Ukraine-Krieg

Dmitri Medwedew: Sanktionen sind ein legitimer Grund für eine Kriegserklärung

Dmitri Medwedew gab ein Interview und äußert sich provokant: Die Ukraine werde in der russischen Einflusssphäre bleiben. Wird er Putins Nachfolger?

Dmitri Medwedew
Dmitri Medwedewdpa/Dmitry Astakhov

Seit Beginn des russischen Angriffskrieges gegen die Ukraine vergeht kaum eine Woche ohne vor Gossensprache nicht zurückschreckenden Drohgebärden und Schimpfkanonaden des ehemaligen Hoffnungsträgers der politischen Modernisierung Russlands – des stellvertretenden Vorsitzenden des Sicherheitsrates der Russischen Föderation, ehemaligen Staatspräsidenten, langjährigen Regierungschefs und der vorzeigeliberalen Zukunftshoffnung Dmitri Medwedew.

So bezeichnete Medwedew beispielsweise am 25. Juni 2022 nach Erhalt des EU-Beitrittskandidatenstatus durch die Republik Moldawien in seinem Telegramkanal die Politik der moldawischen Regierung als russlandfeindlich und drohte Chisinau den Verlust der Eigenstaatlichkeit an. Am 15. Juni 2022 kündigte Medwedew an, die Ukraine brauche die kürzlich abgeschlossenen LNG-Lieferverträge mit „ihren transatlantischen Herren“ nicht, da das Land womöglich in den kommenden zwei Jahren von der Weltkarte getilgt sein werde.

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Zum Autor
Dr. Alexander Dubowy ist Politik- und Risikoanalyst sowie Forscher zu internationalen Beziehungen und Sicherheitspolitik mit Schwerpunkt auf Osteuropa, Russland und GUS-Raum. Er ist Mitarbeiter der Berliner Zeitung am Wochenende.

Ziele der sogenannten Spezialmilitäroperation Russlands gegen die Ukraine

In einem Telegram-Post vom 5. April beschuldigte Medwedew die ukrainischen Streitkräfte, die Kriegsverbrechen in den Kiewer Vorstädten begangen zu haben, wiederholte die Forderung nach einer grundlegenden Entmilitarisierung und Entnazifizierung der Ukraine und postulierte als das erklärte Ziel Russlands die Notwendigkeit, „das blutgetränkte vor falschen Mythen überquellende Bewusstsein“ eines wesentlichen Teils der ukrainischen Bevölkerung zu ändern. Dieser Schritt sei um des künftiger ukrainischer Generationen Friedens willen unumgänglich. Denn ausschließlich auf diese Weise bestehe die Chance, endlich „ein weltoffenes Eurasien“ – von Lissabon bis Wladiwostok – aufzubauen, so Medwedew.

Am 29. Juni 2022 gab Medwedew ein langes, angriffslustiges Interview gegenüber der meistgelesenen russischen Wochenzeitung „Argumenty i fakty“. Dabei kam eine Vielzahl an Themen zur Sprache, welche sich im Wesentlichen auf drei Bereiche zusammenfassen lassen: Ziele der sogenannten Spezialmilitäroperation Russlands gegen die Ukraine; internationale Sanktionen und ihre Folgen sowie den Nato-Beitritt Finnlands und Schwedens.

„Im Übrigen bin ich der Meinung, dass Kiew zerstört werden muss“

Die zentrale Zielsetzung Russlands in der Ukraine bestehe in der Vernichtung der Neonazis und Faschisten, die in Kiew 2014 die Macht ergriffen und die Menschen im Donbass terrorisierten. Die sogenannte Spezialmilitäroperation richte sich nicht gegen die Zivilbevölkerung. Faktenwidrig behauptet Medwedew, dass Moskau ausschließlich Hochpräzisionswaffen einsetze. Zwar betont Medwedew, dass die Ukrainer über ihre Zukunft selbst entscheiden werden, zeigt sich jedoch zuversichtlich, dass angesichts der „Unteilbarkeit von Kultur, Geschichte und familiären Bindungen zwischen Russland und der Ukraine“ die Ukraine in der russischen Einflusssphäre verbleiben werde.

Letzteres sei für die Menschen der Ukraine besser, als dem Westen beizutreten, wo sie niemals vollwertige Mitglieder sein könnten, sondern stets als billige Arbeitskräfte dienen werden. Von der Richtigkeit des einstigen Leitmotivs seiner Präsidentschaft (2008-2012) „Freiheit ist besser als Unfreiheit“ zeigt sich Medwedew nach wie vor überzeugt. Russlands Einsatz in der Ukraine diene dem Schutz der Freiheit, der Befreiung des Donbass sowie Entmilitarisierung und Entnazifizierung der Ukraine.

USA möchten Russland schwächen

Die aktuellen Sanktionen seien für Russland nicht überraschend und mit Blick auf die „langjährige, russophobe Politik des Westens“ erwartbar. Den eigentlichen Grund für die Sanktionspolitik sieht Medwedew in der aggressive Politik der USA.

