Interview

Katja Kipping: „Die größte Fluchtbewegung Europas nach dem Zweiten Weltkrieg“

Jeden Tag kommen Menschen aus der Ukraine in Berlin an. Ist die Stadt darauf vorbereitet? Werden die Geflüchteten registriert? Ein Gespräch mit Katja Kipping.

Impressionen von ankommenden ukrainischen Flüchtlingen am Berliner Hauptbahnhof.
Impressionen von ankommenden ukrainischen Flüchtlingen am Berliner Hauptbahnhof.imago/Stefan Zeitz

Der Krieg in der Ukraine wird zu einer der größten Flüchtlingskrisen führen, die die Europäische Union je erlebt hat. Eine Million Menschen haben die Grenzen bereits überschritten. Auch nach Berlin kommen jeden Tag mehr Geflüchtete aus der Ukraine, die versorgt werden müssen. Über die aktuelle Situation haben wir mit Katja Kipping von der Linken gesprochen, Senatorin für Integration, Arbeit und Soziales in Berlin.

Berliner Zeitung am Wochenende: Frau Kipping, wie ist die Situation der Menschen aktuell, die aus der Ukraine nach Berlin flüchten?

Katja Kipping: Wir beobachten einen deutlichen Anstieg der Flüchtlingszahlen. Zum einen der Menschen, die aus der Ukraine flüchten und in Berlin ankommen. Und zum anderen der Menschen, die wir in Berlin unterbringen. Berlin ist für Kriegsflüchtlinge aus der Ukraine das Tor nach Europa. Einige reisen weiter, andere übernachten für ein paar Tage hier, bevor es weitergeht. Viele bleiben aber auch hier. Die Mehrzahl ist bisher privat untergebracht. Am Montag hat das Land Berlin 350 Menschen, am Dienstag 1400 untergebracht. Am Mittwoch waren es rund 1700 Menschen, wovon aber schon 1000 von uns in andere Bundesländer gefahren wurden, wo man sie herzlich begrüßt hat. Wir müssen momentan die Verteilung in die anderen Bundesländer bilateral organisieren, weil der Bund auf keinerlei Weise koordinierend zwischen den Bundesländern tätig geworden ist.

Infobox image
Berliner Zeitung/Markus Wächter
Zur Person
Katja Kipping, 44, stammt aus Dresden, wo sie nach ihrem Abitur Slawistik studierte und mit einem Magister abschloss. Zu diesem Zeitpunkt war sie längst der PDS beigetreten, saß im Stadtrat von Dresden und zeitgleich im Landtag von Sachsen. 2005 ließ sich Kipping erstmals in den Bundestag wählen, dem sie seitdem ununterbrochen angehörte. Von 2012 bis zum vergangenen Jahr war sie gemeinsam mit Bernd Riexinger Vorsitzende der Linkspartei.

Sind Bund und Länder auf diese Flüchtlingssituation vorbereitet?

Ich kann sagen, dass das Land Berlin alles tut, damit jeder Mensch, der hier ankommt, auch ein Bett und Essen bekommt. Das ist uns auch bislang in allen Nächten gelungen. Ich bin den ehrenamtlichen Helfern unendlich dankbar, die in Berlin in kürzester Zeit aktiv geworden sind. Wir kommen durch diese schwierige Zeit nur, wenn wir gemeinsam, alle zusammen, aktiv sind – die Verantwortlichen in der Politik und die Ehrenamtlichen in der Zivilgesellschaft. Wir müssen uns die Situation klar vergegenwärtigen: Am Mittwoch kamen fünf Direktzüge mit insgesamt 3000 bis 4000 Menschen aus der Ukraine in Berlin an. Am Donnerstag kamen mindestens 6000 Menschen aus der Ukraine an. An der Grenze zwischen Polen und der Ukraine stauen sich die Schlagen von Leuten, die fliehen. Ich mache es mal deutlich: Es braut sich hier die größte europäische Fluchtbewegung seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs zusammen. Da kann der Bund nicht weiter Zeit verlieren und Interviews geben und erzählen, dass bislang nur wenige Flüchtlinge aus der Ukraine angekommen seien. Das entspricht nicht der Situation.

Warten Sie darauf, dass der Bund jetzt tätig wird?

Wir warten nicht, wir handeln einfach. Wir stellen sicher, dass die Menschen, die hier ankommen, eine Unterkunft bekommen, dass sie eine medizinische Notversorgung bekommen und dass sie mit Essen versorgt sind. Wir sind in engem Austausch mit dem sozialen Träger Karuna, der die Elinor-Bettenbörse betreut. Die bundesweite Aufteilung kann nur der Bund beschließen. Wir sind aktiv geworden und haben uns persönlich mit Bundesländern wie Brandenburg verständigt. Die aufenthaltsrechtliche Einstufung ist eine Bundeskompetenz. Ich handle jetzt in Berlin in Erwartung einer Entscheidung des Bundes. Mein ganz eindeutiger Appell an den Bund: Versteht den Ernst der Lage! Handelt dem Ernst der Lage entsprechend! Das heißt: Ohne Verzögerung die Koordination zu übernehmen.

