Von 2006 bis 2011 habe ich in Berlin gelebt. Dann in Bonn. Seit 2016 wohne ich in Hamburg. Die Hintergründe tun nichts zur Sache. Auf jeden Fall ist für mich Berlin die einzige wahre Metropole des Landes. Hier spielt die Musik, hier werden die Trends gesetzt, auf diese Stadt schaut Deutschland. Gerade auch was das Unangepasste, Wilde, Kaputte angeht, hat Berlin immer allen anderen Städten den Rang abgelaufen.
Ja, das Unglamouröse ist zentraler Teil des Berliner Glamours. Hier kann man die Augen nicht verschließen vor Armut, Drogensucht, psychischen Krankheiten, Jugendgewalt und gescheiterter Integration. Dachte ich, bis ich neulich nach Berlin fuhr, um einen Freund zu besuchen, und ja, auch um ein wenig hamburgsatten Elendstourismus zu betreiben.
Hier stimmt doch etwas nicht
Schon in der S-Bahn vom Hauptbahnhof zum Alex kam mir etwas seltsam vor. Dann realisierte ich: Niemand hatte ein Bier in der Hand. Niemand einen Hund an der Leine. Auch roch es dezent nach geschmackvoll komponierten Parfüms und Rasierwassern. Weit und breit kein Mensch mit Motz. Ja, nicht einmal eine fidele Bande mit Akkordeon und Geige stieg zu. Als mir schließlich ein gut frisierter Bube höflich seinen Sitzplatz anbot, bekam ich es mit der Angst zu tun.
Das können nicht alles Schwaben sein?, dachte ich mir.
Ich stieg am Alex aus und sammelte mich. Vielleicht war das bloß ein Zufall gewesen. Vielleicht war ich in eine S-Bahn voller Touristen aus Biberach an der Riss geraten, die ihre wacker studierenden Kinder in „Prenzlberg“ besuchten. Ein Teil in mir wusste längst, dass ich mir etwas vormachte: Die wären nicht schick, sondern praktisch gekleidet gewesen. Und aufgeregter. Und älter.

Auf dem Weg zur U-Bahn kam mir ein Mann mit Hoodie unter der Lederjacke entgegen, in der Hand eine Flasche Minzlikör. „Na also“, dachte ich, „geht doch!“ In der U8 Richtung Hermannstraße dann aber wieder das gleiche verstörende Szenario: Gesund aussehende Menschen, die sich gedämpft unterhielten oder mit geschickten Fingern auf ihren neuen iPhones tippten. Saubere Hände, glatte Gesichter, die von einem weitgehend sorgenfreien Leben kündeten.
Alle jünger als ich, und schlanker. Was wurde hier gespielt? Hatte man wie in Manhattan alle Armen, Alten und Siechen vor die City-Tore gejagt? Oder befand ich mich in einer virtuellen Simulation, die Typen wie Sebastian Czaja in Auftrag gegeben hatten, um Reisende wie mich zu foppen und gegelte Investoren anzulocken? Und wo waren in Berlin eigentlich die Punks? Arbeiteten die heute alle als Life-Coach oder bei Rewe an der Kasse?
Leben hier nur noch Hotelgäste?
Ich stieg am Kottbusser Tor aus, um wenigstens ein paar Dealern bei der Arbeit zuzuschauen. Aber auch hier dominierten adrette Akademikerkinder das Bild, teuer gewandet und mit Grünkohl-Smoothies in den manikürten Händen. War ich zufällig in Brüssel gelandet oder einfach nur in Schöneberg? Ich ging die Kottbusser Straße gen Kottbusser Damm und fragte spaßeshalber ein paar junge Frauen nach dem Weg. Ausführlich erklärten sie die Route und boten mir formvollendet das „Sie“ an. Ja, lebten hier nur noch hippe Hotelgäste? Verstört machte ich mich auf den Weg in die Sonnenallee.
Neukölln will schöner werden
Hier würde ich das roughe Berlin sehen. Schließlich hatten hier vor kurzem integrationsunwillige Rüpel aus dem Morgenland die deutsche Staatsgewalt mit Raketen, Böllern und Leuchtspur-Munition angegriffen. Aber ich fand alles hübsch aufgeräumt und sauber vor. Junge Araber trugen sorgfältig rasierte Zackenmuster am Hinterkopf und schnauzbärtige Türken luden mich gastfreundlich zu gezuckertem Schwarztee. Dabei erzählten sie mir vom Verein „Unser Kiez soll schöner werden“ e.V. Natürlich habe man längst allen Silvestermüll beseitigt und den jungen Männern mal ordentlich die Suren gelesen. Man präsentiert mir stolz Statistiken: Die Jugendgewalt in Neukölln gehe seit Jahren stark zurück. Sei ja auch schlecht fürs Business!
Auch Wedding reißt es nicht raus
Zermürbt und mit letzter Hoffnung reise ich nach Wedding, steige am Leopoldplatz aus und sehe als Erstes einen Mann im Anzug mit Aktentasche. Niemand lacht, niemand bewirft ihn mit Hundekot. Wie auch, die Straßen sind ja auch hier geleckt sauber, als hätte über Nacht ein mies bezahltes Putzteam von den Philippinen gewirkt.
Ein kleiner Laden bietet Matcha-Tee aus Fernost. Ich beginne, mich nach Hamburg zu sehnen: der Hauptbahnhof, das Berliner Tor, Steindamm und St. Georg! Berlin muss dringend seine Mietpreise in den Griff bekommen, sonst ziehen die Jungen bald zum Studieren nach München, weil da das Leben noch wild und aufregend ist.
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