Nachdem Washington Moskau als Bedrohung betrachte, möchten die Vereinigten Staaten jedwede Entwicklung Russlands ausbremsen. Staaten, die die Sanktionen unterstützen, seien nicht souverän, von den USA abhängig und nicht in der Lage, in ihren eigenen Interessen zu handeln. Insofern erfülle die sogenannte Spezialmilitäroperation gegen die Ukraine eine bloße Katalysatorrolle und beschleunige lediglich den unentrinnbaren Ereignislauf. Auch ohne den russischen Einsatz in der Ukraine würde der westliche Druck gegen Russland auf Befehl der USA wachsen. Schließlich sei dies aus historischer Sicht nicht neu, so Medwedew.

Ungeachtet der Schwierigkeiten werde Russland überleben und mit Unterstützung der nicht unter amerikanischer Herrschaft stehenden Staaten gedeihen. Aktuell gelte es insbesondere die – in den Verantwortungsbereich Medwedews im Sicherheitsrat der Russischen Föderation fallenden – Importsubstitutionen zu stärken sowie die technologische Souveränität Russlands sicherzustellen.

Am Tag nach dem Interview legte Dmitri Medwedew nach und bezeichnete die internationalen Sanktionen als einen legitimen Grund für eine Kriegserklärung.

Litauen auf Sauerstoffentzug

Für die Transiteinschränkungen in die russische Exklave Kaliningrad gibt Medwedew allein der litauischen Regierung die Schuld. Die Behauptung, Vilnius habe lediglich die Anweisungen Brüssels befolgt, seien unhaltbar. Litauens Entscheidung sei allein auf die „USA-hörige“ und „debil-russophobe“ Politik zurückzuführen. Russland werde mit Sicherheit Vergeltungsmaßnahmen üben, von denen die meisten wirtschaftlicher Art sein werden und dem gesamten Baltikum „die Luft zum Atmen“ nehmen. Auch wenn nach Meinung Medwedews die Mehrheit der litauischen Bevölkerung die überschießenden Maßnahmen ihrer Regierung nicht mittrage, werden sie dennoch von russischen Gegenmaßnahmen in Mitleidenschaft gezogen.

Eine Wohlfühlerweiterung der Nato

Die Erweiterung der Nato um Finnland und Schweden sei „keine große Sache“. Eine potentielle Mitgliedschaft der Ukraine in der Nato dürfe mit dem Beitritt Finnlands und Schwedens nicht verglichen werden. Im Gegensatz zum Fall der Ukraine habe Russland weder mit Finnland noch mit Schweden territoriale Konflikte. Auch wenn sich die Nato-Russland-Grenze verdopple, entstehe dadurch keine neue Bedrohung. Falls die Nato sich durch die Erweiterung in Skandinavien besser fühle, solle dem so sein, zeigt sich Medwedew großzügig. Die Ostsee werde allerdings ihren nichtnuklearen Status verlieren, auch sehe sich Russland gezwungen, die Militärpräsenz in der Region erheblich auszubauen.

Säuberungen in den Reihen der Nationalverräter

Das Verhalten des ehemalige Präsidenten Russlands Dmitri Medwedew, welcher über viele Jahre sowohl in Russland als auch im Westen als Hoffnungsträger einer politischen Liberalisierung Russlands galt, lässt sich zu einem gewissen Teil über den Abgrenzungswunsch Medwedews von seinen ehemaligen Weggefährten aus den Reihen russischer wirtschaftsliberaler Eliten erklären.

Russland ist mitten in einer gegen Kriegsgegner und „Nationalverräter“ gerichteten Säuberungswelle. Die sogenannten Systemliberalen in den russischen Eliten haben ihre einst überaus gewichtige politische Rolle eingebüßt und befinden sich seit einigen Jahren im Rückzug. Die wirtschaftsliberalen und – naheliegenderweise nur sehr bedingt – prowestlichen Kriegsgegner innerhalb der Regierung scheinen seit Beginn des Angriffskrieges jedwede Einflussmöglichkeiten auf die Entscheidungen der Staatsführung verloren zu haben und sind endgültig zu technokratischen, um Schadensbegrenzung bemühten Verwaltern degradiert worden.

Am 30. Juni erfolgte aufgrund mutmaßlicher Veruntreuungsvorwürfe die Verhaftung von Wladimir Mau, einem führenden russischen Systemliberalen, langjährigem Rektor der Russischen Akademie für Volkswirtschaft und Öffentlichen Dienst beim Präsidenten der Russischen Föderation (RANEPA), Wegbegleiter des Anfang der 1990er-Jahre für die grundlegenden marktwirtschaftlichen Reformen zuständigen Wirtschaftsministers und (stellvertretenden) Regierungschefs Jegor Gaidar sowie über zwei Jahrzehnte Aufsichtsratsmitglied von Gazprom. Jahrzehntelang bemühte sich Mau erfolglos um eine innere Reform Russlands.

