Berlin und der Krieg

Geflüchtete in Berlin: „Wir haben unterwegs so schreckliche Dinge gesehen“

In Berlin treffen Geflüchtete auf Helfer. Die einen kommen mit dem Bus aus Polen, die anderen schicken Helme in die Ukraine. Was ist größer: Wut oder Angst?

Solidarität am Alexanderplatz: Im Haus der Statistik sammelt der belarussische Verein Razam Hilfsgüter für die Ukraine.
Solidarität am Alexanderplatz: Im Haus der Statistik sammelt der belarussische Verein Razam Hilfsgüter für die Ukraine.Natalia Kepesz

Berlin-Silvia Grave hat genau gesehen, dass Franziska Giffey Tränen in den Augen hatte. Grave ist einer von Hunderten Menschen, die am Donnerstag im Untergeschoss des Hauptbahnhofes stehen und dort ihre Wohnung für ukrainische Flüchtlinge anbieten. „Ich habe Frau Giffey erklärt, dass mein siebenjähriger Sohn heute Morgen sein Zimmer aufgeräumt hat“, sagt sie, „damit heute Abend eine Familie einziehen kann.“ Das habe die Regierende Bürgermeisterin gerührt.

Zusammen mit der Integrationssenatorin Katja Kipping läuft Giffey am Donnerstag gegen 18.30 Uhr in die Menschenmenge, sie hat vor allem Zeit mitgebracht. Sie spricht mit den freiwilligen Helfern, die dort zum Teil schon seit Stunden stehen. Sie kommen aus Weißensee, Zehlendorf oder Eberswalde, halten Schilder auf Englisch, Russisch, Deutsch in die Höhe. Über ein Megafon rufen andere Helfer immer wieder durch, welche Familie aktuell jemanden sucht: „Kann jemand Russisch? Kann jemand Englisch?“

Ein paar Meter weiter erzählen Mitarbeiter vom Roten Kreuz, was sie an diesem Tag erlebt haben: „Medizinisch ist alles im grünen Bereich“, sagt einer von ihnen, „die meisten Fälle, die zu uns kommen, haben Symptome wie Erschöpfung, Erkältung und kaputte Füße.“ Giffey bedankt sich, der Mann winkt ab: „Das gebe ich an die Freiwilligen weiter, bei uns gilt: Dafür sind wir da.“

Der Krieg in der Ukraine ist keine 1000 Kilometer entfernt, Tausende Geflüchtete sind in dieser Woche in Berlin angekommen, oft wissen sie nicht, wie es weitergehen soll. Wir haben Menschen zwischen Ankunft und Abschied getroffen, zwischen Hoffnung, Angst und Wut.

Galina S.: „Wir haben unterwegs so schreckliche Dinge gesehen“

Galina S. aus Chernivtsi mit ihrer Hündin, Chelsea, nach ihrer Ankunft am Berliner Hauptbahnhof.
Galina S. aus Chernivtsi mit ihrer Hündin, Chelsea, nach ihrer Ankunft am Berliner Hauptbahnhof.Natalia Kepesz

Einen Tag zuvor, gleicher Ort: In der unteren Halle des Berliner Hauptbahnhofs blickt Denis an einem Willkommensschild vorbei, eine ukrainische Flagge auf Pappe, jeden Moment könnten noch mehr Menschen ankommen. Die meisten, die vor dem Krieg in der Ukraine fliehen, nehmen den Zug über Polen oder Tschechien. Es könnten Hunderten sein, Denis ist sich nicht sicher. An seinem ersten Tag als freiwilliger Helfer waren es 600 ukrainische Flüchtlinge am Hauptbahnhof. Der 32-Jährige weiß nicht, was ihn an diesem Morgen erwartet. Er hat gehört, dass es heute Tausende werden könnten.

„Die Deutsche Bahn hat uns heute sehr geholfen“, sagt Denis und zeigt auf einen Wegweiser in ukrainischen Farben. „Ich hoffe, die Leute verstehen, dass ich hier nur helfen will, obwohl ich Russe bin.“ Über Putin sagt er: „Er ist endgültig verrückt geworden.“ Denis will seinen Familiennamen nicht nennen. Auf das, was er hier tut, steht in Russland Gefängnis.

