Private Unterkünfte für Flüchtlinge

Private Hilfe: Wie Menschen aus der Ukraine bei Berlinern unterkommen

Zimmer für eine Nacht, eine Wohnung für zwei Monate: Viele Berliner nehmen Menschen aus der Ukraine auf. Wie läuft das ab, wie stellt man sich aufeinander ein?

Flucht von Odessa nach Berlin-Marzahn: Elisaveta mit ihrer Tochter Emilia (r.) und Yana mit ihrer Tochter Maria.
Flucht von Odessa nach Berlin-Marzahn: Elisaveta mit ihrer Tochter Emilia (r.) und Yana mit ihrer Tochter Maria.Berliner Zeitung/Markus Wächter

In einem Haus in Marzahn sind es Regeln, die jetzt allen helfen, mit der neuen Situation zurechtzukommen. Statt drei Menschen wohnen jetzt acht hier zusammen. Die Gastgeber, Deutsche mit ukrainischen Wurzeln, und fünf Menschen, die vor dem Krieg in der Ukraine nach Berlin geflohen sind. Drei Frauen, zwei kleine Mädchen. Bis vor einer Woche kannten sich Gastgeber und Gäste nur sehr entfernt. Ein Kontakt über die Kirche brachte sie zusammen, kurz nachdem der russische Großangriff auf die Ukraine begann und Tausende, Zehntausende, Hunderttausende Menschen aufbrachen, um das Land zu verlassen, so schnell wie nur irgend möglich.

Die Regeln in dem Haus lauten: Jeder duscht täglich maximal fünf Minuten. Die Toiletten im Haus werden aufgeteilt, die Benutzung wie die Reinigung. Als Nächstes sollen Putz- und Wäschedienste verteilt werden. Um Ordnung in das neue Zusammenleben zu bringen, um Ressourcen zu sparen. „Das verstehen wir natürlich“, sagt Yana. Sie ist 32, eine Künstlerin aus Odessa, sie hat große Wandbilder gemalt, davon gelebt, vor zwei Wochen noch. Sie kam mit ihrer Tochter Maria, zehn Jahre alt, ihrer Freundin Elisaveta, 27, die Violinistin ist, und deren Tochter Emilia, sechs Jahre alt. Die Nachnamen der Frauen sollen nicht veröffentlicht werden. Die Väter der Mädchen sind im Krieg. Auf der Flucht schloss sich eine ältere Dame der Gruppe an.

Eine Überforderung für die Stadt

Die fünf erreichten Berlin am Mittwoch. Da begann der große Zustrom in die Stadt gerade erst. Am Donnerstag, eine Woche nach dem Beginn des russischen Angriffs auf die Ukraine von drei Seiten und aus der Luft, kamen 6000 Flüchtlinge in Berlin an. Ein winziger Teil der Menschen, die bisher das Land verlassen haben. Am Sonntag schätzte das Flüchtlingswerk der Vereinten Nationen ihre Zahl auf 1,5 Millionen. Mehr als 800.000 Menschen sind in nur zehn Tagen nach Polen geflohen. Dort, so hört man, schlafen mitunter zehn Menschen in einem Zimmer, sind alle buchbaren Unterkünfte ausgebucht, werden Zeltlager aufgebaut, um den Zustrom weiter bewältigen zu können.

Am Freitag kamen 11.000 Flüchtlinge in Berlin an, immer noch eine kleine Zahl im Vergleich zu Polen. Und zugleich eine Überforderung für die Stadt. Die Zahl der Menschen auf der Flucht, die täglich eintreffen, sei schon höher als im Jahr 2015, schätzte die Sozialsenatorin Katja Kipping am Freitag. Nicht alle wollen in Berlin bleiben, aber weil die meisten Züge am Abend eintreffen, brauchen sie mindestens ein Bett für eine Nacht.

Dass bisher kein komplettes Chaos ausbricht, Menschen nicht massenhaft in Bahnhöfen schlafen, liegt vor allem an den Berlinern. Nicht an den Behörden, am Senat. An Leuten, die nach ihrer Arbeit oder an freien Tagen zum Haupt- oder Busbahnhof eilen, dort übersetzen, Tee ausschenken, an Familien oder WG-Bewohnern, die Zimmer leer räumen, Betten beziehen, Menschen in ihre Wohnungen oder Häuser einladen, die sie nie zuvor gesehen haben, deren Namen sie oft noch nicht einmal kennen. Für eine Nacht, ein paar Nächte, ein paar Wochen, für wer weiß wie lange.

