Es war einmal ein Parkplatz. Jetzt erstreckt sich dort, wo einst Autos abgestellt werden durften, vorübergehend eine sandige Fläche. Bauarbeiter haben das Straßenpflaster entfernt, die Steine warten in weißen Behältern auf den Abtransport und die Einlagerung. Bald soll hier unbelasteter Boden aufgeschüttet werden. Im Kreuzberger Graefekiez ist eine der größten Entsiegelungsmaßnahmen Berlins im Gang. Es geht aber nicht nur darum, dass Regenwasser leichter versickert. Die Entsiegelung ist auch Teil eines Verkehrsprojekts – das allerdings langsamer voranschreitet als angekündigt.
Rot-weiße Barrieren säumen einen Teil der Böckhstraße im Graefekiez. Auch ein Abschnitt der Graefestraße steht auf der Liste. Im Wohnviertel südlich vom Landwehrkanal verschwindet ein Autostellplatz nach dem anderen. Der Parkraum ist schon ziemlich ausgedünnt. „37 Stellplätze werden entsiegelt“, erklärt Helena Jansen vom Bezirksamt Friedrichshain-Kreuzberg. Am Ende werden es rund 540 Quadratmeter sein, die kein Pflaster mehr haben. Der Graefekiez an der Bezirksgrenze zu Neukölln ist neben dem Lausitzer Platz und dem Görlitzer Ufer ein Pilotgebiet für Entsiegelungen.
Was mancher Autofahrer als Zerstörung von Infrastruktur empfinden könnte, ist für andere ein Mittel, Berlin für die Zukunft fit zu machen. Erderhitzung und Klimawandel führen zum einen dazu, dass Boden austrocknet. Zum anderen erhöhen sie die Wahrscheinlichkeit, dass Niederschlag in Form von Starkregen fällt. Damit Berlin und die Berliner mit beiden Entwicklungen zurechtkommen, sind Entsiegelungen notwendig, sagen Experten – und zwar in viel größerem Ausmaß, als es derzeit geschieht.
Schutz vor Überflutung, Wasser für die Pflanzen
„Die Entsiegelung von Straßenland trägt zur Klimaanpassung bei, da durch die Mehrung versickerungsfähiger Fläche mehr Regenwasser pflanzenverfügbar im Boden gespeichert werden kann. Das kappt im Falle von Starkregenfällen die Überflutungsspitzen und sorgt dank Erhöhung der Bodenfeuchte den länger werdenden Dürreperioden vor“, erläutert Jansen. Weil mehr Niederschlag versickert, fließt weniger Regenwasser in die Mischwasserkanalisation. Das wiederum führt dazu, dass die Kanalisation seltener überläuft und sich weniger Schmutzwasser in den Landwehrkanal und andere Gewässer ergießt. „Schwammstadt“ nennt sich das. Die neue Art, mit Niederschlag umzugehen.

Doch wie berichtet, geht es im Herzen des Graefekiezes nicht nur um Anpassung an den Klimawandel. Die Böckh- und Graefestraße sind Kerngebiet eines Verkehrsprojekts, bei dem das Bezirksamt mit dem Wissenschaftszentrum Berlin (WZB) und weiteren Partnern zusammenarbeitet. Schrittweise mehr Platz ist das Motto. „Mit dem Projekt Graefekiez erproben wir gemeinsam mit der Nachbarschaft, wie Straßen der Zukunft aussehen können“, sagt die Stadträtin Annika Gerold (Grüne). „Wir erhöhen die Verkehrssicherheit, verbessern die Situation für Gewerbe und Lieferdienste und schaffen Zugang zu geteilten Mobilitätsangeboten“ – Sharing ist das Stichwort. Damit liegt der Bezirk im Trend. Viele Städte schaffen mehr Platz für Menschen – zulasten der Autos.
Das Projekt wurde aus rechtlichen Gründen deutlich abgespeckt
Anfangs war davon die Rede, dass es im gesamten Wohnviertel fast keine Möglichkeiten mehr geben soll, private Autos abzustellen. Doch das Straßenverkehrsrecht erlaubt es der Verwaltung nur bei besonderen Gefahrensituationen, den Verkehr zu beschränken. Weil sich im Kerngebiet Schulen befinden und laut Bezirksamt Autos dort immer wieder Gefahren verursachen, fühlen sich die Planer in Böckh- und Graefestraße auf der sicheren Seite. Im übrigen Kiez sei die Gefährdungslage durchschnittlich: Das Risiko, dass ein Gericht Maßnahmen kippt, wäre größer, hieß es. Und so entschied der Bezirk, das Projekt deutlich zu verkleinern. Statt 2200 Autostellplätzen sollen 400 wegfallen. Aus ihnen sollen Grünflächen, Sitzbereiche, Ladezonen und Sharing-Stationen werden.