Ein paar Meter hinter Denis herrscht ein organisiertes Chaos: Eine Helferin trägt eine Tüte mit Plastikmünzen für alle, die auf die Toilette müssen, lange Schlangen führen zu den Essenstischen, Kindergeschrei und Hundegebell sind zu hören, aus einem Rucksack blicken Katzenaugen.

„Putin ist endgültig verrückt geworden“: Denis, einer der freiwilligen Helfer für die ukrainischen Flüchtlinge am Hauptbahnhof.
„Putin ist endgültig verrückt geworden“: Denis, einer der freiwilligen Helfer für die ukrainischen Flüchtlinge am Hauptbahnhof.Natalia Kepesz

Im Gedränge gibt es wenige Orte der Ruhe. Galina S. aus Chernivtsi im Südwesten der Ukraine gießt ihrer Labradorhündin Chelsea eine Schale Wasser ein. Die 35-Jährige erzählt, wie sie wenige Stunden nach Putins Kriegserklärung im russischen Fernsehen von Explosionen geweckt wurde, später hörte sie auch Luftschutzsirenen. Für all das fällt Galina S. nur ein russisches Wort ein: „ужас“ – uschas, Horror.

Sie reist zusammen mit ihrer Schwester Wera und ihrer Mutter Tatiana, bislang sei alles reibungslos gelaufen. Innerhalb weniger Stunden fuhren die drei Frauen nach Kiew, wo sie bei Freunden unterkamen, bevor sie einen Zug zur polnischen Grenze nahmen, dann ging es weiter von Warschau nach Berlin, die letzte Etappe führt sie per S-Bahn zu Galinas Schwester nach Potsdam. „Wir haben unterwegs so schreckliche Dinge gesehen“, sagt Galina S. „In Kiew haben wir Schüsse gehört, an der Grenze gab es so viele Männer, die sich von ihren Frauen und Kindern verabschieden mussten.“ Jetzt verteidigen sie die Städte, ganz normale Menschen ohne Militärausbildung. „Wir haben so viel Angst um sie, wir weinen jeden Tag.“

Evans, Yana und Andrei: Am Mittwochmorgen ist die Kiewer Familie am Berliner Hauptbahnhof angekommen.
Evans, Yana und Andrei: Am Mittwochmorgen ist die Kiewer Familie am Berliner Hauptbahnhof angekommen.Natalia Kepesz

Auch Evans Nadi konnte die Ukraine verlassen. Der 37-jährige Nigerianer kam vor vier Jahren nach Kiew, er wollte selbst erfahren, was er über die wachsende Start-up-Szene der Stadt gehört hatte. Anfang 2022 lief alles noch gut für ihn, er studierte und hatte eine Wohnung am Chreschtschatyk, dem zentralen Boulevard von Kiew. Dort lebte Nadi gemeinsam mit seiner Freundin Yana Tolotschina und dem achtjährigen Andrei. Das Paar wollte in Kiew heiraten. Dann fielen die ersten Bomben, begann ihre Flucht.

„Ich liebe die Ukraine und bete, dass sie den Krieg gewinnt - das Land hat schon so viel verloren“, sagt Nadi. „Aber ich musste meine Familie schützen.“ Zu dritt reisten sie über Lwiw zur Grenze, wo zunächst Yana und Andrei einreisen konnten - Frauen und Kinder haben an der Grenze Vorrang. Evans Nadi musste einige Stunden warten. Er hatte Angst, seine Familie nie wiederzusehen.

Am Hauptbahnhof richtet sich Yana die Haare in einem Taschenspiegel. Sie hat gerade etwas zu essen besorgt, Evans und Andrei spielen ein Handyspiel, es gibt Pommes. Trotz der tagelangen Reise und der Ungewissheit ist Yana, 36, gut gelaunt. „Alle auf unserem Weg hierher waren wunderbar und haben uns so viel geholfen“, sagt sie. „Wir sind einfach nur froh, zusammen zu sein.“

Yana und Evans waren noch nie in Deutschland, sie kennen niemanden in Berlin. Sobald ihre Burger aufgegessen sind, werden sie sich auf den Weg zum Ankunftszentrum für Flüchtlinge machen. Aber sie sind nicht in Eile. Für den Moment reicht ihnen ihre Erleichterung.

