Zweimal die Woche jogge ich durch die Kopenhagener Innenstadt, an Kastellet vorbei, einer Festung aus dem 17. Jahrhundert, heute eine hübsche Grünanlage, die noch als Militärbasis genutzt wird. Dann an der kleinen Meerjungfrau vorbei, am Hafen entlang: schöne alte Holzsegelboote, ansprechende Architektur, nagelneu oder vor Jahrhunderten gebaut. Gelassene Menschen, die das klare Licht des nordischen Sommers genießen. Wenn das Wetter stimmt und wenn das Läuferhoch einsetzt, fühlt sich Kopenhagen wie die perfekte Stadt an.
Für manche Deutsche ist Dänemark ein Sehnsuchtsort, ein Land, wo alles in Ordnung ist, wo gesunde Kinder in gut finanzierten Ganztagsbetreuungen gut behandelt werden. Wo die Bürger und Bürgerinnen gerne sündhaft hohe Steuersätze zahlen, weil das steuerfinanzierte Gesundheits- und Sozialsystem ihnen ein umfassendes Gefühl von Sicherheit beschert, von dem man in Deutschland nur träumen kann. Und natürlich gibt es überall sichere Fahrradwege so glatt und breit wie eine Autobahnspur. Nicht zu vergessen: Laut „World Happiness Report 2022“ sind die Dänen die zweitglücklichsten Menschen auf der Erde. Nur die Finnen sind glücklicher.

Kopenhagen: Hört sich „hyggeligt“ an
Die dänische Hauptstadt steht permanent ganz oben in den Rankings: „lebenswerteste Stadt der Welt“ (Monocle Magazine), „sicherste Stadt weltweit“ (The Economist), „coolste Stadt“ (CNN). Kopenhagen ist natürlich auch Nachhaltigkeitsweltmeisterin und hat die zweitbesten Restaurants des Planeten. Und so weiter.
Aber wie ist es, als zugezogener Exil-Berliner dort zu leben? Vor knapp einem Jahr bin ich mit meiner dänischen Partnerin und unserem zweijährigen Sohn dort hingezogen, genauer gesagt in den Prenzlauer Berg von Kopenhagen, Østerbro – einen Stadtteil nicht weit weg vom Meer mit schönen Altbauten, Bio-Bäckereien, Yogastudios und einer hohen Tesla-Dichte.
Hört sich „hyggeligt“ an. Aber für uns läuft nicht alles nach Plan. Meine Freundin war hochschwanger, wir wollten schnell ein Nest bauen, aber unsere erste Wohnung entsprach nicht gerade meiner Vorstellung von dänischer Lebensqualität. Der Wohnungsmarkt ist genauso leer gefegt wie in Berlin. Über einen dubiosen Anbieter, der sich auf Expats konzentriert, fanden wir eine 95 Quadratmeter große, teilmöblierte, schlecht ausgestattete Altbauwohnung für 1800 Euro warm. Berliner Verhältnisse, aber schlimmer noch: Mini-Badezimmer mit verschimmelter Duschkabine (bei der Besichtigung übersehen). Für Kopenhagen luxuriös weiträumig. In vielen Altbauten duscht man in einer Besenkammer, in der sich auch das WC befindet. In manchen Mehrfamilienhäusern gibt es noch geteilte Duschen im Keller.
Rattenparadies einschließlich Rattenmist aus vielen Jahren
In unserer Wohnung liegt das Problem an anderer Stelle: Im „Kinderzimmer“ bemerken wir nach ein paar Tagen einen widerlichen Geruch. Ein totes Tier unter den Dielen? Giftiger Lack? Toxische Pilze? Wir melden das bei der Hausverwaltung. Wochenlang werden unsere Mails ignoriert. Irgendwann beschäftigen sie sich mit dem Problem, dass die Nutzfläche der Wohnung drastisch reduziert ist. In einem Keller direkt unter dem Stinkezimmer entdeckt der gestresste Hausmeister ein Rattenparadies einschließlich Rattenmist aus vielen Jahren. Der Geruch steige nach oben, lautet seine These. Nach einer Grundreinigung bleibt der Gestank unverändert. Ein „Geruchexperte“ kommt mit Messgeräten, aber kann nichts Genaues feststellen.
Verzweifelt suchen wir eine neue Wohnung. Nach vielen Anfragen bekommen wir einen einzigen Besichtigungstermin. Die Bude, auf die wir treffen, ist rattenfrei, modern ausgestattet, zentral gelegen und umgeben von Grünflächen. Wir atmen auf, fangen an, uns auf die Geburt unseres zweiten Sohnes vorzubereiten. In einem Monat ist der Entbindungstermin.