Viele sagen es schon, dass diese Situation aktuell die Flüchtlingssituation von 2015 übertrifft.

Wahrscheinlich sind die Zahlen von 2015 unter den aktuellen, ja. Es gibt aber einen Vorteil: Wir haben Erfahrungen seit 2015 gemacht, Strukturen aufgebaut, und es gibt viele gute, seriöse Akteure, auf die man sich bei der Unterbringung verlassen kann.

Teilweise kontrolliert der Grenzschutz die Menschen an der deutsch-polnischen Grenze stichprobenartig. Nicht nur ukrainische Staatsbürger flüchten, sondern auch Inder, Nigerianer, Menschen aus Drittländern. Gibt es aktuell eine Regelung zwischen Grenzschutz beziehungsweise Bundespolizei und Berlin, oder werden alle Geflüchteten ohne Kontrollen nach Deutschland gelassen?

Der Senat von Berlin hat ganz klar gesagt: Wir unterscheiden bei unserer aktuellen Hilfe nicht zwischen Kriegsflüchtlingen aus der Ukraine mit ukrainischer und ohne ukrainische Staatsbürgerschaft. Wenn ein Mensch, der gerade in der Ukraine lebt, von Bomben bedroht ist und fliehen muss, ist für uns nicht die Staatsbürgerschaft das Entscheidende. Und wir wissen, dass es in der Ukraine Studierende aus Drittstaaten gibt, aus Afrika zum Beispiel. Wir wollen hier keine Diskriminierung. Was das Agieren der Grenzpolizei anbelangt: Wir kriegen keine Vorwarnung, wie viele Menschen jeden Tag nach Deutschland kommen. Wir kennen die Zugankunftszeiten und bekommen eine Info, wie viele Menschen in diesen Zügen aus Polen sind. Wie viele Menschen davon weiterreisen wollen, wie viele privat unterkommen, das erfahren wir erst, wenn diese Menschen ankommen und zum Infopoint gehen.

Ukrainer durften schon früher visafrei einreisen und sich drei Monate lang als Touristen aufhalten. In diesem Sinne besteht ja kein rechtliches Problem für Menschen mit ukrainischem Pass, oder?

Oh doch. Diese Menschen müssen ja versorgt werden, bei Bedarf mit Sozialleistungen, mit Zugang zu Medizin. Diese Menschen sind ja nicht als Touristen hier für zwei Wochen. Der Krieg wird ja nicht übermorgen vorbei sein. Die Menschen, die hier sind, brauchen ein Dach über dem Kopf, etwas zu essen. Es muss sichergestellt werden, dass diese Menschen nicht auf der Straße landen. Das heißt: Diese Menschen müssen aufenthaltsrechtlich eingestuft werden, und zwar als Kriegsflüchtlinge, sodass sie Anspruch auf Sozialleistungen haben, eine Arbeitserlaubnis und so weiter. Das sind viele gut ausgebildete Leute. Auf diese Arbeitsleistung zu verzichten, wäre Wahnsinn. Und die Kinder müssen Zugang zur Schule bekommen. Das alles muss sichergestellt werden.

Wie ist der Ablauf? In Brüssel soll eine Entscheidung kommen, was den Aufenthaltstitel betrifft.

Die Entscheidung über die Massenzustromrichtlinie, ja, die kann nur die europäische Ebene treffen. Diese Richtlinie wurde am Donnerstag endlich aktiviert. Die Frage aber, nach welchem Paragraphen des Aufenthaltsgesetzes die Menschen eingestuft werden, ob sie sozialleistungsrechtlich über die Jobcenter oder über die kommunalen Sozialämter betreut werden, das muss der Bund entscheiden. Wir als Berlin handeln aktuell einfach und leisten Hilfe, damit die Menschen, die flüchten mussten, nicht im Regen stehen bleiben.

Die Menschen kommen in der Mehrzahl in Berlin am Hauptbahnhof an. Die rbb-Abendschau hat berichtet, dass vor allem Freiwillige für die Betreuung der Flüchtlinge eingesetzt werden. Ist das richtig? Will der Berliner Senat nachziehen und Mitarbeiter für die Koordination abstellen?