Marina Kosolapowa (l.) aus Kiew und Swetlana Rempowitsch (r.) aus Dnipro. Die beiden Frauen sind aus der Ukraine allein gereist, lernten sich erst im Zug aus Warschau kennen.
Marina Kosolapowa (l.) aus Kiew und Swetlana Rempowitsch (r.) aus Dnipro. Die beiden Frauen sind aus der Ukraine allein gereist, lernten sich erst im Zug aus Warschau kennen.Natalia Kepesz

Swetlana Rempowitsch ist überfordert. Sie weint, sie hat Angst um ihren Mann Witaly, den sie zurücklassen musste. Sie hat Schuldgefühle, denn sie ist die Einzige in ihrer Familie, die sich die Busreise aus Dnipro nach Polen leisten konnte. Jetzt steht sie im Hauptbahnhof, allein mit ihrem Koffer.

„Ich bin erschöpft“, sagt Rempowitsch, 42, und tupft sich mit einem Taschentuch das Gesicht ab. „Ich kann nicht essen, ich kann nicht schlafen.“ Sie kennt niemanden in Berlin. Sie will so schnell wie möglich zum Ankunftszentrum. Was danach kommt, weiß sie nicht. „Ich bin Deutschland dankbar, dass es uns alle aufgenommen hat, ich möchte etwas zurückgeben und arbeiten.“ So könne sie ihrer Familie in Dnipro helfen, fügt sie hinzu.

Swetlana Rempowitsch, die gelernte Gestalttherapeutin, schnieft und steckt ihr Taschentuch zurück in ihre Handtasche. „Wie lange dauert es denn, bis man hier eine Arbeitserlaubnis bekommt? Ich habe zwei Abschlüsse, wissen Sie.“

Natalia: „Ich habe jetzt keine Zeit für eine Therapie“

In Berlin-Mitte sammelt die gebürtige Kiewerin Natalia Spenden und Hilfsgüter für Menschen an der Front.
In Berlin-Mitte sammelt die gebürtige Kiewerin Natalia Spenden und Hilfsgüter für Menschen an der Front.Natalia Kepesz

In Natalias Wohnung in Mitte stapeln sich etwa zehn große Kartons, darin Schlafsäcke, Anoraks und andere wasserfeste Kleidungsstücke. In den Tagen zuvor sei alles noch viel hektischer gewesen, erzählt die Softwareentwicklerin aus Kiew, die seit drei Jahren in Berlin lebt. Eine Wand ihres Wohnzimmers sei mit Kisten und Tüten zugestellt gewesen, Nachbarn hatten diese vorbeigebracht. „Es ist gut, dass alle helfen wollen“, sagt die 29-Jährige, „aber es war schon ein bisschen chaotisch.“ Die gespendeten Sachen – haltbare Lebensmittel oder Powerbanks – haben Natalias Freunde eingesammelt und an die polnische Grenze gefahren, von wo aus sie an Kontaktpersonen in der Ukraine übergeben werden sollen.

Natalia hat auch an diesem Tag wieder schlecht geschlafen, immerhin sechs Stunden, zuletzt waren es oft eher drei. Spenden annehmen, Lieferungen koordinieren, und dann beginnt der Stress wieder von vorn. „Ich sage den Leuten, die hierherkommen, dass wir die Tränensäcke unter meinen Augen benutzen können, um die Sachen zum Lieferwagen zu tragen“, sagt Natalia mit einem schiefen Lächeln.