In dem Haus in Marzahn kocht die ältere Dame, die über ihre Flucht noch nicht reden kann, jetzt für alle die Mahlzeiten. Buchweizen wurde ihnen gespendet, daraus wird zu Mittag eine risottoähnliche Mahlzeit mit Pilzen und Zwiebeln. „Wie zu Hause“, sagt Yana. Die jüngeren Frauen kümmern sich um die Kinder. Gerade spielen Maria und Emilia mit Lego und einem Puppenhaus. Ihre Mütter sitzen auf der Couch, zum ersten Mal seit ihrer Ankunft in Berlin haben sie wieder die eigene Kleidung an. Weiche Pullis, eine hübsche Bluse, endlich frisch gewaschen. Die Sachen, die sie trugen, als sie Odessa verließen und dann eine Woche lang auf der Flucht. Viel mehr als diese Kleidung nahmen sie nicht mit. „Nur wichtige Unterlagen, Unterwäsche zum Wechseln und 1,5 Liter Trinkwasser haben wir in unsere kleinen Rucksäcke eingepackt“, sagt Elisaveta. „Leichtes Gepäck. Wir haben damit gerechnet, die Kinder tragen zu müssen.“

Sie waren tagelang unterwegs. „Geholfen hat unsere Kirche“, erzählt Elisaveta. „Die Gemeinden haben sich gekümmert, uns mit privaten Autos weitertransportiert, Schlafgelegenheiten und Verpflegung besorgt.“ Trotzdem mussten sie auch Nächte auf Bahnhöfen verbringen. Nur eine dünne Isomatte zwischen sich und dem winterkalten Boden. In Berlin hat die Community per Handy und E-Mail Wohnräume in Privathäusern vermittelt, Bettzeug und Spielsachen herbeigebracht.

Die Frauen haben ständig ihre Handys im Blick. Sie sorgen sich um die Väter ihrer Töchter, um Verwandte, Freunde. Sie weinen viel, sagen sie. Sie sind in Sicherheit in Berlin, aber sie leben weiter im Krieg.

Ein Anruf von zwei Männern aus einem Minivan

Ihm sei klar gewesen, dass eine Massenflucht beginnt, sagt Sander Bohlen, schon am ersten Tag des russischen Angriffs. Am zweiten Tag habe er seine Kontaktdaten auf eine Liste geschrieben, die er im Internet fand. Seine Frau und er erklärten sich damit bereit, Menschen aus der Ukraine aufzunehmen. Sie leben ebenfalls in Marzahn, auf dem Gelände eines ehemaligen Krankenhauses. Vor fünf Monaten sind sie Eltern geworden, vor zwei Wochen mit dem Baby in eine größere Wohnung auf dem Gelände gezogen.

Die alte Wohnung war besenrein und stand leer. Sie hatten eigentlich vor, bald Mieter zu suchen, sagt Sander Bohlen. Am vierten Tag des russischen Angriffs auf die Ukraine bekam er einen Anruf. Zwei junge Männer aus Berlin, die mit einem Minivan an die polnisch-ukrainische Grenze gefahren waren, um Flüchtlinge abzuholen, fragten ihn, ob er eine Familie unterbringen könne. Mutter, Vater, zwei Kinder. Die Familie säße mit im Auto nach Berlin.

„Man muss sich in so einer Situation entscheiden, die üblichen Absicherungen, mit denen man sonst lebt, fallen zu lassen“, sagt Bohlen. Drei Stunden später setzten zwei Männer, die er nicht kannte, eine Familie vor seiner Tür ab, deren Namen er tagelang nicht erfuhr. Ein Ehepaar aus Kiew, beide hatten Bürojobs vor dem Krieg, die Kinder zehn und zwei Jahre alt. Viel mehr wissen die Gastgeber nach vier Tagen nicht über ihre Gäste. „Sie kamen mit nur einem kleinen Koffer und einer Packung Windeln“, sagt Sander Bohlen am Donnerstag. Die Familie sei still, nervös, verlasse die Wohnung kaum, man kommuniziere über WhatsApp, mithilfe eines Übersetzungsprogramms. „Wir lassen sie erst mal komplett in Ruhe. Das hat uns eine Person geraten, die selbst mal auf der Flucht war.“

Auch hier helfen jetzt viele Bekannte, erzählt Bohlen. Jemand habe „das Behördenthema“ übernommen, jemand die Familie eingekleidet, es gibt Matratzen, Bettzeug, Spielsachen, mehrere Bekannte wollten iPads spenden. Sander Bohlen ist Berater in der Start-up-Branche. Er wisse um seine Privilegien, sagt er. „Ich helfe, weil ich die Möglichkeiten habe“, den Verzicht auf die Mieteinahmen könnten seine Frau und er tragen, auch andere Ausgaben, für zwei Monate erst mal. Weil die Wohnung dreieinhalb Zimmer hat und Hunderttausende Ukrainer auf der Flucht sind, haben sie sich entschieden,  eine zweite Familie aufzunehmen, er will gleich los zum Bahnhof, sie abholen.

