Mobilität

Wohnhäuser und die Mercedes-Benz-Arena sollen Güterbahnhöfen weichen

Eine Ausstellung in Berlin provoziert mit brachialen Ideen. Doch sie basiert auf einer klaren Analyse: Der Güterverkehr muss zurück zu den Anfängen.

Eine Utopie in Form einer Modelleisenbahn: Adam Page (l.) und Wolfgang Richter mit einem Exponat der Ausstellung „The Last Mile“ im SPD-Haus in Wedding
Eine Utopie in Form einer Modelleisenbahn: Adam Page (l.) und Wolfgang Richter mit einem Exponat der Ausstellung „The Last Mile“ im SPD-Haus in WeddingPeter Neumann/Berliner Zeitung

Was ist denn mit dem Park am Gleisdreieck passiert? Wo heute noch Ball gespielt und gejoggt wird, ist ein Güterzug aus China vorgefahren. Ein Portalkran fängt damit an, die Container abzuladen. Ein Teil des Rasens ist schon weggebaggert, im Hintergrund werden Wohnhäuser am Rand des Parks abgebrochen, damit noch mehr Platz für den Güterumschlag entsteht. So könnte der heutige Park im Jahr 2030 aussehen. Es ist eine ungewöhnliche Zukunftsvision, die jetzt in einer Ausstellung in Berlin zu sehen ist.

„Schluss mit dem Park. Das Gelände in Kreuzberg muss zurückgewonnen werden für den Güterverkehr“, sagt Adam Page. Der britische Künstler, der seit vielen Jahren in Berlin lebt, hat das Aquarell zusammen mit Eva Hertzsch gemalt. „Wir schlagen vor, ehemalige Güterbahnhofstandorte in Berlin wie den heutigen Park am Gleisdreieck wieder zu nutzen. Dort bekommt die Versorgung der Stadtteile mit Lebensmitteln Priorität über den Freizeitwert“ – diesem Wunsch soll das Bild Ausdruck verleihen. Dem Mauerpark, der auf dem alten Güterbahnhof der Nordbahn entstand, soll es genauso ergehen. 

„The Last Mile – Güterversorgung nach dem Dieselverbot“: So heißt die Ausstellung, die bis Mitte August im August-Bebel-Institut in der Müllerstraße zu sehen ist. Der Titel weist in die Zukunft, in der Dieselfahrzeuge Berlin nicht mehr beliefern dürfen und in der die Versorgung anders ablaufen sollte als heute: dezentral, klimafreundlich, mit der Bahn als Rückgrat. Aber die Ausstellung erinnert auch an die Vergangenheit.

„Radwege haben es auf die politische Agenda geschafft“ – Güterzüge nicht

Im hinteren Bereich der kleinen Schau im SPD-Haus in Wedding gilt es ein weiteres Bild zu entdecken und zu studieren. Es ist ein Plan der Gleisanlagen in der Berliner Innenstadt. Schwarze Linien zeigen, wo sich einst die Bahnhöfe für Güter und für Menschen befanden. Mit roter Farbe ließen Adam Page und Eva Hertzsch die alten Umschlagplätze wieder auferstehen – als moderne Güterverkehrszentren (GVZ). Auf ihrer Zeichnung heißt ein Standort „ehemaliger Mauerpark“, ein anderer „ehemalige Mercedes-Benz-Arena“. Auch der Park am Westkreuz, der Naturpark Südgelände oder Bereiche der Stadtautobahn A100 sollen 2030 wieder der Güterversorgung dienen.