In Natalias Wohnung läuft der ukrainische Nachrichtensender TSN, zu sehen sind gerade Bilder aus Charkiw, der zweitgrößten Stadt der Ukraine, der zentrale Platz, ein Kriegsgebiet. Was treibt Natalia an? „Wut“, sagt sie. „Aber ich habe jetzt keine Zeit für eine Therapie.“ Sie mache sich Sorgen um ihre Familie, die in und um Kiew lebt, glaube aber auch an die Stärke der ukrainischen Armee.

Mit ihren Spenden möchte Natalia vor allem den Menschen helfen, die an der Front russischen Soldaten gegenüberstehen. Mit der Website Goods4Ukraine, die sie und ihr 20-köpfiges Team eingerichtet haben, hat sie noch größere Pläne. Sie wollen mehr Sammelstellen einrichten, auch Sachen für ukrainische Flüchtlinge in Berlin sammeln. Im Moment können alle, die helfen wollen, direkt an Natalias Wohnung liefern. Hier werden die Spenden, insbesondere die angeforderten medizinischen Artikel, auf Echtheit überprüft – und Anzeichen von Manipulation. „Wir trauen niemandem mehr“, sagt Natalia. Sie will die Identität derjenigen, die sie mit militärischer Ausrüstung wie Helmen und Schutzwesten versorgt, anonym halten, da sie bereits Drohungen erhalten habe.

Natalia bleibt nichts anderes übrig, als entschlossen zu sein, trotz allem. Halt gibt ihr die Unterstützung, die sie in Berlin erfährt. Der wachsende Kartonberg für die nächste Lieferung in die Ukraine wird von Protestschildern überragt, die sie für die Großdemo in Berlin am vergangenen Wochenende gebastelt hat. „Ich bin so stolz auf mein Land“, sagt sie. „Früher sahen uns die Deutschen als die Leute, die im Sommer Erdbeeren pflücken kommen. Man hat mich sogar gefragt, ob die Ukraine ein Teil Russlands ist. Aber in den letzten Tagen hat sich alles geändert.“ Nach dem Krieg will Natalia nach Kiew zurück –  und beim Wiederaufbau ihres Landes helfen.

Evgeni Fedarovich: „Ich arbeite jeden Tag bis Mitternacht, um mich abzulenken“

Im Haus der Statistik sammelt Evgeni Fedarovich mit der belarussischen Solidaritätsbewegung „Razam“ Spenden für die Ukraine.
Im Haus der Statistik sammelt Evgeni Fedarovich mit der belarussischen Solidaritätsbewegung „Razam“ Spenden für die Ukraine.Natalia Kepesz

Die Zeit wurde angehalten. An der Wand hinter Evgeni Fedarovich hängt eine Digitalanzeige, jeden Tag ist jetzt hier, im Haus der Statistik am Alexanderplatz, der 9. August 2020, genau 20 Uhr. Damals schlossen die Wahllokale in Belarus, und falls es am Abend noch Hoffnungen gegeben hatte, dass der Volkswille des Wandels mehr zählt als der Wille zum Machterhalt des Präsidenten Aljaksandr Lukaschenka, dann waren diese am Morgen zerstoben. Noch bevor die ersten Menschen in Belarus gegen das manipulierte Wahlergebnis protestierten, gründeten Belarussen in Berlin den gemeinnützigen Verein „Razam“ (Gemeinsam), eine länderübergreifende Solidaritätsbewegung. Fedarovich, 42, seit 2008 in Berlin, seit 2016 deutscher Staatsbürger, Abschluss in BWL, war von Anfang an dabei. Heute ist er der Schatzmeister und Buchhalter des Vereins. Er sagt: „Ich glaube noch immer an die Vernunft auf dieser Welt.“ Aber zurzeit etwas weniger.

Nach Russlands Angriff auf die Ukraine hat sich die Vereinsarbeit verändert. Razam sammelt jetzt vor allem Spenden für die Ukraine, leistet humanitäre Hilfe für ukrainische Geflüchtete. Vor der Tür steht ein schwarzer Transporter, auf der Ladefläche liegen Säcke, Helfer tragen sie ins Lager, sortieren grob vor: „Ersthilfezeug“, „Lebensmittel“, „Kleidung“, dazwischen hat jemand das Wort „Menschlichkeit“ an die Wand geklebt. „Es gab auch Anfragen für Helme und Schutzwesten“, sagt Fedarovich. „Aber das können wir nicht machen.“ Wegen der Gemeinnützigkeit.

