Die erste Maske sah ich noch vor Bad Schandau. Ich saß im schönen tschechischen Speisewagen, trank ein Pilsner Urquell aus einem der schönen tschechischen Glaskrüge und traute meinen Augen nicht. Drei Wochen lang hatte ich keine Maske gesehen, hatte sogar vergessen, dass es sie gab, denn ich war mit meinem Verlobten durch Frankreich, Polen und Tschechien gereist. Und während diese zivilisierten Nachbarländer dazu übergegangen waren, Covid als normale Krankheit zu behandeln, spielte man in Deutschland offenbar auch weiterhin Pandemie.
Ja, sowie ich diese erste Maske vor Bad Schandau erblickte, fiel mir ein, dass die Teutonen genau andersherum verfuhren, dass man in Berlin die Maßnahmen mittlerweile mit einer kommenden Grippewelle rechtfertigte, und also eine normale Krankheit zur Pandemie umdeutete, womöglich, weil die Selbstmordrate unter Jugendlichen nach den jüngsten Lockerungen zu sinken drohte.
Wir fuhren durch das verdächtig hübsche Dresden
Ich nahm einen großen Schluck und starrte auf die Moldau, die wahrscheinlich bereits die Elbe war. Der Zug überquerte die Grenze und in Bad Schandau stiegen weitere Vermummte zu. Einzig der Kellner heiterte mich auf, da er jene mit der nötigen Herablassung bediente, die nicht einmal für die Dauer einer Mahlzeit bereit waren, ihr Gesicht zu entblößen, die die Maske also zwischen den einzelnen Bissen wieder aufsetzten, panisch umherblickten und sich ungewohnt laut über die Hochzeit Christian Lindners echauffierten. Ungewohnt? Ja, denn meine Ohren hatten sich auf die routiniert fröhliche Betriebsamkeit der Prager Kavárny eingestellt, in denen jeder angeregt spricht, sein Gegenüber bisweilen sogar unterbricht und der Geräuschpegel dennoch niemals ins Unangenehme steigt.

Wir fuhren durch das verdächtig hübsche Dresden, dann durch die brandenburgische Savanne und erreichten schließlich die Hauptstadt. Christopher Isherwood, der sich in den frühen 1930er-Jahren in Berlin aufhielt, attestierte den Prachtbauten der jungen Metropole, dem Parlament, der Oper, der Staatsbank und den Museen, dass sie ihre Würde untermalen würden – oder sollten. „Und es ist alles so pompös, so überaus korrekt …“, schrieb er. „Alles bis auf den Dom, der in seiner Architektur eine Spur jener Hysterie verrät, die hinter jeder ernsten, grauen preußischen Fassade flackert. Von seiner absurden Kuppel schier erdrückt, wirkt er auf den ersten Blick so erschütternd komisch, dass man nach einem angemessen lächerlichen Namen sucht – die Kirche des Unbefleckten Konsums.“
Der Berliner Hauptbahnhof, das unterschätzte Wahrzeichen
Auf der Suche nach einer postmodernen Entsprechung der hässlichen Kirche, fiel meine Wahl natürlich auf den Hauptbahnhof, in den wir gerade einfuhren. Mitten ins Nirgendwo verpflanzt, sollte das gläserne Ungetüm Dynamik vermitteln und verriet in seiner beispiellosen Einfallslosigkeit doch nur die Regression. Vielleicht, so dachte ich, als ich mich traurig vom Kellner verabschiedete, ist der Berliner Hauptbahnhof das unterschätzte Wahrzeichen dieser schrillen Kapitale einer selbstgerechten und rasant debiler werdenden Republik.
Seit ich denken kann, wird rings um ihn gebaut; ein neofaschistischer Bau mit Luxus-Apartments reiht sich bereits an den anderen – und dennoch muss es offenbar noch mehr von ihnen geben. Ich halte mich selbst nicht unbedingt für fantasielos, doch fehlt es mir an Vorstellungskraft, um mir einen Menschen auszudenken, der am Europaplatz leben möchte. Wir rauchten unsere polnischen Zigaretten und beobachteten die irritierten Touristen, die man an diesem dystopischen Ort immer antrifft, Menschen jeder Couleur, die aussehen, als seien sie beim Bingo betrogen worden. „Einstieg nur mit Maske, Jungs. Könnt ihr nicht lesen?“, fauchte uns der Busfahrer wenig später an. Stimmt, das hatten wir schon wieder verdrängt.
