Ukrainekrieg

Warum am Alexanderplatz jetzt Fotos aus ukrainischen U-Bahnhöfen hängen

Nach 16 Monaten Krieg suchen Ukrainer immer noch Schutz vor russischen Raketen in der U-Bahn. Eine neue Ausstellung in Berlin will an ihre Schicksale erinnern.

Next Station Ukraine: Am Alexanderplatz zieht eine neue Ausstellung Parallele mit der Kriegsrealität in der Ukraine. 
Next Station Ukraine: Am Alexanderplatz zieht eine neue Ausstellung Parallele mit der Kriegsrealität in der Ukraine. Volkmar Otto

Freitagmorgen, 11 Uhr, und die Töne von Denys Karachevtsevs Violoncello erklingen neben dem Quietschen der U-Bahnzüge und den Bahnhofansagen in der U8 am Alexanderplatz. Er spielt die Suite „Seven Simple Dawns“ des ukrainischen Komponisten Viktor Rekalo. Die Musik ist mal wild und hektisch, die Akustik zwischen der niedrigen Decke und den türkisfarbenen Fliesen der U8 macht sie noch lauter; mal zupft Karachevtsev die Saiten seines Instruments sanft und die Musik verschwindet fast in den Geräuschen des Alltags, dem Kindergeschrei, dem „Zurückbleiben, bitte“.

Und dann, kurz vor dem Ende des Stücks, läuft es einem kalt den Rücken hinunter. Karachevtsev schickt seinen Finger eine Saite auf und ab. Es klingt wie ein Luftalarm. Man muss sich vorstellen: So klingt der Krieg.

Wenn man näher hinschaut, findet man Denys Karachevtsev und sein Cello auf einer der großen Werbetafeln wieder, die hinter ihm hängen. Auf dem Foto spielt er mit einer Gruppe anderer Musiker im U-Bahnhof seiner Heimatstadt Charkiw. Auf den anderen Tafeln entlang des Bahnsteigs der U8 sieht man Bilder aus U-Bahnhöfen in der ukrainischen Hauptstadt Kiew. Man sieht Zelte, Kinder, die am Bahnsteig spielen – und Menschen mit Koffern, die mit ausdruckslosen Gesichtern auf ihre Handys schauen, genauso wie die Menschen in Berlin. Doch in Kiew sind es Menschen, die in den Bahnhöfen unter der Erde Schutz vor russischen Bomben suchen. Mit den Fotos soll ihre Alltagsrealität in Kriegszeiten den Berlinern nähergebracht werden.

Während Berliner mit der U-Bahn zur Arbeit fahren, suchen Ukrainer in ihr Schutz

Zu sehen sind zwölf Bilder von fünf ukrainischen Fotografen, sie werden bis zum 19. Juni im Rahmen der Ausstellung „Next Station Ukraine“ von dem grenzüberschreitenden Journalistennetzwerk n-ost ausgestellt. Die Organisatoren Anastasia Anisimova und Stefan Günther sagen, dass die Bilder eine Verbindung zwischen zwei parallelen Orten schaffen sollen. Ein Foto von Kiewer Schülern und ihrer Lehrerin, die ihren Unterricht am Gleis der U-Bahn fortsetzen, könnte Pendler in Berlin daran erinnern, dass Menschen in der Ukraine in einem Bahnhof Schutz suchen müssen. Vielleicht genau in diesem Moment, in dem man in Berlin auf die Bahn zum Büro wartet.

Der Cellist Denys Karachevtsev ist in der Ausstellung abgebildet – und spielte bei der Eröffnung am Freitag. 
Der Cellist Denys Karachevtsev ist in der Ausstellung abgebildet – und spielte bei der Eröffnung am Freitag. Volkmar Otto

„Wir brauchen neue Wege, um die Geschichten aus der Ukraine zu erzählen und die mögliche Kriegsmüdigkeit unter den Menschen hier zu bekämpfen“, sagt Anastasia Anisimova. Sie freut sich über den Standort Alexanderplatz – als lebendiger Verkehrsknotenpunkt, aber auch als Wahrzeichen Berlins. Eine Vorgängeraktion von n-ost im November 2022 in den U-Bahnhöfen Rosenthaler Platz, Gesundbrunnen und Möckernbrücke wurde von etwa 850.000 Fahrgästen gesehen; eine zweite Installation fand im Mai in der Prager U-Bahn statt, im Juli folgt eine Fortsetzung in Hamburg.