Am vergangenen Sonntag, bei der großen Friedensdemonstration in Berlin, sah man auch belarussiche Fahnen, entstand die Idee zu helfen. Am Montag durfte Razam erst mal drei Räume im Haus der Statistik beziehen. Am Dienstag fuhr der erste Transporter los. An der polnischen Grenze zur Ukraine warten andere Helfer, die noch keine Zeit hatten, sich formal zu organisieren. „Es ist wichtig“, sagt Fedarovich, „dass Belarussen nicht mit dem Krieg assoziiert werden. Wenn man jetzt keine Solidarität zeigt, werden wir alle in einen Topf geworfen.“ Er hat Angst, dass Lukaschenka, „Putins Marionette“, seine Truppen in die Ukraine schickt. „Zieht Belarus in den Krieg, werde ich vielleicht hinfahren, ich weiß es nicht.“ Seine Mutter lebt in Minsk. Würde er sie heute besuchen, würde man ihn wahrscheinlich verhaften. „Ich arbeite jeden Tag bis Mitternacht, um mich abzulenken.“ Fedarovich hat gehört, dass die ersten Menschen aus Angst vor dem Krieg die belarussiche Grenzstadt Gomel verlassen.

Auf dem Boden im Haus der Statistik liegen noch die alten Demoschilder verteilt: „Meine Familie und Freunde sind im Gefängnis, weil sie gegen die Diktatur sind.“ Oder: „Lukaschenka ist nicht Belarus.“ Oder: „Europa, wach auf!“ Das immerhin ist passiert. Nur ist die Welt jetzt eine andere. „Auf einige Schilder müssen wir jetzt Krieg schreiben“, sagt Fedarovich. Die Politik wollte mit Putin kooperieren, ihn irgendwie mildern, „doch man hätte längst verstehen können, dass das nicht möglich ist, dass es zu diesem Gewaltausbruch kommen würde“. Geschäfte seien wichtiger gewesen. Und niemand hat die Warnung gehört, die seit über zwei Jahren in Großbuchstaben auch an der Hausfassade über dem Alexanderplatz prangt: „Stop Wars!“

Aniket Singh: „Wir fragten immer wieder, warum wir warten mussten“

Zwei Tage lang musste der indische Student Aniket Singh an der Grenze zwischen der Ukraine und Polen warten.
Zwei Tage lang musste der indische Student Aniket Singh an der Grenze zwischen der Ukraine und Polen warten.Elizabeth Rushton

Mittwochabend, kurz vor 19 Uhr, am Berliner ZOB warten Menschen in Warnwesten. Sie wollen einen Bus aus der polnischen Kleinstadt Rzeszow in Empfang nehmen. Sie wissen nicht, wie viele Flüchtlinge aussteigen werden, wer ihre Hilfe benötigen wird. Rzeszow ist 40 Kilometer von der ukrainischen Grenze entfernt.

Ein Freiwilligenkoordinator in einer orangefarbenen Weste erklärt seinem Team die Einzelheiten ihres Einsatzes. Innerhalb weniger Tage hat sich diese kleine Truppe aus Berlinerinnen und Berlinen, die meisten von ihnen in ihren 20ern und 30ern, gebildet. Sie organisieren sich über Telegram, ihre Kanäle haben Tausende Mitglieder. Der Koordinator bittet die Wartenden, die Neuankömmlinge nicht zu fragen, wie es ihnen geht – das sei eine Frage, die viele einer fremden Person lieber nicht beantworten würden. Man solle sie nur fragen, ob sie in Berlin bleiben wollen oder ein anderes Reiseziel haben. Dann können sie in den Warteraum weitergeleitet werden, wo kostenlose Snacks und Getränke auf sie warten. Während das Team die Anleitungen erhält, betreten drei junge Frauen mit Tragetaschen die Wartehalle. Die Taschen enthalten Kleidung und Decken. Eine der Frauen trägt einen Teller mit selbstgemachten Sandwiches. Um 19 Uhr kommt der Bus an.