Auch in Dänemark gibt es Gewalt
Die Erfahrung mit der ersten Wohnung zerschmettert meine Vorstellungen von den Dänen als korrektes, nettes Völkchen. Nichtsdestotrotz sind die meisten Alltagsbegegnungen angenehm und stehen in brutalem Kontrast zum schnauzigen Berliner. In Läden wird man öfter angelächelt als in Deutschland. Auf der Straße oder im ÖPNV ist die Stimmung in Kopenhagen entspannter. Als ich neulich wieder Berlin besuche, bin ich in der Schönhauser Allee: Plötzlich stößt ein Mann um die 50 mit Skateboard unterm Arm einen Tisch und zwei Bänke um – ein Paar Meter von unserem Säugling, der im Kinderwagen sitzt.
„Arschloch!“, brüllt der Imbissbetreiber. „Arschloch!“, brüllt der Skater-Dad. Mein Sohn weint. Die U-Bahn donnert vorbei. Unter der Hochbahn ist ein trostloses Obdachlosenlager. Müll. Bettler. Laut, „bunt“, „aufregend“. Dit ist Berlin. In diesem Moment bin ich froh, dass ich das chaotische Deutschland mit seinen krassen sozialen Schieflagen verlassen habe.
In Dänemark erlebe ich kaum solche Szenen. Im Vergleich sind unsere Rattengestank-Probleme First-World-Problems. Natürlich gibt es in Kopenhagen Obdachlose, besonders um den Hauptbahnhof im ehemaligen Elendsviertel Vesterbro herum, das allerdings längst durchgentrifiziert ist und hippe Hotels und Cargobike-Händler umfasst. Aber ich habe kaum Gewalt oder Aggression miterlebt. In den Medien wird über Fälle berichtet: etwa über eine schwarze Frau, die in der S-tog (S-Bahn) rassistisch angegriffen wurde. Und dann natürlich über die tragische Schießerei im Einkaufszentrum Field’s am 3. Juli, in der drei Menschen ums Leben gekommen sind. Auch im friedlichen Dänemark gibt es solche verstörten jungen Männer.
Deutschland hinkt Jahrzehnte hinterher
Hier ist der Alltag einfacher zu bewältigen als in Berlin. Der Staat kommuniziert digital. Behördenwebseiten sind schlicht und verständlich. Meine Steuererklärung auszufüllen war (mithilfe des Online-Übersetzers DeepL) kinderleicht, obwohl ich kaum Dänisch spreche. Es gibt ein Log-in für alles. Beim Arztbesuch checkt man sich mit seiner Gesundheitskarte selber ein. Ich müsste noch nie lang warten. In Berlin sind die Wartezimmer voll von hustenden Menschen, viele, die nur eine Papierüberweisung oder ein Rezept abholen wollen. Im nordischen Land sind natürlich Überweisungen und Rezepte papierlos. Deutschland hinkt Jahrzehnte hinterher.
Mit der Geburt unseres zweiten Sohnes erlebe ich allerdings die Kehrseite des effizienten dänischen Systems. Nur wenn die Wehen wirklich eng aufeinanderfolgen, soll meine Freundin in den Kreißsaal im Rigshospital, einem in den Siebzigern gebauten Betonmonolithen einen Kilometer von uns entfernt. Ich werde nicht die Details der Geburt schildern. Glücklicherweise läuft alles einigermaßen gut, dank der warmherzigen, motivierenden Hebamme. Unser Sohn kommt in einer Badewanne (die einzige in Kopenhagen?) zur Welt, im gleichen Zimmer wie Mitglieder des Königshauses. Ärzte schauen sich das Kind kurz an. Alles in Ordnung.
Ein Teewagen mit Käsebroten und einer dänischen Fahne taucht auf. Hä? Ach ja, das weiße Kreuz auf rotem Hintergrund („Dannebrog“ genannt) ist immer bei Geburtstagen präsent. Im Büro wird die Flagge am Schreibtisch des Geburtstagskindes aufgestellt. Im Sommer werden manche Straßenzüge mit Hunderten von Fähnchen geschmückt. Finde ich als Deutscher nervig, diese Fahnenliebe. Als der ältere Sohn drei wird, verbiete ich „mormor“ (Mutters Mutter), Fähnchen mitzubringen. Findet sie nicht lustig. Die Feier wird trotzdem „hyggeligt“.