Bei der Eröffnung am Freitag sollte die Performance von Denys Karachevtsev helfen, eine weitere emotionale Verbindung zwischen Berlin und der Ukraine zu schaffen, so Anisimova. In den ersten Wochen des russischen Angriffskriegs spielte Karachevtsev Bachs Fünfte Cellosuite vor den Ruinen zerbombter Gebäude im Zentrum Charkiws, die Videos davon gingen um die Welt. Nun in der U8 bei der Eröffnung der Ausstellung zu spielen habe ihn auch sehr bewegt, sagt der Musiker. Er fühle sich sofort wieder in das Foto aus der Charkiwer U-Bahn versetzt; es war März 2022, er spielte im Rahmen des Charkiwer Musikfestivals, dessen Eröffnung unterirdisch stattfinden musste.

Denys Karachevtsev hofft, der Krieg in seinem Land werde durch diese Ausstellung bei den Berlinern präsent bleiben. „Es ist wichtig, dass die Menschen wissen, was gerade in der Ukraine vor sich geht“, sagt er. Direkt nach der russischen Invasion am 24. Februar 2022 habe es eine große Welle der Unterstützung für sein Land gegeben – jetzt wollen nicht nur Europäer, sondern auch viele Ukrainer sich immer mehr von dem Thema ablenken, glaubt er. „Aber es kann immer noch jeden Tag etwas Furchtbares passieren und wir brauchen weiterhin Unterstützung“, so Karachevtsev. Er erinnert an die katastrophalen Überschwemmungen im Süden der Ukraine, die in dieser Woche nach der Zerstörung des Kachowka-Damms aufgetreten sind.

Bei der Eröffnung am Freitag war keiner der ausgestellten Fotografen dabei – sie sind alle unterwegs in der Ukraine, um die Auswirkungen des Kriegs in den Städten sowie an der Front zu dokumentieren. Einer von ihnen, Viacheslav Ratynskyi, hat allerdings der Berliner Zeitung per Mail aus dem Donbass geschrieben. Er sagt, auch nach 16 Monaten Krieg gehörten U-Bahnhöfe zu den sichersten Schutzorten, wenn russische Raketen drohen. In den letzten Wochen musste seine Frau immer wieder Schutz in der U-Bahn in Kiew suchen, als russische Raketen oder Drohnen fast täglich über das Haus des Paares flogen.

Fotograf: „Es ist wichtig, der Welt den Horror des Krieges zu zeigen“

Es sei nicht immer leicht, schutzsuchende Menschen zu überzeugen, sich fotografieren zu lassen, schreibt Ratynskyi. Noch heute sehen die Menschen in jeder Ecke Feinde und Saboteure; manchmal wird er bei seiner Arbeit von einem misstrauischen Polizisten unterbrochen. „Ich versuche immer, die Menschen zu überzeugen, dass es ganz wichtig ist, die Lage in der Ukraine, in ihren Städten, darzustellen“, schreibt Ratynskyi. „Es ist wichtig, der Welt den Horror zu zeigen, den die Ukrainer bei Tag und Nacht ertragen müssen.“ Er will, dass die Berliner durch seine Fotos den Krieg nicht vergessen – und dass sie dann dazu bewegt werden, mehr staatliche Hilfe für die Ukraine zu unterstützen. „Das ist in diesem kritischen Moment sehr wichtig“, schreibt der Fotograf.

Während Berliner zur Arbeit fahren, suchen Kiewer und Charkiwer noch Schutz in der U-Bahn.
Während Berliner zur Arbeit fahren, suchen Kiewer und Charkiwer noch Schutz in der U-Bahn.Volkmar Otto

Am Bahnsteig in Berlin wartet das Paar Frida und Michel auf die U8; sie stehen vor Viacheslav Ratynskyis Foto der Lehrerin, die auf dem Bahnsteig der Kiewer U-Bahn die Klassenarbeiten ihrer Schüler prüft. Die Fotos waren ihnen erst nicht aufgefallen, aber wirken sofort auf sie, als sie darauf angesprochen werden. „Man hat schon öfter Bilder aus dem Krieg gesehen“, sagt Frida. „Aber es hinterlässt schon einen Eindruck, wenn man sieht, wie solche alltäglichen Dinge einfach so weitergehen.“

Dann fährt die U-Bahn ein, Richtung Paracelsus-Bad. Das Paar steigt ein, die Türen schließen sich, der Berliner Alltag geht weiter. Durch das Wagenfenster sieht man das Gesicht einer Kiewer Schülerin, die trotz Luftangriff mit unbekümmerter Miene zu ihrer Lehrerin aufblickt.