Brutal Berlin

Warum ich mein Leben im hässlichen Berlin aufgab und ins paradiesische Wien zog

Unsere Autorin hatte genug von Berlin und zog nach Wien. Dort halten Autos für Fußgängerinnen, es gibt auch keine gegen SUVs tretende Radfahrer. Ein Traum!

Die Autorin Eva Biringer
Die Autorin Eva BiringerFlorian Reimann

Im Frühjahr 2021 ist unsere Autorin Eva Biringer aus Berlin nach Wien gezogen, kürzlich hat sie in der Berliner Zeitung nach einem Jahr Wien-Aufenthalt Bilanz gezogen. Doch warum ist sie aus Berlin überhaupt abgehauen? Hier der Anfangsbericht.

Sie werden es nicht glauben: Einmal ging ein junger Mann vor mir auf einer Brücke entlang, bückte sich, hob einen Ast vom Boden auf und warf ihn in den Donaukanal. Haben Sie in Berlin jemals jemanden Müll von der Straße aufheben sehen, mit Ausnahme von Pfandflaschensammlern? Offenbar greift hier dasselbe Prinzip wie bei Ryanair-Toiletten. Von wegen „Bitte hinterlassen Sie den Ort so, wie Sie ihn vorfinden möchten“: Wer gibt sich schon Mühe, wenn die hygienischen Verhältnisse bereits beim Betreten desaströs sind? In Berlin habe ich meine Kaugummis stets vom Rad aus in hohem Bogen auf die Straße gespuckt. In Wien landen sie nur an einem Ort, nämlich dem sogenannten Mistkübel. Über 19.000 gibt es in der Stadt – das etwa gleich große Hamburg hat 9000 –, und wenn einer davon überquellen sollte, wählt man die Nummer des „Misttelefons“. Wien ist eine so hinreißende Stadt.

Erlauben Sie mir, etwas auszuholen. Nach Berlin kam ich 2008. Damals war das Rosenthaler-Platz-Chaos ein Versprechen auf jenes wilde Leben, von dem ich seit der ARD-Serie „Berlin Berlin“ immer geträumt hatte, und die Glasscherben im Weinbergpark schimmerten wie Diamanten. Mit dem „Berlin Calling“-Soundtrack auf dem iPod strudelte ich durch Kreuzkölln, zelebrierte im Simon-Dach-Kiez die 24-Stunden-Happy-Hour, zog später nach Mitte. Mit kurzer Unterbrechung blieb ich zehn Jahre.

In Wien lebt es sich entschleunigt

Schwer zu sagen, wann die Glitzerschminke auf meinem Ausgehgesicht begann, albern zu wirken. Nach Antreten meiner ersten festen Stelle stellte ich fest, dass Berlin in der Rushhour eine Stadt ist wie jede andere: Menschen mit zerknitterten Hemden und ebensolchen Gesichtern rattern in der S-Bahn dem Acht-Stunden-Tag entgegen. Als das mit meinem Job nicht so glatt lief wie erhofft, zog ich in jene Stadt, die mir der „Jugendradiosender“ FM4 schon so lange schmackhaft gemacht hatte.

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Florian Reimann
Zur Autorin
Eva Biringer lebt als freie Journalistin für Kultur- und Kulinarikthemen in Wien und Berlin. Sie mag Butterbrote, Windhunde und die Romane von Sally Rooney.

Lassen Sie mich von Wien erzählen. Dass es sich um die zweitgrößte deutschsprachige Stadt handelt, vergisst man schon allein deswegen, weil alles so nah ist. Mehr als 25 Minuten Weg mutet sich keiner zu. Auf diese Weise löste sich wie von selbst mein Lebensproblem, dass ich immer und überall 15 Minuten zu spät komme. In Berlin rechnete ich mit einer halben Stunde Weg, dabei dauert einfach alles mindestens 45 Minuten. In Wien komme ich jetzt immer rechtzeitig. Überhaupt bin ich hier sehr entschleunigt. Rote Ampelphasen kommen mir grotesk lang vor, was aber auch daran liegen könnte, dass ich sie in Berlin konsequent ignorierte.

In Wien herrscht Höflichkeit

Der einzig längere Weg ist jener in die Außenbezirke. Dafür bekommt man dort etwas, was Brandenburg nirgendwo schafft: abwechslungsreiche Natur und hervorragendes Essen. Keine Sorge: Auch Vegetarierinnen kommen in den Wirtshäusern auf ihre Kosten. Selbst die Berge sind nur eine Regionalzuglänge entfernt. Meine Metamorphose zur Sonntagsausflüglerin ist jedenfalls abgeschlossen. Und das, obwohl ich viel seltener Fluchtimpulse habe. Könnte daran liegen, dass Wien 2020 zur „grünsten Stadt der Welt“ gekürt wurde. In Sachen Lebenszufriedenheit steht sie auch immer mal wieder auf dem Siegertreppchen.

