Umgang mit baulichem DDR-Erbe

„Sauerei“: Anwohner kämpfen gegen Luxuswohntürme am Helene-Weigel-Platz in Marzahn

Der zentrale Platz, geplant als Eingangstor nach Marzahn, soll zugebaut werden. Anwohner erklären, warum sie für die Bewahrung dieses DDR-Erbes kämpfen.

Markus Berg und Marika Wagner von der Anwohnerinitiative gegen die Luxuswohntürme
Markus Berg und Marika Wagner von der Anwohnerinitiative gegen die LuxuswohntürmeIna Schoenenburg/Ostkreuz

So, wie er ist, sei der Helene-Weigel-Platz doch perfekt, sagt Marika Wagner. Sie habe sich das von Professor Eisentraut erklären lassen. Professor Eisentraut – so nennt sie den Architekten Wolf R. Eisentraut, ohne den die DDR anders ausgesehen hätte. Der Henselmann-Schüler hat die wichtigste Platte mitentwickelt, die WBS 70 genannt wird, sowie den Palast der Republik und eben auch das größte deutsche Neubaugebiet der Nachkriegszeit: Berlin-Marzahn.

Die Rentnerin Wagner war dabei, als Eisentraut neulich vor 150 Besuchern im Rathaus am Helene-Weigel-Platz auftrat. Das Eingangstor nach Marzahn nannte er diesen Platz, der in den letzten Jahren der DDR als beispielhaftes Zentrum des gesellschaftlichen Lebens galt. Nun sind hier vier neue Wohntürme geplant. Sollten sie tatsächlich gebaut werden, wäre der Platz nach Ansicht von Marika Wagner endgültig verschandelt.

Im Mittelpunkt des Platzes steht das Rathaus

Im Mittelpunkt des Platzes, den Marzahner oft einfach „Heli“ nennen, steht in freundlicher Bescheidenheit das Rathaus. Seine Glasfront ist durchzogen von Säulen aus verklinkertem Beton. Sie gabeln sich nach oben hin. Eisentraut hat sie als stilisierte Ähren entworfen. Zu dieser Art Volksnähe passt die Ratsbierstube im dreischiffigen Gewölbekeller. Sie ist dem Ausschank in Ratshäusern des Mittelalters nachempfunden.

Vor dem Verwaltungsgebäude plätschert ein Brunnen mit Bronzeplastiken: Denker, Sportler, Motorrad. Drum herum ragen drei Wohntürme mit jeweils 23 Stockwerken in den Himmel. In jedem wohnen an die 1000 Menschen. Nimmt man die drei zusammen, hat man eine kleine Stadt.

Die Türme, hochgezogen 1985, Typbezeichnung SK-65, sind schicker als andere Platten. „Gibt es sonst nur noch in der Leipziger Straße zu bewundern“, sagt Marika Wagner, die in einem der Türme im 15. Stock wohnt und sich als leidenschaftliche Marzahnerin bezeichnet.

Sie ist 1979 hergezogen und kann sich noch gut an das Leben am DDR-Musterplatz erinnern. An das Gewusel im kleinen Kaufhaus, in der Kaufhalle und im Dienstleistungswürfel. Die drei Gebäude wurden vor etwa 20 Jahren im Rahmen des Stadtumbaus Ost abgerissen, einem Bund-Länder-Programm „für lebenswerte Städte“.

Kaufhalle und Würfel wurden durch Gebäude in ähnlicher Größe ersetzt, die allerdings nicht mehr zu den Umgebungsbauten passen. Aus der Kaufhalle wurde ein Rewe, im Würfel gibt es Billigkleidung bei Ernsting’s und NKD sowie einen Paketshop.

Eine der SK-65-Platten und das Rathaus mit den stilisierten Ähren.
Eine der SK-65-Platten und das Rathaus mit den stilisierten Ähren.Ina Schoenenburg/Ostkreuz

Auf dem so zusammengewürfelten Rathausvorplatz ist die Aufenthaltsqualität noch recht hoch. Aber der Teil des Platzes, der sich hinter dem Rathaus erstreckt, lädt absolut nicht zum Verweilen ein. An einem großen Parkplatz steht ein Ärztehaus, die frühere Poliklinik, sowie eine Ruine, in der bis 2007 das Kino Sojus untergebracht war.

