An einem sonnigen Donnerstagabend herrscht am Gleis 21 im Bahnhof Lichtenberg Partystimmung. Es gibt viele Umarmungen zwischen alten Freunden, Pressevertreter aus Deutschland, Belgien und den Niederlanden drängen sich auf dem Bahnsteig. Um 20.30 Uhr fährt ein Zug am Bahnsteig ein, der aussieht wie jeder andere Zug. Aber er wird mit Applaus und Jubel begrüßt.
„Da drin wird es wie eine reisende Jugendherberge sein“, sagt Juri Maier. Er ist der Vorsitzende des Vereins Back on Track, der sich für die Wiederbelebung des Nachtzugverkehrs in Europa einsetzt. Er und seine Kollegen haben Grund zum Feiern. Ihr Leitspruch ist „Trains, not Planes“, Züge statt Flugzeuge. Und seit Donnerstag haben sie einmal mehr gewonnen.
Mit der Fahrt wurde eine Nachtzugverbindung wiederbelebt, die es 14 Jahren lang nicht mehr gegeben hat: zwischen Berlin und der belgischen Hauptstadt Brüssel. Im Jahr 2009 wurden sowohl ICE- als auch Thalys-Züge auf dieser Strecke eingestellt, wie viele weitere Nachtzugverbindungen in Europa. Doch seit der Corona-Pandemie ist klimabewusstes Reisen wieder attraktiv. Die Nachtzüge kehren im großen Stil zurück.
Gründer: Es gibt zu wenig Schienenfahrzeuge und noch viel Bürokratie
Die niederländisch-belgischen Unternehmer Elmer van Buuren und Chris Engelsmann gründeten Ende 2020 European Sleeper, den Betreiber der heutigen Fahrt. Die Fahrt von Berlin nach Brüssel ist die erste des Unternehmens überhaupt – nun werden Züge von European Sleeper dreimal die Woche über Amsterdam, Rotterdam und Antwerpen zwischen Berlin und Brüssel verkehren. Sitzplätze kosten ab 89 Euro und Liegeplätze ab 139 Euro pro Fahrt.
Chris Engelsmann erzählt am Bahnsteig in Lichtenberg von den Problemen, die er in den vergangenen Wochen lösen musste. „Es gibt einen echten Mangel an Schienenfahrzeugen, da die großen Bahnunternehmen seit Jahrzehnten nicht investiert haben“, sagt er. Seine Firma musste also lange bangen, ob sie die alten Zugwagen mieten könnte. Jetzt haben sie die Waggons, aber nicht genug, um jeden Tag zwischen Berlin und Brüssel zu fahren. Die Nachfrage, da ist Engelsmann sicher, ist für die Strecke hoch.
„Vor 30 Jahren konnte man mit dem Nachtzug überall hinfahren“
Es ist eine Hoffnung, die auch Thibault Constant teilt. Der 26-jährige Franzose testet den neuen Zug für seinen YouTube-Kanal „Simply Railway“. „Vor 30 Jahren konnte man mit dem Nachtzug überall hinfahren“, sagt Constant. „Aber das Marketing für den Nachtzugverkehr war seitdem schlecht, daran hat er sehr gelitten.“ Am Beispiel der österreichischen Staatsbahn ÖBB und deren sehr beliebtem Nightjet, der Verbindungen von Paris bis Budapest bietet, sehe man, wie groß das Potenzial für Nachtzüge sei. „Die Österreicher haben vielleicht die besten Schienenfahrzeuge Europas – und der Nightjet ist bereits den ganzen Sommer ausgebucht.“
In Gesundbrunnen, dem offiziellen Startbahnhof des Zugs nach dem Branchenempfang in Lichtenberg, steigt Judith Benda ein. Die gebürtige Berlinerin wohnt in Brüssel, wo sie für Die Linke im Verbindungsbüro des Deutschen Bundestags arbeitet. Sie pendelt aber noch regelmäßig nach Berlin – und findet das neue Angebot ganz praktisch. Würde sie tagsüber fahren, wäre die Reise nur zwei Stunden kürzer. Schon öfter, sagt sie, sei sie wegen Zugverspätungen beim Umstieg in Köln stundenlang stecken geblieben.