Ich bin den ehrenamtlichen Helfern unendlich dankbar. Zum ganzen Bild gehört auch, dass die Mitarbeitenden der Verwaltung seit Beginn des Krieges unter Hochdruck daran arbeiten, neue Gemeinschaftsunterkünfte zu erschließen und ein großes „Ankunftszentrum Ukraine“ zu eröffnen, in dem dann die offizielle Registrierung und medizinische Erstversorgung inklusive Impfen erfolgen kann. Diese Arbeit von Verwaltungsmitarbeitenden ist vielleicht im öffentlich Raum nicht so sichtbar wie die der Ehrenamtlichen am Bahnhof, aber sie ist existentiell. Zudem übernehmen wir nach und nach mehr Verantwortung für die Situation am Hauptbahnhof. Wir stehen mit der Deutschen Bahn die ganze Zeit im Gespräch. Wir haben organisiert, dass es über die BVG Shuttlebusse gibt, die die Menschen zum Ankunftszentrum bringen. Wir haben bereits am vorigen Wochenende mit der Bundespolizei Flyer auf Ukrainisch herausgegeben, wo der klare Hinweis enthalten war, dass sie zum Ankunftszentrum kommen sollen, weil von dort aus die Verteilung in die Unterkünfte stattfindet. Seit Dienstagnacht sind Mitarbeiter der Senatsverwaltung vor Ort am Bahnhof. Wir haben auch in die Wege geleitet, dass es dort einen Sanitätspunkt gibt. Das haben wir mitbeauftragt. Was wir bisher nicht prioritär behandelt haben, ist, viel Energie in PR-Maßnahmen zu investieren, damit die Fernsehkameras die Arbeit der Senatsverwaltung, die eher im Hintergrund stattfindet, auch bildlich am Hauptbahnhof einfangen können. Wir dachten, PR ist jetzt nicht die prioritäre Aufgabe. Es ist die Stunde, den Menschen zu helfen und das Personal so einzusetzen, dass die dringendsten Aufgaben erledigt werden. Jedoch werden wir am Bahnhof nun mehr Verantwortung übernehmen. So stellt Berlin in den kommenden Tagen ein großes Messezelt auf den Vorplatz auf, wo die Menschen erst einmal durchatmen können, bevor sie zu den Unterkünften gebracht werden.

Wie sieht die Situation von freien Betten aus? Wollen Sie neue Gebäude erschließen?

Das machen wir die ganze Zeit. Es ist ja nicht so, dass wir in der Vergangenheit Tausende Plätze freigehalten hätten. Dann hätte mich ja die Finanzverwaltung zu Recht für Mittelverschwendung kritisiert. Am laufenden Band werden neue Unterkünfte erschlossen. Wie gesagt: Am Dienstag haben wir 1400 Menschen nur über die Landesstrukturen untergebracht. Das sind Ankunftszahlen, die man ansonsten über ein bis zwei Monate hat. In diesem Falle sind das Zahlen von einer Nacht. Die gute Nachricht ist: Es gibt in der ganzen Stadt, in den Bezirken einen enormen Einsatz, neue Unterbringungsmöglichkeiten zu erschließen.

Wie können Bürgerinnen und Bürger, wie können unsere Leserinnen und Leser helfen?

Ich empfehle die von Berlin eingerichtete Webseite: https://www.berlin.de/ukraine/ und die Bettenbörse von Elinor.network (https://www.unterkunft-ukraine.de/). Ich habe zwei Botschaften, die mir noch wichtig sind. Erstens: Wir bewältigen die Situation nur, wenn wir zusammenstehen. Deswegen bin ich für jede Form der Hilfe dankbar. Zweitens: Ich höre, dass auf Schulhöfen Kinder mit russischsprachigem Hintergrund diskriminiert oder angegriffen werden. Die Empörung über Putin und die russische Regierung darf nicht die russischsprachigen Menschen in Berlin treffen. Jetzt ist es Zeit für Anteilnahme und Solidarität, nicht für Ausgrenzung und Diskriminierung. Es gibt auch russische Initiativen in Berlin, die den Menschen aus der Ukraine jetzt helfen.

Kann man seriös abschätzen, auf wie viele Flüchtlinge sich Berlin beziehungsweise Deutschland einstellen muss?

Bisher gibt es vom Bund keine belastbaren Zahlen. Wir haben uns selbst um Zahlen bei NGOs und Migrationsforschern bemüht. Diese Zahlen beziehen aber nicht die zunehmende Aggression des russischen Militärs gegenüber ukrainischen Zivilisten ein. Das heißt: Die Zahlen werden täglich steigen.

Vielen Dank für das Gespräch.

Haben Sie eine Meinung zu diesem Interview? Schreiben Sie uns! briefe@berliner-zeitung.de

Dieser Text ist in der Wochenendausgabe der Berliner Zeitung erschienen – jeden Sonnabend am Kiosk oder hier im Abo.