Mobilität

Streit um Radwege eskaliert: Bezirke stellen Manja Schreiner Ultimatum

Mehrere Millionen Euro drohen zu verfallen, wenn die Senatorin den Projektstopp nicht aufhebt, warnen Grünen-Politikerinnen. Doch Schreiner will nicht nachgeben.  

Sieben Jahre nach dem ersten Beschluss wurde in der Ollenhauerstraße in Reinickendorf für 280.000 Euro ein Radfahrstreifen markiert. Doch das Bezirksamt ließ ihn ungültig machen.
Sieben Jahre nach dem ersten Beschluss wurde in der Ollenhauerstraße in Reinickendorf für 280.000 Euro ein Radfahrstreifen markiert. Doch das Bezirksamt ließ ihn ungültig machen.Thomas Trutschel/imago

Jahrelang wurde debattiert, geplant, geprüft und schließlich genehmigt. Doch weil die neue Mobilitätssenatorin Manja Schreiner jetzt erst einmal den Geldhahn zugedreht hat, droht in Berlin Radverkehrsprojekten mit einem Investitionsvolumen von mindestens zehn Millionen Euro das Aus. Am Dienstag haben die für die Straßen zuständigen Bezirksstadträtinnen und -stadträte der Grünen der CDU-Politikerin jetzt öffentlich ein ziemlich knappes Ultimatum gestellt. „Wir erwarten die Entscheidung zur Freigabe bis Mittwoch, Dienstschluss“, sagte Almut Neumann aus Mitte. Ansonsten könnten viele Maßnahmen 2023 nicht mehr umgesetzt werden, und es sei ungewiss, ob das jemals wieder möglich sein werde. Folge wäre, dass Bundes- und Landesgelder verfallen.

In der Siegfriedstraße in Lichtenberg wurde ein Radfahrer im Jahr 2020 bei einem Unfall getötet. Dort sollen geschützte Radfahrstreifen angelegt werden – mehr als sechs Jahre nach den ersten Diskussionen und nach diversen Umplanungen, die es ermöglichen, einen Teil der Parkplätze zu erhalten. In der Stallschreiberstraße in Kreuzberg wiederum klagen Rettungskräfte immer wieder darüber, dass sie zwischen den geparkten Autos mit ihren Einsatzfahrzeugen nicht durchkommen. Dort möchte das Bezirksamt ebenfalls in diesem Sommer eine Fahrradstraße einrichten, die das Problem lindern soll.

Das sind zwei Beispiele unter den vielen Radverkehrsprojekten, die von der neuen Senatorin gestoppt worden sind. Am 15. Juni wies die Senatsverwaltung Bezirksämter an, Vorhaben, für die Fahrstreifen oder mehr als ein Autostellplatz wegfallen müssten, weder anzuordnen noch umzusetzten. Vom 20. Juni datiert ein Schreiben von Schreiners Haushaltsabteilung, wonach es für alle Radverkehrsprojekte, die Flächen für den Kraftfahrzeugverkehr betreffen, vorerst kein mehr Geld gibt. Die große Koalition macht ihre Ankündigung wahr, dem Autoverkehr mehr Aufmerksamkeit zu schenken.

„Wir hatten viele Fragen, bekamen aber kaum Antworten“

Am Dienstag machten Grünen-Bezirkspolitikerinnen klar, was das bedeutet: Ein Kahlschlag droht. „Wir könnten zahlreiche Projekte nicht realisieren“, sagte Saskia Ellenbeck aus Tempelhof-Schöneberg. Der Senat habe die im März erteilten Finanzierungszusagen für die geschützten Radfahrstreifen in der Haupt- und Grunewaldstraße zurückgezogen, berichtete sie. Dort gehe es um rund 2,1 Millionen Euro, die nach jahrelangen Vorbereitungen in diesem Sommer verbaut werden sollten.

In Treptow-Köpenick steht der geplante Radfahrstreifen im weiteren Verlauf des Adlergestells auf der Kippe, berichtete Stadträtin Claudia Leistner. 800.000 Euro stünden bereit, dürften aber nun erst mal nicht verbaut werden. In Lichtenberg drohten rund zwei Millionen Euro zu verfallen, so ihre Amtskollegin Filiz Keküllüoğlu. Ungewiss sei nun auch, ob die vorgesehene Radverkehrsanlage in der Scheffelstraße gebaut werden kann. In Mitte droht dem Radfahrstreifen in der Beusselstraße das Aus. In Friedrichshain-Kreuzberg könnten Umbauten in der Frieden-, Prinzen- sowie Scharnweberstraße nicht realisiert werden. Es geht um anderthalb Millionen Euro, sagt Stadträtin Annika Gerold.