„Güterverkehrszentrum Park am Gleisdreieck (2030)“: So heißt das Aquarell von Eva Hertzsch und Adam Page. Ein Güterzug hat Container aus China gebracht. Für den wiedereröffneten Umschlagplatz wurde schon Rasen entfernt, im Hintergrund werden Wohnhäuser abgerissen.
„Güterverkehrszentrum Park am Gleisdreieck (2030)“: So heißt das Aquarell von Eva Hertzsch und Adam Page. Ein Güterzug hat Container aus China gebracht. Für den wiedereröffneten Umschlagplatz wurde schon Rasen entfernt, im Hintergrund werden Wohnhäuser abgerissen.Eva Hertzsch/Adam Page, Berlin

Eine Utopie? Auf jeden Fall eine Provokation, sagt Page. In den vergangenen Jahren wurde viel über die Erderhitzung und den Klimaschutz diskutiert. Wissenschaftler, Politiker und Planer haben Schlüsse daraus gezogen. „Radwege haben es auf die politische Agenda geschafft“, so der 56-Jährige. „Auf den Güterverkehr trifft das nicht zu.“ Als wäre er ein schmutziges Geschäft, von dem man besser die Finger lässt. Dabei trage die Art, wie Berlin und viele andere Städte versorgt werden, zur globalen Krise bei. Wer Klimapolitik und die Mobilitätswende ernst nimmt, sollte darüber nachdenken – auch wenn die Konzepte nicht unbedingt zum Abriss von Wohnungen führen müssten.

Mit der Neukölln-Mittenwalder Eisenbahn zum Flughafen BER

Heute spielt die Eisenbahn bei der Versorgung von Berlin fast keine Rolle mehr. Auch für die „Last Mile“, die letzte Meile von den Güterverkehrszentren vor der Stadt zu Unternehmen und Verbrauchern in der Stadt, sind Dieselfahrzeuge zuständig. „Für die Lkw- und autogerechte Stadt, den geplanten Börsengang der Bahn und für Urban Living mussten 16 Berliner Güterbahnhöfe weichen“, so die Künstler. „Ein innerstädtisches Schienentransportnetz verschwand zugunsten von Parks, Straßen, Gewerbe- und Wohngebieten.“ Die Umwandlung dezentraler Umschlagplätze in Parks wurde als grüner Fortschritt verkauft, doch das stimme nicht, sagen Adam Page und Eva Hertzsch.

Zusammen mit Kindern und Jugendlichen haben sie die Gegenwart und Zukunft des städtischen Güterverkehrs erkundet. Mit Schülern einer fünften Klasse der Wolfgang-Amadeus-Mozart-Schule aus Hellersdorf besuchten sie den Containerbahnhof Großbeeren südlich von Berlin. Eine Wand von bemalten Pappcontainern im Maßstab 1:10 zeugt davon. Mit Elftklässlern der Walter-Gropius-Schule aus Gropiusstadt entstand eine Utopie in Form einer Modelleisenbahn. Die Neukölln-Mittenwalder Eisenbahn, auf der heute keine Züge mehr verkehren, wurde zum Herzstück einer Logistikachse, die im Norden bis zum Alexanderplatz und im Süden zum BER reicht.

„Es ist wichtig, Bewusstsein für das Thema Güterverkehr zu schaffen“, sagt Wolfgang Richter. Der 82 Jahre alte Ruheständler, der zum Leitungsteam des volkseigenen Betriebs Kombinat Autotrans Berlin gehörte, hat die Künstler beraten. Aktive Güterverkehrsprofis, Politiker und Aktivisten waren ebenfalls zu Gast.

Auch im Osten von Berlin gab es Infrastruktur, auf der Züge Waren in die Zentren der Stadt brachten, erinnert sich Richter. „Der Containerbahnhof Frankfurter Allee war mit modernster Technik ausgestattet.“ Doch die Anlage bestand nur von 1969 bis 1995. Der Hamburger und Lehrter Güterbahnhof, in dem bis 2003 ebenfalls Container verladen wurden, ist heute überbaut – als Teil der Europacity in Mitte.

Wer weiß, vielleicht wird sich auch dort das Stadtbild wieder ändern. Die Diskussion ist eröffnet.

Ausstellung „The Last Mile“ im August-Bebel-Institut, Müllerstraße 163, 13353 Berlin. Bis 17. August 2023, dienstags bis freitags 14 bis 18 Uhr. Eintritt frei.