Christine Lambrecht hat ihre Karriere an jenem Ort beendet, an dem ich 1997 meine erste Beziehung begann. Am Frankfurter Tor, es ist deutlich im Video zu erkennen. Sie steht auf der Seite mit der „Galerie im Turm“, wo am Tage Skater skaten üben und in der Dämmerung Alkoholiker schlafen.
Ich habe mich gefragt, was sie dort wohl getan hat, zu Silvester. Wird sie im „Abgedreht“ eine Pizza gegessen haben? Wollte sie später mit ihrem Sohn ins „Süß war gestern“, um mit Brandenburgern und Touristen zu flirten? Was bitte macht Christine Lambrecht in Friedrichshain?
Vermutlich wird sie oben im Turm gefeiert haben. Dort, wo ich 1997 mit Elisa davon träumte, für immer ein Paar zu sein. Wir lagen dort, in Hüfthosen und mit zu großen Pullovern. Waren uns sicher: Die Welt, sie wird immer so bleiben.
Elisa und ich, in diesen Räumen, in dieser Kuppel, die damals noch für alle Bewohner des Hauses begehbar war. Der Staub des Juniaufstands hatte sich gerade gelegt, als schon die Mauer fiel. Im Schmutz der Kuppel am Frankfurter Tor war Geschichte spürbar.
Christine Lambrecht feierte in meiner Überlegung also Silvester im selben Haus, in dem Otto Grotewohls Sohn wohnte.
Ich habe verlernt, mich zu langweilen
Dann legte ich das Telefon weg, legte es in eine Schublade und gab mich dem größten Privileg eines Menschen aus einer Industrienation hin. Ich langweilte mich weiter. Ich betrachtete dieses Video im Urlaub und spürte, da würde etwas kommen. Was, war mir egal.
Ich, im Urlaub, übe mich zu langweilen. Am Ende eines jeden Jahres sage ich zu meinen Eltern, dieses Jahr war ganz schön anstrengend. Und dann lege ich mich am 24. Dezember auf die elterliche Couch und beobachte meinen Bruder, während er seine Geschenke auspackt.
Afghanistan, Ukraine, Genozide in Kanada, Gift in Grönland, viele Reisen, viele Geschichten, aber müde bin ich nicht geworden, ich habe nur verlernt, mich zu langweilen. Über Jahre.
Ich frage mich, woher ich das habe, und beobachte meine Mutter, die selbst am 25. Dezember, wenn alle Mittagsschlaf machen wollen, meinen Vater und mich nach Brandenburg bringen will: „Zum Spazieren“, wie sie sagt.
Die Mittagshitze hier in Südostasien ist unerträglich. Es ist ein Ort, den ich gut kenne, ich war schon oft hier. Auf dieser kleinen Insel, die Touristen nicht braucht. Ich beobachte das Wasser, ich beobachte Tukane, ich will nichts entdecken, und das ist schwerer, als ich glaube.
Leopard-Panzer, die U2 fährt nicht mehr
Sehe junge, europäische Männer, wie sie sich aus Bambus ein Floß bauen, sie wollen damit übers Meer. Aber ich befürchte, sie werden ertrinken. Es ist eine Reportage, eine Geschichte, es ist ein Tweet oder ein Podcast. „Ich habe doch kurze Hosen an, dann ist es doch keine Arbeit“, denke ich. Aber nein, ich verbiete mir, mit ihnen zu sprechen, aus meinem Alltag Arbeit zu machen.
Ich sammle Kraft in den immer gleichen Abläufen. Ich sammle Kraft, weil ich nicht in Lützerath bin, weil ich nicht in den Krieg muss, weil ich nichts vorbereiten muss. Ich sammle Kraft für das nächste Jahr, das schon längst begonnen hat.
Leopard-Panzer für die Ukraine. Ein neuer Verteidigungsminister. Die U2 fährt ja auch nicht mehr richtig, und ein Hochhaus am Alexanderplatz wächst, während ich hier nichts tue. Der Wahnsinn ist nah, wenn ich nichts tue. Spüre da ein unruhiges Pressen im Hinterkopf.
Ich lerne sticken, sticke Brandenburger Waldwiesen im tropischen Klima auf dem Äquator, lerne es schnell. Stemstitch, Lazy Daisy, und so weiter. Bin so konzentriert, dass ich im lila Licht des Nachmittags, mit überschlagenen Beinen auf einer Liege sitzend, anfange zu schwitzen. Ich lese zehn Bücher in drei Wochen und mache mir dazu Notizen.
Vielleicht hat Lambrecht auch einen Sekt getrunken?
Ich überlege, welches Buch ich als nächstes schreibe. Mache mir noch mehr Notizen. Ich lerne, eine alte Form der Fotografie zu benutzen: Cyanodruck. Drucke Farne, die ich zwischen Kautschukbäumen finde. Nachts nach dem erlösenden Regen gehe ich mit einer UV-Taschenlampe los und sammle Schnecken, sammle Tausendfüßler und suche imposante Kaiserskorpione. Ich will sie bestimmen.
Ich ruhe mich aus und denke an all die anderen Menschen, die Berufe haben, die so viel wichtiger sind als mein Beruf. Die Entscheidungen treffen über Menschenleben. Die Entscheidungen treffen über die Zukunft der Europäischen Union, die Kriege führen müssen.
Vielleicht wird Christine Lambrecht einen Sekt getrunken haben, oben in diesem Turm, auf der schmalen Terrasse, bei fast zwanzig Grad. Vielleicht wird sie den Ausblick gelobt haben, näher dran am Feuerwerk. Sie wird gute Laune gehabt haben. Dann, mit einem kleinen Käsebrot in der Hand, zu ihrem Sohn: „Wollen wir ein Video machen, für Silvester, für das Instagram?“, und der Sohn, vielleicht, nickt.
Ich stelle mir vor, wie jemand auf dieser Party sagt: „Nu, Christine, ruh dich doch auch mal aus, lass mal den Krieg Krieg sein, nur heute.“ Wird bestimmt irgendwer gesagt haben.