Allerdings verzögert sich die Umsetzung – obwohl das Arbeitspensum deutlich kleiner geworden ist. Das Projekt wurde nicht nur abgespeckt, teilweise kommt es auch später, wie aus der Mitteilung des Bezirks hervorgeht. Ein Beispiel sind die Jelbi-Stationen: An mindestens 13 Stellen sollten Parkplätze freigeräumt werden, damit dort E-Scooter, Fahrräder und andere Sharing-Fahrzeuge zur Miete angeboten werden können. Die Abstimmungen zwischen dem Tochterunternehmen der Berliner Verkehrsbetriebe (BVG) und dem Bezirk sind erfolgt, im April sollte es losgehen. Doch noch ist nichts zu sehen.
„Uns liegen jüngst die Genehmigungen für die Flächen im Graefekiez vor, sodass wir nun in die Planung der Bauarbeiten gehen können. Hierfür benötigt es jedoch noch eine dritte Genehmigung zur Baustellensicherung“, erklärte Josefin Langer von der BVG. „Zum heutigen Zeitpunkt gehen wir von einer Eröffnung im vierten Quartal 2023 aus.“
Noch kein konkreter Terminplan für Lieferzonen
Ein anderes Beispiel sind die Lade- und Lieferzonen, bis zu 37 sind für das Projekt Graefekiez vorgesehen. Im März hieß es, dass die Bereiche im Juni und Juli 2023 eingerichtet würden. Doch nun teilte das Bezirksamt mit: „Einen konkreten Terminplan gibt es nicht. Die weiteren Lade- und Lieferzonen werden mit Hinblick auf die begrenzten personellen Kapazitäten im Straßen- und Grünflächenamt sukzessive eingerichtet. Die genaue Verortung der Lade- und Lieferzonen erfolgt auf Grundlage der Begleitforschung sowie der Beteiligung, die derzeit noch läuft.“
Selbst wenn sie schon da wären: Die Lade- und Lieferzonen auf dem nicht weit entfernten Kottbusser Damm zeigen, dass Bereiche dieser Art häufig von Falschparkern okkupiert werden. „Der Verkehrsüberwachungsdienst läuft solche Zonen beim regulären Streifengang ab und setzt zusätzliche Schwerpunkte, wenn Beschwerden eingehen“, sagt Helena Jansen. Zudem gebe es regelmäßig Schwerpunktaktionen des Verkehrsüberwachungsdienstes. Doch das Ordnungsamt könne „nur punktuell“ tätig werden, weil Stellen unbesetzt blieben und die Personaldecke generell zu dünn sei.
Mieten für private Parklätze haben sich verdoppelt
Damit stellt sich die Frage: Was kann das Projekt Graefekiez überhaupt noch bringen? Beteiligte sprechen von ersten Wirkungen. So hätten rund 400 Bürger das Angebot angenommen, im Parkhaus des Galeria-Kaufhof-Warenhauses am Hermannplatz in Neukölln Stellflächen für 50 Euro pro Monat zu mieten. Das Bauwerk könnte als Quartiersparkhaus dienen: Autos werden platzsparend zentral abgestellt, wodurch im Wohnviertel Straßenraum für andere Nutzungen frei wird. Weil sich der Weg zum Auto verlängert, steigt die Wahrscheinlichkeit, dass für kurze Distanzen andere Fortbewegungsarten gewählt werden. Nun ist das Kontingent erschöpft.
Eine andere Wirkung zeige sich auf anderen privaten Autostellflächen. Auf Höfen, Parkdecks und in Garagen kann rund um den Graefekiez weiterer Parkraum gemietet werden. War das bislang für 50 Euro pro Monat oder geringere Beträge möglich, seien die durchschnittlichen monatlichen Mietkosten auf rund 100 Euro.
Die CDU kritisiert das Projekt. „Meine Einschätzung ist, dass das Bezirksamt das ursprüngliche Ziel, eine autoparkplatzfreie Zone im gesamten Graefekiez, weiterhin verfolgt“, sagte der Kreuzberger CDU-Abgeordnete Timur Husein der Berliner Zeitung. „Da der Einwohnerantrag und die Wahlen gezeigt haben, dass sehr viele Anwohner dieses Experiment ablehnen, versucht das Bezirksamt jetzt im Rahmen einer Salamitaktik Straße für Straße zu entsiegeln, sprich autoparkplatzfrei zu machen. Wir werden beobachten, wie weit das Bezirksamt mit dieser Taktik geht und werden dann gegebenenfalls über den Senat oder über die Bezirksverordnetenversammlung Einfluss nehmen, um dies zu verhindern.“








