Es ist ein Werk, das alles drum herum unterbinden soll, das an die Stille appelliert. Das sagt die ukrainische Kunstkuratorin Valeria Schiller über das Gemälde „Schweigeminute“ von der Kiewer Künstlerin Lesia Khomenko. Es steht in der runden Halle im ersten Stock des Museums Ephraim-Palais. Gezeigt werden vier Personen auf einem taubenblauen Hintergrund; sie sind mit harten Pinselstrichen gemalt, aber ihre Gesichte sind nicht zu erkennen – diese werden etwa durch verpixelte Flächen oder einen großen schwarzen Block verdeckt.
Die Figuren sollen ukrainische Soldaten darstellen, deren Identität auch in ukrainischen Medien oder im Internet verheimlicht wird, um sowohl sie als auch ihre Familien zu schützen. „Das Bild greift den Moment auf, wo die Soldaten verstehen, dass auch sie als Nächste fallen können“, erzählt Valeria Schiller. Der Zuschauer soll sich fragen – genau wie die Soldaten es auch tun –, wo deren Gefühl der Verantwortung gegenüber ihrer Heimat herkommt und wie damit umzugehen ist.
Genau diese Einladung zum Hinterfragen macht Khomenkos Werk zum Zentralstück der neuen Ausstellung im Ephraim-Palais: „Motherland: Ukrainische Künstler:innen hinterfragen Heimat“. Dabei werden neue Werke von zehn jungen Künstlerinnen und Künstlern aus der Ukraine gezeigt, die zum Anlass der Ausstellung von dem Stadtmuseum Berlin in Auftrag gegeben wurden. Die persönlichen Eindrücke und Interpretationen der Künstler zum Thema „Heimat“ sind teils durch Geschichte, Krieg und eigene Fluchterfahrungen geprägt – ob vor dem russischen Angriffskrieg 2022 oder die Besetzungen der Krim und des Donbass im Jahr 2014.
Kuratorin: „Nach Kriegsbeginn wussten wir nicht, welche Rolle die Kunst noch spielen kann“
Offiziell wird die Ausstellung am Sonntag, den 4. Juni eröffnet. Kurz zuvor führt allerdings Valeria Schiller vorab durch die Ausstellungsräume im Ephraim-Palais. Sie wird von Elisabeth Bracun begleitet, die für sie ins Deutsche übersetzt und als Projektleiterin die Ausstellung auch mit aufgebaut hat. In den Räumen rechts um das Gemälde „Schweigeminute“ werden die Versuche von Künstlerinnen und Künstler dargestellt, mit der Realität des Kriegsalltages klarzukommen. Es geht um Ängste und unterschwelligen Emotionen, die diese Realität begleiten.

Die Gespräche um die Möglichkeit einer solchen Ausstellung begannen bereits 2022, in den ersten Wochen nach der russischen Invasion der Ukraine am 24. Februar. „Damals gab es so viele Gespräche noch dazu, welche Rolle die Kunst in Kriegszeiten noch spielen kann“, sagt Valeria Schiller. Früher war sie bei dem leitenden Zentrum für moderne Kunst in Kiew, das Pinchuk Art Centre, tätig. Nun wohnt und arbeitet sie in Berlin. „Wir haben uns gefragt: Wie kann die Kunst in dieser rauen Realität noch existieren? Was hat sie noch zu sagen, das nicht besser mit Artefakten aus dem Krieg in einem Museum gesagt werden kann?“
Mit der Ausstellung sehe man, welche Antworten die Künstlerinnen und Künstler als Kulturschaffende auf diese Fragen gefunden haben. Sie dient auch einer wichtigen emotionalen Funktion. „Die Ausstellung baut eine Brücke zur Heimat für die Künstlerinnen und Künstler sowie Menschen aus der ukrainischen Diaspora in Berlin, die zumindest im physischen Sinne sehr weit von ihrer Heimat entfernt sind“, sagt Valeria Schiller.
Archivfotos aus Berlin, eine Installation mit Mordfall und eine Videosuche nach Pilzen
Neben dem Gemälde von Lesia Khomenko sind viele andere Kunstformen in der Ausstellung präsent. Der Künstler Nikolay Karabinovych aus Odessa stellt etwa in seinem Werk „Es ist ein schrecklicher Fehler unterlaufen“ das Büro eines Diplomaten als Medieninstallation vor. Man erfährt, dass der Diplomat ums Leben gekommen ist, indem er aus einem Fenster stürzte. War das ein Unfall oder doch Mord? Die Besucher können sich den Laptop des Diplomaten, seinen Schreibtisch und seine Bücher und Dokumente anschauen, um sich eine Meinung zu bilden.

In der Werkserie „Freiheit für alle“ stellt der Künstler Yuriy Biley Archivfotos aus Ost- und West-Berlin der 1960er- und 1970er-Jahre vor; Biley verdunkelt den Hintergrund der Fotos rund um Slogans wie „Freiheit kennt keine Mauer“ und „Selbstbestimmung auch für uns“. Aus dem Kontext des Kalten Krieges gerissen wirken die Slogans wie eine historische Parallele und wie eine überzeitliche Verbindung zwischen Berlin und ukrainischen Städten, die heute an den Folgen des russischen Angriffskrieges leiden, so der Künstler.
Und nicht nur in „Schweigeminute“ ist der Krieg klar präsent. Als Inspiration für das Stück diente ein Video, das die Künstlerin Lesia Khomenko auf Telegram zugeschickt bekommen hat, in dem anonymisierte Soldaten über ihre gefallenen Kameraden reden. Ein weiteres Werk, das Videostück „Landschaft mit Welpen“ der Künstlerin Julia Beliaeva, spielt ebenfalls auf ein Telegram-Video an, in dem Welpen den Leichnam eines russischen Soldaten fressen. In Beliaevas Werk wird die Szene durch eine wackelige 3D-Videoanimation wieder hergestellt.
Auch die Künstlerin Zhenia Stepanenko hat aktuelle Ängste in Kriegszeiten mit wiederkehrenden Ängsten aus der Geschichte der Ukraine in ihrem Werk „Der Milchkappenpilz wird zum Schmetterling und Pfifferlinge zu Regenwürmen“ thematisiert. Ein großer Bildschirm zeigt eine Animation, die an ein Videospiel erinnert, in der ein Mann in Schutzkleidung im dunklen Wald nach Pilzen sucht. Überlagerte Texte erzählen, welche gesundheitlichen Vorteile solche Waldpilze bringen. Der abgebildete Mann ist Stepanenkos Vater, der Wald ein beliebter Ort neben ihrer Heimatstadt Kiew, wo sie früher oft viel Zeit mit ihrer Familie verbracht hat. Außerdem wird Schutzkleidung zur Schau gestellt.

Als Kind hat Stepanenkos Vater die Auswirkungen des Super-GAUs von Tschernobyl überlebt; 2022 wurde er aber wieder der Angst eines Nukleardesasters ausgesetzt, als russische Soldaten die AKWs von Tschernobyl und Saporischschja besetzten und Wladimir Putin mit dem Einsatz taktischer Nuklearwaffen drohte. „Ich habe meinem Vater per SMS geschrieben und ihn gebeten, vorsichtshalber Jodtabletten einzunehmen, falls etwas passiert“, erzählt die Künstlerin. „Aber er bleibt in Kiew, er macht mit seinem Leben weiter.“ Das Stück zeigt umso mehr die „psychologische Unverwüstlichkeit“ von Menschen in Kriegszeiten, so Zhenia Stepanenko. „Es ist unmöglich, jeden Tag mit dieser Angst zu leben.“