An diesem Abend am ZOB gibt es etwa doppelt so viele wie Flüchtlinge wie Helfer. Einer, der aus dem Bus aussteigt, ist der Inder Aniket Singh, 18, er kommt aus Dnipro, der viertgrößten Stadt der Ukraine. Dort hatte er vier Monate lang Medizin studiert. „Die Ukraine ist ein tolles Land“, sagt er. „In Indien gab es in jeder Klasse immer eine Menge Leute, die dort studieren wollten.“ Jetzt sei alles zu gefährlich.

Singh seufzt, als er seine sechstägige Reise von Dnipro nach Berlin beschreibt, 1500 Kilometer liegen hinter ihm. Die ersten drei Tage verbrachte er im Bus Richtung polnische Grenze, die letzten 44 Kilometer musste er zu Fuß gehen. „Das Schlimmste war aber an der Grenze.“ Auch Singh hat erlebt, was viele nicht-weiße Studenten gegenüber anderen Medien bereits als Diskriminierung durch ukrainische Grenzbehörden beschrieben haben. „Ich musste zwei Tage lang warten“, sagt er. Die anderen, die mit ihm warteten, waren ebenfalls People of Colour. „Die ganze Zeit wurden Ukrainer durchgelassen. Wir fragten immer wieder, warum wir warten mussten – niemand wollte es uns sagen.“

Auf die Frage, ob er sich rassistisch diskriminiert gefühlt habe, seufzt Singh erneut, nickt und schaut auf seine Füße. „Aber jetzt bin ich sicher.“ Er ist froh, dass er nicht nach Lwiw zurückgeschickt worden ist wie sein indischer Klassenkamerad. Die Reise von Aniket Singh ist in Berlin noch nicht zu Ende. Nach zwei Stunden fährt er mit einem weiteren Bus nach Frankfurt, dort lebt ein alter Schulfreund.

Irina: „Ich will keinen Ärger, ich habe schon genug gesagt“

Auf die Freundschaft: Intermarkt Stolitschniy an der Landesberger Allee.
Auf die Freundschaft: Intermarkt Stolitschniy an der Landesberger Allee.Paul Linke

Ein Herz, halb mit der deutschen, halb mit der russischen Fahne ausgefüllt, in der Mitte eine Friedenstaube, darunter steht: „Freundschaft“. Wer den Intermarkt Stolitschniy in der Landesberger Allee betritt, wo Berlin am meisten an Moskau erinnert, dem wird dieser Aufkleber neben der Tür vielleicht auffallen. Nicht zu übersehen sind die russischen Produkte, die es hier zu kaufen gibt: gezuckerte Kondensmilch „Sguschönka“, Erfrischungsgetränk „Monastirskij Kwas Klassisch“, Pelmeni der Marke „CCCP“, leicht gesalzener Weißkohl mit Möhren, Äpfeln oder Knoblauch – den mit Moosbeeren packt gerade eine Frau in den Einkaufswagen, die sich als Irina vorstellt, keinen Nachnamen nennt. „Ich will keinen Ärger.“ Mit wem? Friedenstaubenlächeln.

An diesem Tag im Supermarkt will kaum jemand über Putin, die Ukraine, den Krieg sprechen. Mal mehr („Nein, ich will lieber nichts sagen“), mal weniger höflich („Lassen sie mich in Ruhe mit Ihren Lügen“) werden Gespräche abgeblockt. Irina sagt: „Ich kaufe hier solange ein, wie es geht.“ Sie habe gelesen, dass einige deutsche Supermarktketten alle russischen Produkte aus dem Sortiment genommen haben. Und von einem Nachbarn gehört, dass man ihn beschimpft habe auf der Straße, „Scheißrusse“, dabei seien sie doch Deutsche, Berliner. „Ich weiß nicht mehr, was ich denken soll. So viele Bilder, so viele Meinungen“, sagt Irina. Erst am Vorabend habe sie sich mit ihrem Mann gestritten. Worüber? „Putin.“ Warum? „Ich habe schon genug gesagt.“