Ein Gespräch mit Manja Schreiner und ihrer Staatssekretärin Claudia Elif Stutz, das am Montag stattfand, habe keine Klarheit gebracht. Ganz im Gegenteil: „Wir hatten viele Fragen, bekamen aber kaum Antworten“, klagte Keküllüoğlu am Tag danach. Dagegen ist in einer Pressemitteilung aus dem Hause Schreiners von einem „konstruktiven Miteinander“ die Rede. „Wir prüfen die Radwege, die der vorige Senat geplant hat, und werden diese priorisieren“, heißt es darin. „Wir prüfen, ob es Alternativen zu den derzeitigen Planungen gäbe, damit Einschränkungen für den motorisierten Individualverkehr, den ÖPNV und den ruhenden Verkehr geringer ausfallen.“

Stadträtin warnt Senatorin vor „Herkulesaufgabe“

Das neue Leitungsteam in der Senatsverwaltung habe offenbar noch keine Ahnung davon, welche „Herkulesaufgabe“ es sich aufgeladen habe, entgegnete Annika Gerold am Dienstag. Mehrjährige Abwägungsprozesse sollen in kurzer Zeit untersucht und gegebenenfalls infrage gestellt werden – das sei nicht leistbar. Wenn es tatsächlich zu Umplanungen käme, wachse zudem die Gefahr, dass zugesagte Fördergelder vom Bund tatsächlich verfallen. Nicht nur, weil es dann meist zeitlich nicht mehr möglich wäre, das Geld noch 2023 auszugeben. Sondern auch, weil die Vorhaben nach den Änderungen nicht mehr dem Stand entsprächen, auf den sich die Förderzusagen einst bezogen haben.

In ihrer am Dienstag veröffentlichten Erklärung fordern die fünf Stadträtinnen und drei Stadträte die Senatsverwaltung außerdem auf, bis zum 5. Juli über alle Planungen zu entscheiden. Falls tatsächlich Fördergelder wegfallen, müsse das Land die Kosten übernehmen. Das Allgemeine Sicherheits- und Ordnungsgesetz sehe vor, dass die Bezirke für die Nebenstraßen zuständig sind. Deshalb dürfe der Senat Radverkehrsprojekten im untergeordneten Straßennetz keine Steine in den Weg legen.

Langsamerer Gang bei Straßenbahnprojekten

Ob verfallene Bundesgelder 2024 oder später nachgereicht werden, sei ungewiss, lautete die Warnung. Der Ausgabenstopp könnte sich langfristig auch auf das Personal in den Bezirksämtern auswirken, warnten die Politikerinnen. Mit der möglichen Folge, dass Beschäftigte zu anderen Arbeitgebern abwandern. Stadträtin Leistner aus Treptow-Köpenick sprach von einer „großen Frustration“. Es war schwierig, für die Planerstellen in den Bezirksämtern Bewerber zu finden, berichtete Saskia Ellenbeck aus Tempelhof-Schöneberg. „Uns ist es gelungen. Aber jetzt sind die Mitarbeiter verunsichert.“

„Mein Anliegen und Ziel ist ein sicherer und funktionierender Verkehrsfluss ohne Einseitigkeiten eines Verkehrsträgers. In diesem Kontext schauen wir uns alles an“, betonte die neue Senatorin. Dem Vernehmen nach sind nicht nur Rad-, sondern auch Fußverkehrsprojekte betroffen. In Fall der Straßenbahnprojekte, die bei der CDU unbeliebt sind, wurde ein langsamerer Gang eingelegt, ist aus der Senatsverwaltung zu erfahren.

„Ohne uns kann Frau Schreiner ihre Ziele nicht erreichen“

Sie lasse sich kein Ultimatum stellen: Das soll Manja Schreiner während des Gesprächs am Montag gesagt haben. In der offiziellen Stellungnahme bekräftigte die CDU-Politikerin: „Wir werden mehr und sichere Radwege schaffen. Ich möchte, dass in dreieinhalb Jahren das Radfahren in Berlin sicherer geworden ist.“ Die Grünen-Stadträtinnen wünschen sich das ebenfalls, versicherten sie am Dienstag.

Allerdings: „Wenn der Senat tatsächlich mehr Radwege will, dann braucht er uns, die Bezirke“, sagte Saskia Ellenbeck. „Ohne uns kann Frau Schreiner ihre Ziele nicht erreichen.“ Die Senatorin kündigte ein weiteres „konstruktives Miteinander“ an.