Eigentlich ist es eine gute Nachricht: Seit dem 1. Mai gilt das Deutschlandticket. Warteschlangen vor den Verkaufsstellen zeigen, dass auch viele Neukunden die neuen Mobilitätsoptionen nutzen wollen, die es in dieser Form nirgendwo sonst auf der Welt gibt. Mit einem einzigen Ticket zur Arbeit in Berlin, an den See nach Brandenburg, im Alpen-Urlaub zum Wandern, in München zum Flughafen – ohne Fahrgastabitur und Schulung am Automaten. Eine Flatrate für fast den ganzen Nah- und Regionalverkehr. Ein gutes Angebot? Nein, heißt es. Eine spezifisch deutsche Debatte ist im Gange.
Während sich Politiker in Großbritannien und den USA weiterhin nicht dafür interessieren, welch hohe dreistellige Summen Pendler in London und New York für ihre Monatskarten hinlegen müssen, reden Kritiker des Deutschlandtickets hierzulande den finanziellen Untergang herbei. Für 49 Euro pro Monat ein gutes, komplexes, personalintensives Verkehrssystem nutzen zu dürfen: Ist das nicht ein unglaublich schlechter Deal? Ein überraschendes Argument in einem Autoland, in dem schon für ein Set Winterreifen ohne Wimpernzucken mehrere Hundert Euro gezahlt werden.
Für die politische Linke wiederum ist das Ticket ein Anlass, ihrer gescheiterten Strategie, Wähler mit immer mehr Forderungen nach Geschenken den Fängen der AfD zu entreißen, einen weiteren Versuch hinzufügen. Gespannt warten wir auf den Vorschlag, dass Menschen Geld dafür erhalten sollten, wenn sie sich das Ticket zulegen. Dabei kommen auch Krankenschwestern und Lageristen nun preiswerter zur Arbeit, zumal wenn sie das Deutschlandticket Job für maximal 34,30 Euro pro Monat nutzen können.
Schlimm! Aber wo sind die Massen, die das betrifft?
Und dann ist da die filigrane Detailkritik, mit der es Fahrgastvertreter in die Schlagzeilen schaffen. Dass das Ticket im IC 2075 lediglich bis Niebüll gilt, in der Heidelberger Bergbahn gar nicht, im Rasenden Roland auf Rügen nur mit Zuschlag: schlimm! Aber wo sind die Massen, die das betrifft? Auch dass die Inselbahn Borkum ebenso exkludiert sei wie die Fähre zu den ostfriesischen Inseln: Wer das einnehmende Wesen der Strandräuber-Nachfolger kennengelernt hat, würde sowieso nichts anderes erwarten.
Dass Hunde, Fahr-, Liege- und Lastenräder sowie Tandems nicht inbegriffen sind: Welches Argument spräche dafür? Familien beschweren sich, dass Kinder ab 6 Jahren ein eigenes Deutschlandticket brauchen. Das heißt aber nicht, dass keine preiswerten Reisen möglich sind. Im Fernverkehr dürfen Fahrgäste ab 15 Jahren bis zu vier Kinder im Alter bis 14 Jahre gratis mitnehmen, ohne mit ihnen verwandt sein zu müssen, so die Bahn.
Auch im ICE und im Flixtrain? Besser nicht!
Ziemlich grotesk ist die Forderung, das Ticket auch im ICE und Intercity anzuerkennen. Abgesehen davon, dass es bereits in einer wachsenden Zahl von Fernzügen ohne Aufpreis genutzt werden darf: Wer auch nur hin und wieder mit dem Fernverkehr reist, der weiß, dass die Züge heute schon meist voll sind. Sie nun auch noch für Inhaber des Deutschlandtickets freizugeben, wäre nicht nur ökonomisch gaga: Es würde noch mehr Gedränge und noch mehr Stress für das Bahnpersonal bedeuten. Zudem birgt es die Gefahr, dass Menschen, die bislang mit dem ICE fuhren, vor dem Chaos in ihre Autos fliehen. Man muss kein grausamer Neoliberaler sein, um begründen zu können, dass es zumindest in einem Teil des Bahnverkehrs nicht nur eine andere Beförderungsqualität, sondern auch Steuerungsmöglichkeiten mithilfe des Fahrpreises geben sollte.
Und dann ist da noch die DB-Konkurrenz. Wäre es nicht schön, wenn man mit dem Deutschlandticket auch mit Flixbus und Flixtrain fahren dürfte? Vielleicht, mag sein. Zu Recht befürchtet Flixmobility, dass Fahrgäste abwandern. Aber damit würde ein weiterer Subventionstatbestand entstehen, der Staat müsste die Defizite ausgleichen – was ja wohl das eigentliche Thema ist. Wie viel sollen die privaten Unternehmen in dieser Branche bekommen? Wir warten auf die Rechnung. Womit wir beim Geld sind.
Aus dem akademischen Bereich kommt das Argument, dass die drei Milliarden Euro, die das Deutschlandticket Bund und Länder pro Jahr mindestens kostet, lieber in Gleise und Züge investiert werden sollten. Keine Frage: Investitionen sind immer gut, und das Tempo muss größer werden. Es führt aber zu nichts, die Themen Infrastruktur und Tarif gegeneinander auszuspielen. Wer mit Fahrpreisinnovationen so lange warten will, bis zwischen Flensburg und Lörrach alle Gleise im Tipptopp-Zustand glänzen, müsste bis zum Sankt-Nimmerleins-Tag ausharren. Das kann kein Argument sein.
Sicher: Kommunalen Verkehrsbetrieben, die schon vorher kurz gehalten wurden, könnten die Einnahmeausfälle Probleme bescheren. Wie beim Thema Kapazität zeigt das neue Ticket schonungslos Versäumnisse der Politik auf. Es wäre aber falsch, das angebliche Finanzproblem zu überschätzen. Deutschland lässt sich schon das Dienstwagenprivileg über drei Milliarden Euro pro Jahr kosten. Als das Umweltbundesamt diese und andere klimaschädliche Verkehrssubventionen addierte, kam es auf 17 Milliarden Euro pro Jahr. Die Peanuts, die für das neue Ticket fällig werden, sind kein Anlass für Straffantasien gegen die angeblich gepamperte Mittelschicht.
Aus Angst wird jede Idee als drohender Weltuntergang empfunden
In Deutschland müsste viel verändert werden. Doch entweder wird aus Angst, Bequemlichkeit und Wahlkalkül jede Idee als drohender Weltuntergang empfunden. Oder man verlangt hyperperfekte Lösungen in Form Eier legender Wollmilchsäue. Ein Teil der Kritik am Deutschlandticket kommt als spezifisch deutsche Mischung aus Boomer-Pessimismus, Schweinchen-Schlau-Attitüde und Sozialutopismus daher. Grinchmäßig wird sogar gefordert, das Ticket wieder abzuschaffen.