Etwa 200.000 russischsprachige Menschen leben in Berlin, viele haben am vergangenen Sonntag gegen den Krieg demonstriert, sie trugen vor allem ukrainische oder auch georgische Fahnen. Durch die russische Community verläuft eine unsichtbare Grenze. Der Politikwissenschaftler Sergej Medwedew, der für das Portal Dekoder schreibt, meint: „Diese Community ist sehr heterogen.“ Menschen, die kaum integriert und wegen schlechter Sprachkenntnisse auf russische Medien angewiesen sind, tendieren eher dazu, diesen Krieg als Befreiungsaktion zu deuten, die Verbrechen zu relativieren. „Ich glaube“, sagt Medwedew, „es ist auch ein Gefühl, dass vielen nicht glauben wollen, dass ihr Heimatland oder das Land, in dem sie geboren sind, jetzt einem Nachbarland den Krieg erklärt hat.“

Wer den Intermarkt Stolitschniy wieder verlässt, wird kaum anders können, als dieses Plakat anzustarren. Vier halb nackte Männer mit Engelflügeln stehen da in einem aufsteigenden Wolkennebel, ihre Blicke sind erwartungsvoll nach oben gerichtet, als würde es tatsächlich noch einen Gott gegen, darüber steht: „Moscow Boys Tarzan Show“. Anfang April sollen sie nach Berlin kommen.

Dudana Mazmanishvili: „Ich verstehe auch diejenigen nicht, die jetzt noch schweigen“

„Viele meiner Kollegen empfinden Scham, und Familien müssen mit realen wirtschaftlichen Verlusten rechnen“: Dudana Mazmanishvili.
„Viele meiner Kollegen empfinden Scham, und Familien müssen mit realen wirtschaftlichen Verlusten rechnen“: Dudana Mazmanishvili.Natalia Kepesz

Voller Sorge erinnert sich Dudana Mazmanishvili an das Jahr 2008, als ihre eigene Heimat Georgien Ziel der russischen Aggression wurde. „Heute kommen Bilder aus der Ukraine, die wie damals Familien zeigen, die aus ihren Häusern fliehen, auseinandergerissen werden“, sagt die Pianistin, die seit 2010 in Berlin lebt. Das menschliche Leid, die Verwüstungen, die Kinder, „das alles kann ich nicht ohne Tränen in den Augen sehen“. 20 Prozent des georgischen Territoriums sind noch immer russisch okkupiert, und sie hält es für alarmierend, dass Georgien kontinuierlich Opfer der kriechenden Okkupation ist. „Das ist eine große Sorge unter meinen Landsleuten“, sagt Dudana Mazmanishvili.

Als Künstlerin fühlt sie sich tief bewegt von den weltweiten Solidaritätsbekundungen, das sei ganz groß. So empfand sie, als die ukrainische Dirigentin Oksana Lyniw mit ihrem Orchester das berühmte Stück 4′33″ von John Cage aufführte oder die Metropolitan in New York ein Konzert mit der ukrainischen Nationalhymne eröffnete. „Da spüre ich einen Kloß im Hals“, sagt die Pianistin, die auch zu den Veranstaltern eines Klavierfestivals in Georgien gehört, zu dem Menschen aus aller Welt eingeladen werden. Sie bewundert die russischen Kolleginnen und Kollegen, die nun den Mut aufbringen, den Krieg zu verurteilen, und erinnert an die Repressionen, die Protestierende in Russland erleiden.

Sie denkt an ihre Freunde in Charkiw, Kiew oder Lwiw, spricht aber auch von ihrem Mitgefühl für das emotionale Leiden der Putin-Gegner in Russland: „Viele meiner Kollegen empfinden Scham, und Familien müssen mit realen wirtschaftlichen Verlusten rechnen“, sagt sie.