Man merkt es ihren Bewohnern an. Alle sind mindestens maximal höflich – nach den Japanern sind die Österreicher offiziell das höflichste Volk der Welt – und oft sogar richtig nett. Es herrscht eine angenehme Verbindlichkeit, alle meinen es immer ernst, sogar beim Onlinedating. Autos halten für Fußgängerinnen. Gegen SUVs tretende Rennradfahrer sucht man ebenso vergeblich wie ihre Gewaltfantasien verbal auslebende Passanten. Die Wienerin wird eigentlich nur in einer Situation laut: Wenn es an der Supermarktkasse nicht schnell genug geht. „Zweite Kassa bitte“ ist hier ein geflügeltes Wort, mit dem ich gut leben kann. Ebenso mit der Eigenart, dass man „Sackerl“ sagt statt „Tüte“, „auf Wiedersehen“ statt „Tschüss“, und E-Mails mit „Sehr geehrte ...“ beginnt.

Ich lebe in einer absurd schönen Wohnung

Wer das beachtet, findet auch richtig schnell eine Wohnung. Ein Grund, warum ich Berlin vor einigen Monaten endgültig den Rücken kehrte, war jene Mietmarktodyssee, von der ich in dieser Zeitung bereits an anderer Stelle berichtet habe. Kam ich in Berlin innerhalb eines Jahres auf drei Besichtigungen, waren es in Wien sechs in drei Wochen. Eine ganz neue Erfahrung: eine E-Mail schreiben („Sehr geehrter Herr ...“), einen Einzel(!)termin bekommen, ein Mietgebot ausfüllen und mit etwas Glück Mieterin werden. Einer der Gründe ist, dass der soziale Wohnungsbau hier so blendend funktioniert und mehr als 60 Prozent der Einwohner in einer geförderten oder kommunalen Wohnung leben, mehr als irgendwo sonst auf der Welt.

Zugegeben wird bei den meisten Neuvermietungen auf dem freien Markt eine vierstellige Maklergebühr fällig, die ich nach all der Zeit, in der ich keine einzige Maklerin je zu Gesicht bekam, allerdings gerne bezahlt hätte. Wobei es gar nicht dazu kam. Mein Zuhause fand ich, weil ich mit einer zauberhaften Grafikdesignerin eine Mélange trinken war, die meinte, sie ziehe demnächst aus, ich solle doch mal vorbeikommen ... Jetzt lebe, ich möchte beinahe sagen: residiere ich in einer absurd schönen Wohnung, in bester Lage zu einem angemessenen Preis. Der Besitzer wohnt im selben Haus und unterschreibt Mails mit „Alles Liebe“.

Wien ist eine so wahnsinnig schöne Stadt

Vom Wohnzimmer aus geht der Blick über die Dächer in den stets klaren Himmel hinein. Es ist nämlich so: Dieses halbjährige Novemberelend, sprich die Zeit, in welcher die Farbe des Berliner Himmels stehen gelassenem Haferschleim gleicht, gibt es hier nicht. Abgesehen von einigen wenigen Regentagen ist der Himmel immer blau wie eine Penaten-Creme-Dose. Als halb Deutschland über den diesjährigen Sommer klagte, zuckte ich mit den Schultern: Bei uns waren wochenlang über 30 Grad. Zur Donau, in der man im Gegensatz zur Spree baden kann, brauchte ich 20 Minuten. Dass Radfahren hier mehr Spaß macht als in Berlin, liegt nicht nur am klug geplanten Radwegnetz und daran, dass zwei Drittel aller innerstädtischen Straßen Tempolimit 30 haben, sondern auch an dem, was man unterwegs sieht.

Wien ist eine so wahnsinnig schöne Stadt. Meine nächstgelegene Denns-Filiale beispielsweise befindet sich in einem Zehn-Meter-Deckenhöhe-Palast mit Stuckfassade, der H&M unweit des Stephansdoms ist in einem Jugendstilhaus mit Paternoster und hölzernem Treppen-, Pardon, Stiegenhaus. Die Jugend hängt vor der Karlskirche ab, einem denkmalgeschützten Barockbau, dessen Schönheit einem den Atem verschlägt, und alle räumen hinterher ihren Müll weg. Wer denkt, dass Sauberkeit gleichzusetzen ist mit Langeweile, begebe sich zum Multi-Kulti-Reumannplatz (beste Eismarillenknödel bei Tichy) oder zum Wohnpark Alterlaa, Wiens Antwort auf das Märkische Viertel.