Außerdem mag sie die fröhliche Stimmung im Zug. Im Korridor wird mit Bier oder Sekt angestoßen, Menschen gehen noch im Kabinenaufgang auf und ab und blicken neugierig in die leeren Abteile. „Das ist offenbar eine große Sache“, sagt Judith Benda. „Schon vor der Abfahrt haben mir zwei Bekannte geschrieben und eine gute Fahrt gewünscht, das zieht schon Kreise.“
Perfekt ist das Angebot allerdings noch nicht: Im Zug gibt es kein W-Lan, ein Speisewagen fehlt, in Judith Bendas Kabine ist es fast dunkel, nur eine schwache Birne gibt etwas Licht. Es ist fast 22 Uhr, draußen schwindet langsam das Tageslicht – in der Dämmerung wirkt das schummrige Licht gemütlich. „Das ist auch irgendwie charmant, oder?“, sagt sie. „Man sagt ja mit dem Nachtzug zu fahren ist romantisch.“
Barcelona, Prag und Warschau sollen die nächsten Reiseziele von European Sleeper sein
So ein alter Zug bietet keinen Luxus, bringt aber seine Passagiere ans Ziel. Ein Platz im Liegewagen ist bequemer als in den meisten Nachtzügen, das Rattern der Räder macht müde. Und wer früh am Morgen aufwacht, blickt zumindest bei der ersten Fahrt in einen strahlend blauen Himmel und über die grünen Wiesen der Niederlande. Gegen 10.15 Uhr am Freitag trifft der Zug von European Sleeper am Bahnhof Brüssel Midi ein, er hat etwa 45 Minuten Verspätung.
Auf dem Gleis wird wieder gefeiert; die Mitglieder von Back on Track schwenken wieder ihre Fahnen, es gibt weiteren Applaus und Selfies mit dem angekommenen Zug.
Chris Engelsmann zeigt sich beim Ausstieg erleichtert. Insgesamt sei er mit der ersten Fahrt zufrieden – die Verspätung von 45 Minuten findet er „nicht so dramatisch“, er habe erst mal gutes Feedback von den Passagieren bekommen. Als Nächstes will European Sleeper eine Verbindung nach Barcelona etablieren, danach eine Verlängerung der Linie Brüssel–Berlin nach Prag und Warschau, längerfristig gebe es auch Interesse an Skandinavien. Gleichzeitig wolle das Unternehmen noch in die eigenen Züge investieren, die Wagen renovieren und moderner ausstatten; und nicht mehr von den gemieteten Altzügen abhängig sein, so Engelsmann.
Am Freitagabend fährt dann der erste Zug von European Sleeper zurück nach Berlin, wieder Fahneschwenken und Anstoßen. Mit dabei ist auch der belgische Vizepremier und Mobilitätsminister Georges Gilkinet. Er spricht von Nachtzügen als einer „wirtschaftlichen und europäischen Geschichte“. Er hat auch ein Gesetz eingebracht, damit Unternehmen wie European Sleeper die Kosten der Nachtzugverbindungen, die in Belgien starten oder ankommen, erstattet werden. Er hofft, das andere Länder folgen.
Nach der Ankunft beschreibt Judith Benda die Stimmung im Zug „ein bisschen wie auf einer Klassenfahrt“ – inklusive Bett selber machen und Zimmer teilen. „Das war kein Luxus, aber ich habe auch nichts anderes erwartet“, sagt sie. Auch die Verspätung von 45 Minuten hat sie nicht gestört. „Ich bin Verspätung von der Deutschen Bahn gewöhnt.“