Keinerlei Verständnis hat Dudana Mazmanishvili für Menschen, die die Aggression in der Ukraine noch immer verteidigen, und sie findet es völlig richtig, wenn Opernhäuser oder Festivals das Engagement von Künstlern beenden, wie in den Fällen von Walery Gergijew oder Anna Netrebko, die sich nicht vom Vorgehen des russischen Präsidenten Putin distanzieren. Und: „Ich verstehe auch diejenigen nicht, die jetzt noch schweigen.“

Von Deutschland erwartet die Georgierin aktive Unterstützung beim EU-Beitritt im Eilverfahren für die Ukraine und für „Länder, die in Richtung Europäische Union streben und europäische Werte teilen“.

Olesya Kyselnykova: „Es ist für mich selbstverständlich, hier zu helfen“

Franziska Giffey in einer Erstaufnahmestelle für Geflüchtete.
Franziska Giffey in einer Erstaufnahmestelle für Geflüchtete.Benjamin Pritzkuleit

Donnerstagabend, Friedrichshain. Nicht weit von der Warschauer Brücke steht ein Hotel, das am Mittwoch in ein Flüchtlingsheim umgewandelt wurde. Franziska Giffey und Katja Kipping sitzen schon seit einer Viertelstunde mit Geflüchteten an einem Tisch. Larissa ist mit ihren drei Söhnen geflohen. „Ich war eine der Letzten, die noch über die Brücke bei Charkiw kamen, bevor sie zerstört wurde.“ Eine Woche später ist sie in diesem Heim und sagt zur Bürgermeisterin: „Ich habe zwei kleine Zimmer hier, danke dafür.“

Die Übersetzerin Olesya Kyselnykova erzählt das später, denn bei dem ungewöhnlich langen Gespräch mit Larissa wollte die Bürgermeisterin nicht gestört werden. Kyselnykova arbeitet normalerweise beim Chemieriesen BASF und ist nach Feierabend zum Heim gekommen, um zu helfen. „Ich bin selbst in der Ukraine geboren“, sagt sie, „da ist es für mich selbstverständlich, hier zu helfen.“ Allein an diesem Abend hat sie viele Geschichten von Geflüchteten gehört. Besonders berührt haben sie zwei Worte einer alten Frau, die sie immer wieder auf Ukrainisch wiederholte: „Alles weg.“

Giffey und Kipping teilen sich wie ein Team auf im Laufe des Abends, sie sprechen mit Helfern, fragen, woran es fehlt, fassen am Ende ihre Erlebnisse geordnet zusammen. Kipping kann einige Male „Kak tebja sawut?“ fragen, weil sie wie viele Ostdeutsche noch Russisch in der Schule gelernt hat. Sie wird später vor dem Heim noch einmal erzählen, das sie nicht versteht, wie das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge am Montag verkünden konnte, dass es nur mit wenigen Geflüchteten rechne. „Am Montag kamen 350, am Dienstag 1400, am Mittwoch 1700, heute wohl rund 5600“, sagt sie. „Bisher ist es immer gelungen, dass jemand, der hier ankam, ein Bett und ein Essen bekommen konnte.“

Giffey bleibt trotz der vielen Emotionen um sie herum erstaunlich ruhig. Nur einmal an diesem Abend, kurz nachdem Kipping gesagt hat, dass es hier „Nicht um den Sprint sondern um die Langstrecke gehe“, da unterbricht Giffey und sagt laut: „Es ist doch klar, dass der Bund jetzt auch dran ist. Wir können hier im Land Berlin so viel machen wie wir wollen, aber irgendwann ist das eine Sache für den Bund.“ Sie meint nicht nur die außenpolitischen Faktoren, die müsse auch geklärt werden, damit die Ursache beendet ist. Aber die Frage der Schutz suchenden Ukrainer müsse auf Bundesebene gelöst werden. Man könne auch noch nicht absehen, wann es vorbei sei. Wir können jetzt nur  reagieren, sagt sie. „Bei manchen bürokratischen Prozessen müssen wir jetzt eben sagen, das geht so nicht, wir müssen jetzt handeln.“


Dieser Text ist in der Wochenendausgabe der Berliner Zeitung erschienen – jeden Sonnabend am Kiosk oder hier im Abo.