Vorsicht, in Wien gibt es aber auch Mittelmaß

Jedes Mal, wenn ich wieder in Berlin bin, ist das dort so offen zutage tretende Elend wie ein Schlag ins Gesicht. In Wien sieht man kaum Obdachlose. Stattdessen passt der vor dem Billa-Supermarkt sitzende Herr mit Jägerhut seine Bettelzeit an die Öffnungszeiten an. Er hält einem auch kein „Need Weed“-Schild unter die Nase, sondern murmelt leise „Servus“. Mir ist schon klar, dass, nur weil ich keine Obdachlosen sehe, es nicht heißt, dass es keine gibt. Und doch scheint mir das Problem ein sehr viel geringeres zu sein.

Natürlich ist auch hier nicht alles perfekt. Die Gastroszene hält wenig Überraschungen bereit. Jedes Mal, wenn der Kritiker der Tageszeitung Der Standard eine Lobeshymne auf einen neuen Ramen-Laden singt, bin ich nach meinem Besuch enttäuscht, weil alles immer Mittelmaß ist. Restaurants wie das Berliner Otto, Nobelhart & Schmutzig oder Mrs. Robinson’s sucht man hier vergeblich. Dafür kriegt man in jeder Bumsbude (heißt hier Beisl) einen perfekten Kaiserschmarren und hegt die Hoffnung, dass 2024 dann auch in Wien handgezogene Sichuan-Nudeln auf dem Teller landen, weil Trends hier drei bis fünf Jahre länger brauchen.

In Österreich brennen keine Geflüchtetenunterkünfte

Woran ich mich auch erst mal gewöhnen musste, ist die strenge Ahndung von Grenzübertritten. Wer mit dem Fahrrad durch die Kärtnerstraße brettert, kriegt ein „Fußgängerzone, Madame!“ hinterhergezetert. Inzwischen finde ich das okay. Wenn ich mich im Supermarkt gegen ein Produkt entscheide, lege ich es wieder an seinen Platz zurück. Und nicht nur, weil der öffentliche Nahverkehr einwandfrei funktioniert, kaufe ich hier sogar nachts ein Ticket, während ich Schwarzfahren in Berlin als kleinen Kick im Alltag betrachtete. In Wien bin ich eine bessere Version meiner selbst. Ich halte mich an Regeln. Ich liebe Regeln.

Wobei die Österreicher ja durchaus nichts gegen ein bisschen Grenzübertreterei einzuwenden haben, wie aktuell das Debakel um den geschassten Kanzler beweist. „Mauscheln“ heißt das hier, und wenn man es charmant anstellt, kommt man damit recht weit. Wie ich in einem Land leben kann, dessen Staatsoberhaupt sich positive Medienberichterstattung erkauft und eine „Islam-Landkarte“ gutheißt? Well, Deutschland hat die AfD, und so verquer die Ansichten mancher Österreicherinnen auch sein mögen, es brennen hier keine Geflüchtetenunterkünfte.

Der Spirit schrankenloser Freiheit

Zurück zu den angenehmen Aspekten: Sämtliche Amtstermine erfolgen schnell und in Zusammenarbeit mit herzlichen Mitarbeitern. Kreditkartenzahlung ist überall möglich, sogar beim Biogemüsemarktstand. Bauliche Termine werden eingehalten – der Ikea am Westbahnhof eröffnete sogar einen Monat früher als angekündigt. Nirgends stinkt es, stattdessen wehen einem ab und an Mehlspeisendüfte entgegen. Wie, frage ich mich, kann man irgendwo anders leben wollen?

Neulich ist etwas ganz Verrücktes passiert. Ich meine nicht die eingangs erwähnte Sache mit dem müllsammelnden Jugendlichen, sondern das Gespräch mit einem Wiener, der jetzt schon einige Jahre im Ausland lebt. Bei jedem Besuch in der alten Heimat sei er entsetzt über die Barschheit von deren Bewohnern, das Kleingeistige, die Obrigkeitshörigkeit. Auch habe er das Gefühl, in Wiens engen und baumlosen Straßen nicht atmen zu können. Wie anders es doch in seiner Wahlheimat sei. Breite Bäckereiverkäuferinnen, freundliche Alleen – nein, andersrum! –, der Spirit schrankenloser Freiheit. Falls Sie es nicht sowieso bereits ahnen, verrate ich es Ihnen jetzt: Er sprach von Berlin.

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Dieser Text ist in der Wochenendausgabe der Berliner Zeitung erschienen – jeden Sonnabend am Kiosk oder hier im Abo.