Diese Ruine soll zwei neuen Wohntürmen weichen. Die anderen beiden Neubauten sind vor dem Rathaus geplant. Beim Rewe, Blickrichtung Alexanderplatz.

„Wat wollt ihr hier? Wegreißen?“ war die erste Reaktion der Anwohner.

Die Anwohner hörten Ende 2023 zum ersten Mal von den Nachverdichtungsplänen. Auf einer Veranstaltung des CDU-Politikers Christian Gräff in der Lomonossow-Schule um die Ecke. Gräff ist in Pankow aufgewachsen, Mitglied des Abgeordnetenhauses seit 2016 und wollte den Marzahnern damals vor allem die frohe Botschaft verkünden, dass der Schandfleck von Kinoruine endlich wegkomme. „Da ging das Theater los“, sagt Marika Wagner. „Wat wollt ihr hier? Wegreißen?“ sei die erste Reaktion der Anwohner gewesen. „Wat soll dit?“

Sie ist Mitglied einer Bürgerinitiative gegen den Bau der vier „Luxuswohntürme“. In einer Kladde hat sie eine Chronologie der Bekanntgaben und Proteste dabei. Sie schlägt vor, sich im Rathaus einen ruhigen Platz zu suchen.

Das Kino Sojus habe sie geliebt, sagt sie. Es war ein Ort, an dem man sich zum Feierabend treffen konnte. Zum Filmegucken oder im Café. Von solchen Orten gibt es hier nicht viele. Das einzige Restaurant sei „der Grieche“. Im Rewe stehen drei Café-Tischchen am Backshop. Das war’s am einstigen Vorzeigeplatz.

Das Rathaus wird gerade ausgeräumt. Es soll bis 2027 saniert und dann auch wieder Bürgermeisterei werden. Als eine solche hat es Eisentraut gebaut. Aber derzeit residiert die CDU-Bezirksbürgermeisterin zur Miete in einem 08/15-Bürogebäude in Hellersdorf.

Im Rathaus Marzahn waren bis vor wenigen Tagen Jugend-, Bau- und Katasteramt untergebracht. Auch innen macht das Verwaltungsgebäude etwas her. Die Lobby ist nach oben offen bis zum Dach. Von versetzten Balkonen an den Rändern hingen bis vor kurzem jede Menge Grünpflanzen herunter. Man wähnte sich in einer Art Gewächshaus. Hier wurde auch schon ein Spielfilm gedreht.

Gerade werden die letzten Pflanzen abtransportiert. Wir finden noch drei Stühle. Marika Wagner vertritt die Anwohnerinitiative im Gespräch nicht allein, sondern gemeinsam mit Markus Berg. Der 31-jährige Bankkaufmann wohnt seit einigen Jahren etwa 800 Meter Luftlinie vom Platz entfernt.

Das Kino Sojus kennt er nur als Ruine, als düsteren Taubenschlag. Eines Nachts sei er mit Freunden vorbeigelaufen. Ein Notausgang stand offen. Es habe „diesen Sog“ gegeben, hineinzugehen. Er konnte widerstehen, war nicht drin.

Markus Berg kennt die DDR nur vom Hörensagen.

Bevor die Ruine richtig versperrt wurde, hausten Obdachlose darin, sagt Marika Wagner. Anwohner hätten sich nach der Schließung gewünscht, dass dort ein Wohngebietstreff eingerichtet werde. Ein Ort der Kultur und Begegnung. Wie früher, als dort noch Jugendweihen gefeiert wurden.

Wohngebietstreff, Jugendweihe, Eisentraut – manchmal klingt es, als sehnten sich diese Marzahner zurück in die DDR. Aber sie wollen nur retten, was seit dem Untergang dieses Staates gering geschätzt wurde. Sich gegen den Ruf von der hässlichen Platte wehren, der nichts mit ihren Erfahrungen zu tun hat. Das eint sie.