Ja, die Kopenhagener sind keine Warmduscher
Das eigentlich krasse an der Geburt war die Tatsache, dass wir spätestens vier Stunden nach der Entbindung das Krankenhaus verlassen mussten. Digitalisierung ist schön und gut, aber Frauen so schnell nach Hause zu schicken, scheint mir eine Sparmaßnahme zu viel zu sein. Beim ersten Kind ist das anscheinend nicht der Fall. Unser erster Sohn kam im St.-Josef-Krankenhaus in Tempelhof zur Welt. Dort durften wir drei Tage im Familienzimmer bleiben! Die Möglichkeit, unseren Sohn entspannt kennenzulernen, ohne Hausarbeit erledigen zu müssen, war ein Segen. Nach der Geburt in Kopenhagen haben wir das Baby in der Trage 1000 Meter nach Hause getragen. Es war schon surreal, am frühen Septemberabend an dem innerstädtischen See entlangzugehen, mit einem winzigen neuen Wesen, das an mir hing, als ob wir gerade einkaufen waren.
Ja, die Kopenhagener sind keine Warmduscher. Egal was für ein Wetter, auch bei einem Grad, Wind und Schneeregen sind die Fahrradwege vollgestopft von Pendlern in Regenanzügen auf Lastenfahrrädern mit Kids oder schicken City-Bikes. Den Winter verbringt der Große mit einer abgehärteten Tagesmutter, die fast ausschließlich mit den Kindern draußen bleibt.
In Dänemark wird ungeheuer viel genuschelt
Für mich war der Winter hart. In der dunklen Jahreszeit verlassen die Dänen ihre Buden nur, um das Notwendige zu erledigen, zünden Kerzen an und bleiben unter sich. Unter solchen Umständen ist es beinah unmöglich, neue Freundschaften zu schließen. Ich widme zwei Winterabende pro Woche dem Erlernen der Sprache, in einem kostenlosen Kurs, natürlich. Hier sitze ich mit Millennials aus Deutschland, Ost- und Südeuropa zusammen. Beinahe alle sind wegen Beruf oder Studium nach Kopenhagen gekommen. Studierende aus der EU erhalten umgerechnet 850 Euro Stipendium im Monat.
Aber zurück zur Sprache. Für Deutsche ist Dänisch theoretisch leicht zu verstehen und zu sprechen. Die Aussprache hat aber null mit dem Geschriebenen zu tun. Es wird ungeheuer viel genuschelt. Es gibt Vokabeln, die kaum aussprechbar sind. Eine Kartoffel soll man in den Mund stecken, um den richtigen Ton zu generieren, sagen die Dänen.

Kopenhagen ist extrem sauber
Es gibt in Kopenhagen eine Kette von Business-Hotels mit dem deutschen Namen „ordnung“ (kleingeschrieben, natürlich). Die Einheimischen scheinen ambivalente, ironische Assoziationen zu Deutschland und Ordnung zu haben. Tatsache ist, dass Dänemark, neben der Schweiz, vielleicht das „ordentlichste“ Land ist, das ich kenne. In fast allen Hinsichten. Kopenhagen ist extrem sauber. Es gibt kaum eine Fläche, die nicht irgendwie gestaltet ist. Der dänische Alltag ist stramm organisiert. Treffen mit Freunden werden Wochen im Voraus im Terminkalender eingetragen. Auch das Saufen ist geplant: Der kontrollierte Verlust der Kontrolle fängt für viele am frühen Freitagnachmittag an.
Dagegen vermisse ich die spontanere Berliner Weggeh- und Café-Kultur sowie das simulierte Faulenzen als Freelancer. In Kopenhagen kostet ein Flat White sechs Euro, ein Fassbier sieben bis zehn Euro. Lebenskünstlertauglich ist das nicht.
Neuerdings ist neues Glück in mein Leben gekommen. Nein, kein weiteres Kind, sondern ein 50 Jahre altes Segelboot, geteilt mit fünf Dänen und Däninnen. „Ophelia“ ist nur 15 Fahrradminuten von uns im Schatten der ikonischen Öko-Müllverbrennungsanlage und Skipiste Copenhill angelegt. Über einen Facebook-Post kam das zufällig zusammen. Morgen ist meine erste Segelfahrt. Ich bin aufgeregt. Der Rest des Sommers wird gut. Jetzt brauche ich nur noch einen Plan für die dunkle Jahreshälfte.