Pikanterweise unterzeichnete Wladimir Mau zusammen mit der Russischen Rektorenvereinigung im März 2022 ein gemeinsames Schreiben zur Unterstützung Wladimir Putins und der sogenannten Spezialmilitäroperation gegen die Ukraine. Wladimir Maus Verhaftung erfolgte just am Tag seiner Wiederbestellung in den Aufsichtsrat von Gazprom, was auf einen Befehl zur Verhaftung von höchster Stelle hindeutet. Denn mittlerweile scheinen alle von den Silowiki (Personen mit Geheimdienst-, Polizei- oder Militärhintergrund) als regimekritisch empfundenen politischen Kräfte (und seien diese stets noch so unzweifelhaft loyal gewesen) als Feinde aufgefasst zu werden.

Medwedew als selbsterklärtes Sprachrohr Putins und Möchtegernnachfolger

Der eigentliche Grund für die mediale Hyperaktivität Medwedews dürfte in den nach wie vor bestehenden Machtambitionen des langjährigen engen Wegbegleiters Wladimir Putins liegen. Durch die aggressive Rhetorik jenseits des guten diplomatischen Tons sorgt Medwedew für anhaltendes Interesse der Medien und bleibt auf diese Weise im Bewusstsein der Eliten und der Bevölkerung präsent.

Auffallend ist ferner die direkte Berufung auf Wladimir Putin sowie die unübersehbare Übernahme nicht nur der Inhalte sondern auch der rhetorischen Stilmittel Putins.

Russlands Eliten beim Wort nehmen

Das Interview mit Dmitri Medwedew, dem einstigen Vorzeigeliberalen Russlands und Liebkind des Westens, sowie die überdeutlichen Worte Putins am Rande des 6. Gipfeltreffens der Anrainerstaaten des Kaspischen Meeres (Aserbaidschan, Iran, Kasachstan, Russland, Turkmenistan) am 29. Juni 2022 in Aschgabad zeigen zum wiederholten Male seit Beginn des russischen Angriffskrieges gegen die Ukraine, dass die russische Führung in einer selbstgerechten Filterblase eigener abstruser Weltanschauung lebt.

In seinem Interview fasst Medwedew die Positionen der Kriegselite des Kremls zu wesentlichen Themen gut zusammen. Der überwiegende Teil der russischen Eliten ist von der feindlichen Gesinnung des Westens überzeugt, sieht sich im Zugzwang und glaubt durch eine konstruktive, auf eine ernstzunehmende diplomatische Lösung abzielende Haltung im Krieg gegen die Ukraine nichts zu gewinnen, aber nur noch mehr zu verlieren.

Eine auch nur schrittweise Aufhebung der Sanktionen könne nach – wohl zutreffender – Meinung Moskaus ausschließlich durch eine aktive Mitwirkung Kiews erfolgen. Diese Mitwirkung und im Idealfall auch eine de facto bedingungslose Kapitulation der Ukraine wird Russland um beinahe jeden Preis und möglichst schnell zu erzwingen suchen. Ob dieses Unterfangen auch tatsächlich gelingt, hängt von der – zunehmend schwächelnden und in den Bereich der reinen Symbolpolitik abdriftenden – westlichen Unterstützungsbereitschaft für die ukrainische Führung ab.

Frieden ist niemals alternativlos

Es ist schon lange an der Zeit, sich endgültig vom naiven Glauben zu verabschieden, wonach der Frieden in Europa alternativlos sei und alle Akteure zwingend eine diplomatische Lösung zu erreichen hoffen. Frieden, den man in letzter Konsequenz nicht mit Waffengewalt zu verteidigen bereit ist, kann nicht von Dauer sein. Keine faktenwidrigen und selbstgerechten Waffenstillstandsaufrufe und Appelle deutscher Intellektueller werden an dieser einfachen Wahrheit etwas ändern können.

Die Friedensverhandlungen zwischen der Ukraine und Russland verlaufen seit 28. Februar 2022 ergebnislos. Möglicherweise ist es an der Zeit, am 128. Tag des russischen Angriffskrieges gegen die Ukraine Putin und der russischen Führungsriege zuzuhören. Seit dem 24. Februar sagt Wladimir Putin im Wesentlichen stets das Gleiche: Russlands Ziele in der Ukraine bleiben unverändert. Von welchem Dialog kann und soll da die Rede sein?

Der Westen wäre gut beraten, die politischen Entscheidungen auf der festen Grundlage tatsächlicher Handlungen und Äußerungen russischer Führung zu treffen und nicht auf dem sprichwörtlichen Sand selbstgerechter Scheinfriedenspolitik. Die eigentliche Gretchenfrage, die sich dem Westen in all ihrer erschreckend banalen Deutlichkeit in den kommenden Wochen stellt, lautet: „Nun sag, wie hast du es mit der Souveränität der Ukraine?“ Eine ehrliche Antwort Deutschlands auf diese Frage dürfte erschreckend sein.

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