Motorrad, Sportler, Wasserspiele: der Brunnen vor dem Rathaus
Motorrad, Sportler, Wasserspiele: der Brunnen vor dem RathausIna Schoenenburg/Ostkreuz

Als Markus Berg in einer Marzahner Platte aufwuchs, gab es die DDR nicht mehr. Mit welcher Verachtung ihre städtebaulichen Planungen gestraft wurden, hat er dann aber mitbekommen. Und es ärgert ihn. Marzahn sei von schlauen Leuten konzipiert worden, sagt er. Der Grüngürtel, die öffentlichen Orte, die Verkehrsanbindung – alles fein säuberlich aufeinander abgestimmt. Für die größtmögliche Wohnqualität. „Die Kinder zum Beispiel sollten raus auf die Wiese können zum Spielen, überall abseits der nächsten großen Straße.“

Mit dem Ende der DDR sei das alles in die Tonne getreten worden. Es gebe keine Bebauungspläne, hieß es auf einmal. „Als ob das in der DDR ein Dschungel gewesen wäre“, sagt Berg. Die Ignoranz erleichtert das Bauen in Wildwestmanier, findet er.

Berlin braucht Wohnungen, Marzahn muss es ausbaden.

Tatsächlich schießen Wohnblöcke in Marzahn seit Jahren wie Pilze aus dem Boden. Alles wird damit zugestopft. Auch vor der Wohnung von Markus Berg wird gerade ein Block gebaut. Ein weiterer ist in Planung. In zwei Kilometern Luftlinie kommen 1700 Wohneinheiten auf ein einstiges Fabrikgelände. Konnekt Berlin wird das Quartier heißen.

Berlin braucht Wohnungen, Marzahn muss es ausbaden. Auch am Helene-Weigel-Platz mit seinem Einzugsgebiet. Die neuen Nachbarn von Berg werden bald ebenfalls hier einkaufen und in die Bahnen einsteigen. „M8, S7 und S75“, zählt Berg die beliebtesten auf. Im Berufsverkehr seien diese Linien jetzt schon rappelvoll.

Die Ruine, in der früher das Kino Sojus untergebracht war. Der Parkplatz nebendran ist nachmittags gut gefüllt.
Die Ruine, in der früher das Kino Sojus untergebracht war. Der Parkplatz nebendran ist nachmittags gut gefüllt.Ina Schoenenburg/Ostkreuz

Sollten die Türme am Heli wie geplant gebaut werden, würden noch einmal 1200 Menschen mehr direkt am Platz wohnen. Was Markus Berg vermisst, ist ein Gesamtplan. „Alles ist zerstückelt. Jede Parzelle gehört irgendwem, jeder macht sein Ding, wie es ihm gerade einfällt.“

Seit Anfang 2024 sind die beiden in der Initiative gegen die vier neuen Türme organisiert. An die 100 Mitglieder haben Flyer verteilt und politischen Druck gemacht, vor allem über die Opposition im Bezirksparlament. Durchaus mit Erfolgen.

„Ihr habt kein Recht zu wissen, wem das gehört“

Im Sommer kam CDU-Bezirksstadträtin Heike Wessoly vorbei, behielt aber für sich, was nun genau am Platz geplant war und von wem. Die Grundstücke hatte das Land längst verkauft. „Das sind Privatinvestoren“, wurde den Anwohnern mitgeteilt, „ihr habt kein Recht zu wissen, wem das gehört.“

Ende 2024 wurde dann doch alles offengelegt. Auf einer Einwohnerversammlung des Bezirksamts. „Wir sehen das als Erfolg unserer Initiative“, sagt Markus Berg. Sie wissen nun wenigstens, wogegen sie kämpfen: Die Sojus-Ruine hinter dem Rathaus soll zwei Zwölfstöckern des niederländischen Familienunternehmens Ten Brinke weichen. Vor dem Rathaus plant die Vivion-Gesellschaft des israelischen Investors Amir Dayan ebenfalls zwei Türme, mit 16 und 18 Stockwerken. Sie würden den Platz verschatten, sagt Berg, die Eisentraut’schen Sichtachsen zerstören.

Bei der Versammlung im Dezember habe das Bezirksamt „einen sehr paternalistischen Umgang“ an den Tag gelegt, meint er noch. Marika Wagner nickt und erzählt, wie der Leiter des Stadtentwicklungsamtes, Hendrik Keßlau, auf die Frage, ob Eisentraut einbezogen wurde, antwortete: Nee, der ist alte Garde und jetzt sollen die Jungen hier mal das Neue bauen.