Ganz Berlin sieht wie Neukölln aus
Wir gingen also zurück in den Bahnhof, kauften uns bei Rossmann die aktuell vorgeschriebenen Mund-Nasen-Bedeckungen und auch die mindestens elfmal gepiercte Kassiererin hatte phänomenal schlechte Laune. Zurück auf dem Europaplatz erblickte ich eine Gruppe spanischer Demonstranten, die entweder für oder gegen Prostitution waren. Immerhin konnten wir den M48 Richtung Zehlendorf nehmen und mussten nicht wie früher in den M41 Richtung Sonnenallee steigen.
Vor nicht allzu langer Zeit waren mein Verlobter und ich von Neukölln in den Südwesten emigriert, da wir keine Lust mehr hatten, uns auf offener Straße anspucken zu lassen. Nun aber, da wir die Schöneberger Hauptstraße hinunterfuhren, konnte ich keinen nennenswerten Unterschied zur Sonnenallee feststellen. Oder sah für mich mittlerweile ganz Berlin wie Neukölln aus, einfach weil ich zumindest in Polen und Tschechien keine Shishabar und erst recht keine verschleierte Zehnjährige gesehen hatte?
„Wir könnten nach Krakau ziehen, oder nach Prag“
Ich wusste es nicht, doch auf den Anblick letzterer hätte ich gern verzichtet. Es würde schwierig werden, sich wieder abzugewöhnen, einander in der Öffentlichkeit zu küssen, sich wieder zu verstecken und ängstlich umzublicken. „Wir dürfen nicht mehr so lange verreisen“, sagte mein Verlobter und hob den Zeigefinger. „Man erträgt das alles nicht, wenn man sich erst entwöhnt hat.“ „Wir könnten nach Krakau ziehen, oder nach Prag“, versetzte ich. „Nur mit der Hochzeit wird es dann nichts.“
„Ich brauche eigentlich keine Homo-Ehe, wenn ich dafür in Sicherheit leben kann.“ Ich nickte nachdenklich, denn sogar in den polnischen Städten hatten wir binnen weniger Tage mehr Männer Händchen halten sehen als in einem ganzen Berliner Monat. Und wahrscheinlich gingen die Polen auch ohne Macheten ins Freibad und ohne Gewehre zur Synagoge. Eine Frau in einem sackförmigen, doch teuer aussehenden Gewand stieg mit ihrer dreijährigen Tochter ein; sie setzten sich uns schräg gegenüber.
Ich sah aus dem Fenster, atmete durch meine Maske
Das Mädchen weinte sehr laut, denn offenbar hatte sie Schmerzen in der Magengegend, aber die Frau in dem Sack starrte auf ihr riesiges Telefon und herrschte sie bloß von Zeit zu Zeit an: „Nur weil ich deine Mutter bin, heißt das nicht, dass ich kein eigenes Leben habe.“ Plötzlich musste ich an Thomas Bernhard denken, daran, wie er breitbeinig auf Mallorca sitzt und erklärt, er müsse immerzu in einem Land sein, in dem er die Sprache nicht versteht: „Weil man ununterbrochen das Gefühl hat, die Leut’ sagen nur angenehme Dinge und reden eigentlich nur wichtige, philosophische Sachen.“
Ich sah aus dem Fenster, atmete durch meine Maske, beobachtete die vorbeigleitenden Rentner beim Flaschensammeln im Abendlicht und dachte an das schillernde Paris, das heitere Sopot, das moderne Brünn, das nüchterne, mitunter amerikanisch anmutende Warschau und abermals an das wunderschöne Prag. Schon morgen würde ich wieder arbeiten müssen.
„Mach ein Ende, Putin, mach endlich ein Ende!“
„Mach ein Ende, Putin, mach endlich ein Ende!“, war das Erste, das wir vernahmen, sowie wir dem Bus entstiegen. In Steglitz gibt es nämlich eine Obdachlose, die tagein tagaus einen Einkaufswagen vor sich herschiebt und schreit. Auf dem Wagen, in dem sie ihr Hab und Gut verwahrt, kleben neben russischen Flaggen Pappschilder mit kyrillischer Schrift. Die Frau hat ein rotes, aufgedunsenes Gesicht und ähnelt auch in ihrer sonstigen Erscheinung einer zerlumpten Version von Gerhard Schröder.
Sie bettelt nach der Bombe, fleht Putin an, Deutschland zu vernichten, und niemand beachtet sie. Schließlich erreichten wir unser Haus, doch erst im Hof fiel mir ein, dass wir gleich unsere beiden Katzen Betty und Grace wiedersehen würden. Berlin hatte mich tatsächlich vergessen lassen, wie sehr ich mich auf sie freute. Die Wohnungstür wurde uns von zwei Freundinnen geöffnet, die auf die beiden aufgepasst hatten. Sie hatten außerdem Piroggen für uns gekocht, um uns den Kulturschock sanfter zu gestalten.
