlich scherzhaft gemeint gewesen, auf der anderen war und ist wirklich das ganze Land gespannt auf die nächsten Schritte.

„Kiew nicht in drei Tagen, aber Rostow in drei Stunden“

Am gestrigen Tag war Schadenfreude die wohl am häufigsten vorherrschende Emotion in der Ukraine. Es sei ja gar kein Putschversuch, sondern nur eine militärische Spezialoperation von Prigoschin gewesen, um Recht und Ordnung wiederherzustellen. Darüber hinaus sei Rostow doch ohnehin immer ein Teil von Wagner gewesen, „Putins Koch“ sei nun doch nur dabei, die dortigen Bewohner zu befreien. All dies sind natürlich Analogien auf die Argumentationen Putins hinsichtlich des Angriffskriegs seit dem 24. Februar des Vorjahres, nun drehte man den Spieß einfach humoristisch um. Besonders beliebt war auch ein Meme, das den Umstand illustrierte, wonach die Russen die ukrainische Hauptstadt Kiew in den geplanten drei Tagen nicht einnehmen konnten, es jedoch schafften, Rostow in drei Stunden zu verlieren.

Hinter dem Humor steckt aber freilich viel Ernsthaftigkeit – es geht um Krieg, Tod und Zerstörung. „Schoigu, Putin, Kadyrow, Lukaschenko und Prigoschin sollten sich im besten Falle gegenseitig schlagen und dabei möglichst viele Panzer, Hubschrauber und Waffen aus der Ukraine abziehen“, so Beigelzimer. Auch die deutsche Community in der Südukraine ist sich einig: „Jeder Soldat, der in Russland kämpft, kann keinen Schaden an der Front anrichten.“

„Mit Prigoschin hätte sich kaum etwas geändert“

Auch in der für die Gegenoffensive so wichtigen Stadt Mykolajiw im Süden der Ukraine sah man kollektiv auf den Marsch der Wagner-Söldner, wie der dort wohnhafte Fotograf Igor Archybisov erzählt: „Hier haben die Menschen, wie in der gesamten Ukraine, gespannt auf die Ereignisse geblickt und sie tun es immer noch. Endlich hat man die Schwächen Russlands abseits der Propaganda auch im Inland gesehen.“

Den Tag über war man vielerorts in Feierstimmung, mit Bier und Aperol wurde angestoßen, Antialkoholiker gönnten sich ein Eis auf das russische Chaos. Das Credo: „Man kann einen solch schönen Tag nicht einfach nur mit Popcorn genießen.“ Doch in Wahrheit blieb man realistisch, wie auch Archybisov erklärt: „Mir und vielen anderen hier war klar, dass sich nicht viel geändert hätte, wenn Prigoschin an die Macht gekommen wäre – er und Putin sind die großen Feinde der Ukraine, tagtäglich sterben Zivilisten durch die Hand dieser beiden Männer.“

Und auch der Erfolg und die Dauer des Showdowns waren für Realisten (zu Recht) ein Grund für Zurückhaltung. So etwa auch für Beigelzimer: „Natürlich – wenn dieser Konflikt zwischen Wagner und der russischen Militärführung lange dauert, wird er sicher auch eine große Rolle für den Krieg in der Ukraine spielen. Sollte es schnell vorbei sein, dann aber weniger.“ Niemand wusste zu diesem Zeitpunkt, dass Prigoschin seine Truppen nur zwei Stunden später zurückbeordern würde.

„Vielleicht war es reine Show“

Die Meldung, dass der Marsch auf Moskau am Abend stoppte und sich Prigoschins Truppen zurückziehen würden, verbreitete sich auch in der Ukraine wie ein Lauffeuer. In der deutschen Community in der Südukraine war man sichtlich enttäuscht: „Es gibt hier Leute, die von einer reinen Show sprechen“, meinte einer und schickte nach, dass ja dieser Tage nichts mehr unmöglich sei. „Es könnte hilfreich für eine etwaig nächste russische Mobilisierungswelle gewesen sein“, versucht man sich in einer Erklärung.

Auch in Charkiw schlug die Stimmung mittlerweile um: Laut Ruslan Alekperov, Geschäftsführer einer NGO in der ostukrainischen Stadt, waren die Menschen in der eigentlich in der Vergangenheit stark russisch geprägten Stadt besonders glücklich über die volatile Lage beim Nachbarn. Der Optimismus wurde größer, nun ist dieser wieder geschwunden: „Auch wenn es eine Enttäuschung ist, dass Prigoschins Männer nicht bis nach Moskau marschiert sind, die aufrührerischen Aktionen waren doch ein Zeichen der Hoffnung: Putin hat die Kontrolle über Russland verloren, viele Russen wollen die Revolution.“

Es wäre nur der Beginn gewesen, ein Bürgerkrieg sei nicht unwahrscheinlich. „Klar ist, dass es das Ende von Putin ist – er kann nicht einmal einen einzigen privaten Militärmann kontrollieren, ist nicht mehr so mächtig, wie wir alle gedacht haben“, stellt Alekperov klar. „Wenn Prigoschin weitermacht, wird das der Sieg für die Ukraine sein“, erklärt er und zieht dabei Vergleiche zum Revolutionsjahr 1917, als Russland während des Ersten Weltkriegs ebenfalls im Inneren angegriffen wurde.

„Wir müssen wachsam sein“

Jewgeni Prigoschin sorgte rund einen Tag lang für große Hoffnung unter den Ukrainerinnen und Ukrainern. Was bleibt, ist jedoch Ernüchterung und nur vereinzelt der Optimismus, dass die eigenen Truppen nun trotz der wohl absehbaren Entspannung im Nachbarland die russischen Verteidigungslinien im Rahmen der Offensivbemühungen durchbrechen könnten. Archybisov: „Für eine gewisse Zeit werden die Vorkommnisse die Lage an der Front für die Russen verschlechtert haben. Aber es ist unmöglich zu sagen, dass sich die Situation radikal ändern wird. Wir müssen wachsam sein und den Truppen an der Front jede nur mögliche Hilfe gewähren.“

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