„Die Frage, die man sich stellen kann, ist doch: Was fängt man in diesem Leben mit seinen Privilegien an?“, sagt Sander Bohlen.

Das Zimmer der Mädchen war frei

In Prenzlauer Berg erholt sich am Wochenende Abdel Khald in einem Kinderzimmer von seiner Flucht aus Kiew und einer Erkältung. Und schreibt Aufrufe, die auf den Horror in der Ukraine hinweisen sollen. An der Nationalen Universität für Bauwesen und Architektur in Kiew seien noch viele Professoren und Studenten, die Welt müsse schnell helfen, ihre Leben retten, die Zerstörung der Ukraine stoppen, schreibt er. Seine Nachricht ist mit: „Ruhm der Ukraine!“ unterschrieben. Seine Gastgeberin hat sie auf seinen Wunsch an die Berliner Zeitung weitergeleitet.

Abdel Khald stammt aus Marokko, lebte aber seit Jahren in Kiew, studierte an der Uni, um deren Menschen er nun fürchtet, Architektur. Am Donnerstagabend kam er am Hauptbahnhof in Berlin an, mit einem jüngeren Kommilitonen, der auch aus Marokko stammt. Eine Berlinerin war mit ihrer neunjährigen Tochter zum Bahnhof gefahren, sie hatten ein Schild dabei, auf dem sie zwei Betten anboten. Sie waren spontan einem Aufruf im Internet gefolgt. Die ältere Tochter war am selben Tag zu einer Klassenfahrt aufgebrochen, die jüngere ins Schlafzimmer der Eltern gezogen. Das Zimmer der Mädchen war frei.

Eine Helferin, die Arabisch sprach, sei mit den beiden Studenten, die müde und traurig wirkten, auf sie zugekommen, erzählt die Gastgeberin, die anonym bleiben will. Die Familie ist irisch-kanadisch, spricht Englisch und Deutsch. Die Studenten sprachen  Arabisch, Französisch, Ukrainisch, Russisch, etwas Spanisch. Auch hier half ein Übersetzungsprogramm, auch hier wollten die Gäste vor allem Ruhe, eine Dusche, schlafen, der jüngere Student am nächsten Morgen zu Verwandten nach Paris weiterreisen, so erzählt es die Gastgeberin am Telefon. Sie habe ihn wieder zum Hauptbahnhof gebracht, er hatte durch die Übersetzerin sagen lassen, dass er sie eines Tages in Marokko so aufnehmen wolle, wie sie ihn aufgenommen hatten. Auch Abdel Khald wolle in den nächsten Tagen weiterreisen, zu Verwandten.

„Sie brauchten ein Bett, etwas Privatsphäre zum Durchatmen“, sagt die Gastgeberin. Erste Hilfe, wenn man so will. Viele Berliner, gewöhnt daran, in einer überforderten Stadt zu leben, sind zu Ersthelfern geworden. Doch langsam müssten die Behörden sich besser organisieren, müsste der Bund einspringen, um Berlin, das erste Ziel in Deutschland für viele der Menschen, die aus der Ukraine fliehen, zu unterstützen und zu entlasten.

In Marzahn, bei Sander Bohlen, ist am Donnerstagabend die zweite Familie eingezogen, eine Frau mit zwei Kindern. Die Frau spricht Englisch, sprachlich laufe jetzt alles problemlos, schreibt der Gastgeber am Wochenende. Und dass die Kinder schon viel mehr lachen.

Yana und Elisaveta, ebenfalls in Marzahn, haben angefangen, online Deutsch zu lernen. Wenn sie nicht zurückkehren können nach Odessa, wollen sie so schnell wie möglich eine Arbeit in Deutschland finden, sagen sie. Eine Unterstützerin aus Berlin habe sie vor der Flucht darauf hingewiesen, dass sie unbedingt alle Ausbildungsnachweise einpacken sollten. Draußen habe man die Explosionen gehört, sagt Yana. Sie packte ihre Diplome ein. Und auch eine kleine Tasche mit Pinseln.