Die Victoria Bar ist einer meiner wenigen Lieblingsorte in Berlin
Nun doch recht gerührt, wurde mir bewusst, dass die meisten meiner Freunde in dieser Stadt wohnten. Wir aßen, tranken und da Betty und Grace sich gekränkt über unsere lange Abwesenheit unter dem Vertiko verschanzten, hielt uns nichts davon ab, mit den Damen noch ein wenig um die Häuser zu ziehen. Ein paar Stunden später standen wir vor der Victoria Bar. Die Victoria Bar ist einer meiner wenigen Lieblingsorte in Berlin, da alle Barkeeper dort aussehen, als hätte Christian Schad sie gemalt.
Als wir hineingingen, lief gerade ein Lied von Franco Battiato und wir bestellten vier Weiße Affen, eine Kreation des Hauses mit viel Absinth. In einem Augenblick, da unsere Begleiterinnen ins Gespräch vertieft waren, flüsterte mir mein Verlobter verheißungsvoll zu: „Vielleicht sollten wir doch nicht wegziehen. Schau mal, es ist zwei Uhr an einem Montagmorgen und der Laden ist rappelvoll.“
„I’m moving to Berlin after my studies“
Ich wusste natürlich, worauf er damit anspielte. In der Nacht zuvor waren wir auf der Suche nach einer offenen Bar mit Václav und Marie, Prager Kunststudenten, die wir einmal auf einem Filmfestival kennengelernt hatten, mehrmals mit dem Taxi durch die ganze Stadt gefahren. „Aber wir haben doch etwas gefunden“, entgegnete ich trotzig. Tatsächlich waren wir schließlich in einem Reggae-Club gelandet. Niemand von uns mochte Reggae, doch weil wir die einzigen Gäste waren, ließ die Wirtin uns die Musik aussuchen.
Und obwohl wir mehrmals hintereinander das sehr gute Lied „Lemon Tree“ von Fools Garden spielten, verriegelte sie die Bar von innen, gab uns jede Menge Gin and Tonics aus und erlaubte uns sogar, zu rauchen. „I’m moving to Berlin after my studies“, hatte Václav irgendwann gerufen. Was für ein absurder Satz, dachte ich und lächelte ihn an. Diesen Satz hatte ich seit Ewigkeiten nicht mehr gehört. Als ich Anfang der Zehnerjahre nach Berlin gezogen war, hatte man mich noch hin und wieder ausgefragt, nach der verrückten Stadt. Hamburger und Münsteraner fanden es spannend, was dort passierte.
Zum Glück spielte Marie als nächstes Lied „Brother Louie“
Doch in den letzten Jahren erntete ich vor allem mitleidige Blicke, wenn ich sagte, ich käme aus Berlin. Auch mein Verlobter hatte Václavs Ankündigung vernommen. Was er denn da wolle, schrie er ihn unvermittelt an. Ob er denn nicht wüsste, dass in dieser Stadt jeden Tag der Gegenteiltag gefeiert würde? Opposite Day nannte er es, glaube ich. In Berlin, so mein Verlobter, fände man das Schöne hässlich und das Hässliche schön, die Linken wären rechts und die Rechten links, Dreistigkeit gelte als authentisch und Depressionen wären Mode.
Deshalb seien mittlerweile die Mieten in den schlimmsten Vierteln weitaus höher als beispielsweise in Schmargendorf. Jeder Berliner hätte mindestens ein Drogenproblem, weil die Stadt nüchtern nicht zu ertragen wäre. Unsere tschechischen Freunde wussten nicht, was Schmargendorf war und wirkten ein wenig schockiert über diesen plötzlichen Gefühlsausbruch. Václav druckste herum, sagte irgendetwas über Internationalität und eine aufregende Galerienszene.
Zum Glück spielte Marie als nächstes Lied „Brother Louie“. Und weil alle Tschechen Modern Talking lieben, vergaßen wir das zornige Intermezzo und tanzten ausgelassen bis in die Morgenstunden. In der Victoria Bar nippte ich gerade an meinem dritten oder vierten Weißen Affen und fragte mich, wie ich die Rechnung würde begleichen können, als mein Verlobter mich sanft am Nacken packte. „Was für einen Unsinn ich vorhin geredet habe! In einer Stadt zu leben, nur weil man sich dort gut betrinken kann … Betty und Grace werden Tschechisch lernen müssen.“


