Amtsleiter Keßlau hat seine Antwort anders in Erinnerung

Amtsleiter Keßlau hat seine Antwort etwas anders in Erinnerung. Die Planungen seien öffentlich ausgeschrieben worden, habe er den Anwohnern erläutert. Eisentraut habe sich nicht beworben, „ein jünger besetztes Architekturbüro die Ausschreibung gewonnen. Warum sollen die das dann nicht auch machen“? So zitiert er es auf Anfrage aus dem Gedächtnis.

Keßlau weiß natürlich, warum sich Eisentraut nicht beworben hat. Der Helene-Weigel-Platz sei fertig und bedürfe keiner weiteren Bebauung, unterstrich der Architekt kürzlich im Rathaus. Wenn überhaupt, könnten flachere Bauten an die Straßen gestellt werden, „alles so weit wie möglich weg“ vom Platz.

Ein Kompromiss, findet Berg. „Etwas, das möglich wäre, ohne die Leute hier zu erdrücken.“ In diesem Geist ist auch der Antrag formuliert, den die Anwohnerinitiative Ende März dem Vorsteher des Bezirksparlaments überreicht hat. Mit immerhin 2000 Unterschriften. Wagner, Berg und die anderen haben dafür immer wieder Infostände aufgebaut und an Tausenden Türen geklingelt. Es hat sie einige Überwindung gekostet. Sie wurden belohnt.

Mit den neuen Wohntürmen drohen auch Verschattungen.
Mit den neuen Wohntürmen drohen auch Verschattungen.Ina Schoenenburg/Ostkreuz

Die Unterschriften gegen die „Luxuswohntürme“ werden derzeit im Wahlamt geprüft. Ist die Hälfte gültig, muss sich das Parlament mit den Forderungen befassen: keine Hochhäuser, Interessen und Belange der Anwohner mitdenken. Marzahn braucht alles Mögliche, wenn man die Anwohner fragt, nur keine weiteren Hochhäuser. Es fehlen Ärzte und Lehrer, Einkaufsmöglichkeiten und Restaurants, Räume für Kleingewerbe, Schulplätze, Kitaplätze, Parkplätze.

Ob die Anwohner den Heili noch aus dem Zangengriff der Investoren ziehen können, bleibt abzuwarten. Erst einmal bekommen sie eine Viertelstunde Rederecht im Bezirksparlament, wahrscheinlich Ende Mai. Markus Berg fürchtet, dass der Antrag dann „in irgendeinem Ausschuss versenkt wird“, das müsse er „leider so zynisch sagen“.

Zumindest der Deal mit Ten Brinke und der Sojus-Ruine scheint so gut wie besiegelt. Zu seinen Fürsprechern zählt nach wie vor auch Christian Gräff, der CDU-Mann aus dem Abgeordnetenhaus. Für Marika Wagner ist dieser Politiker inzwischen der, dessen Namen man nicht nennt.

Die Front ist noch etwas unübersichtlicher geworden.

Am 4. April hatte sie eine Postwurfsendung von ihm im Briefkasten. Es ist ein Brief von Gräff an alle Haushalte am Heli: Er wirft der Bürgerinitiative vor, nun doch für eine Bebauung zu sein. „Eine Frechheit!“, sagt Marika Wagner. Der CDU-Mann schrieb: „Der Bau von neuen Hochhäusern in Blickrichtung des Alexanderplatzes verbietet sich geradezu.“ Er stellt sich nun also gegen zwei der vier Türme, dabei gilt er doch als Verteidiger der anderen beiden Türme. Aber die will er ja auch gar nicht verhindern.

Der Politiker wirft der Bürgerinitiative von Wagner und Berg nun vor, dass sie am Rathaus beim Rewe „leider eben keine Neubebauung verhindern möchte“. Darum werde er das nun selbst „mit einem Antrag im Kommunalparlament tun“ – die beiden Türme verhindern. „Sauerei hoch drei!“, schimpft Marika Wagner. An den Rand des Flyers von der CDU hat sie „Lüge!“ geschrieben.

Die Frontlinien sind unübersichtlicher geworden, die Vorwürfe sind hart. Es wird wohl einen langen Atem brauchen, die Eisentraut’schen Sichtachsen zu erhalten. Aber Marika Wagner und Markus Berg scheinen fest entschlossen.


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