Berlin

Alltagsgewalt nach den Silvester-Krawallen: „Fass mich nicht an!“

Wie Gewalt im Alltag entsteht, zum Beispiel im Straßenverkehr, und wie man die Eskalation vermeiden kann. Eine Selbstbeobachtung.

Fahrradfahrer und Fußgänger überqueren die Kreuzung an der Pappelallee in Höhe der Schönhauser Allee. 
Fahrradfahrer und Fußgänger überqueren die Kreuzung an der Pappelallee in Höhe der Schönhauser Allee. imago/Seeliger

Dumm gelaufen. Vor ein paar Tagen habe ich als Fußgänger mutmaßlich einen Unfall verursacht. Ein Radfahrer, der mit überhöhter Geschwindigkeit angebraust kam, konnte nicht mehr ausweichen und kam zu Fall. Seine Hand schmerzte, und als ich ihm aufhelfen wollte, klagte er über ein Schwindelgefühl. Eine Passantin kam hinzu, und der Radfahrer fragte, ob sie den Hergang bezeugen könne. Konnte sie. Wir tauschten Kontaktdaten aus, nach ein paar Minuten schien es dem Radfahrer wieder besser zu gehen. Er konnte die Hand bewegen, und an seinem Rad war kein Schaden zu erkennen.

Lässt sich aus solch einer Szene etwas lernen?

Ein falsches Wort kann teuer werden

Aus juristischer Sicht wäre ein Schuldeingeständnis ein Fehler gewesen, Anwälte raten ab, sich spontan zu derlei Kollisionen zu äußern. Ein falsches Wort kann teuer werden, also ist Schweigen geboten, wo das Anstandsempfinden doch zumindest eine Entschuldigung vorsieht. In wiederholten Anläufen habe ich mich daran versucht.

Wahrscheinlich sogar erfolgreich, sie erschien mir als notwendiger Beitrag zur Deeskalation. Natürlich hätte ich ihm sein Fahrtempo vorhalten können. Als wir uns verabschiedeten, bedankte er sich für meine Einsicht und Hilfe und räumte ein, vielleicht ein wenig zu schnell gewesen zu sein. Er habe die Hand nicht mehr an die Klingel bekommen. Vermutlich hätte ich sein Klingelzeichen gar nicht gehört, es regnete, und ich hatte eine dicke Kapuze über den Kopf gezogen. Schließlich hatte unser unsanftes Aufeinandertreffen etwas Versöhnliches, sogar die Zeugin zeigte sich erfreut über das allseitige Bemühen um Harmonie.

Warum, so frage ich mich, wechseln wir in vergleichbaren Konflikten des Alltags so oft von der einen Sekunde auf die andere in eine Art Kriegsmodus? Recht haben, aufbrausen. „Fass mich nicht an!“ In solchen Szenen scheint es zur unbedingten Grundvoraussetzung des Ichs zu gehören, als vollständige Person wahrgenommen zu werden. Die Worte Würde und Respekt fallen in Alltagskonflikten weit häufiger, als man denkt. „Hier ist ein Mensch“, singt Peter Alexander. „Sieh zu ihm hinüber, und dann kennst du sein Gesicht.“

Elias Canetti hat seine große Studie über „Masse und Macht“ aus dem Jahr 1960 mit einem Kapitel über die Berührungsfurcht eröffnet. Wir pochen demnach nicht nur darauf, unversehrt durch den öffentlichen Raum zu gelangen. Bereits die kleinste Berührung wird als Verletzung der Intimität aufgefasst und zu vermeiden versucht. Es gibt Verhaltensstudien, in denen minutiös untersucht worden ist, wie Menschen in einem Fahrstuhl darauf bedacht sind, trotz wechselnder Raumverhältnisse immer wieder Abstand zu den anderen herzustellen. Canetti belässt es jedoch nicht bei der Beschreibung eines vermutlich universellen Verhaltens. Er interessiert sich für die Momente, in denen die Berührungsfurcht umschlägt in ein Massengefühl, das sich auf unterschiedliche Weise entlädt, nicht selten gewaltsam. Die Berührungsfurcht ist, wenn man so will, die zivile Ruhestellung vor dem Ausbruch einer ganz anderen körperlichen Gestimmtheit. Wenn sie entfesselt wird, lauern Gewalt und Eskalation an jeder Ecke. Klirrendes Glas und berstendes Holz und Metall sind dann wie Beifall für den in der Masse oder auch nur einer Gruppe aufgehenden Einzelnen.

Dass Gewaltexzesse dann aber doch nicht immer und überall losbrechen, hat mit der Fähigkeit des Individuums zu tun, für den Moment von seinem Verlangen nach unbedingter Ehrerbietung und dem Bedürfnis absehen zu können, als vollständige Person betrachtet zu werden. Durch den modernen Alltag gelangt man jedenfalls nur dann unbeschadet, wenn man es schafft, sich vorübergehend auf die wechselnden Rollen als Verkehrsteilnehmer, Kunde, Zuschauer, Mitreisender oder die jeweilige Funktion zu beschränken, die einem beruflich aufgetragen ist als Verkäufer, Bankangestellter, was auch immer.

Schuld und Schuldgefühle

Probleme machen die anderen. Indem sie uns nicht für voll nehmen, verletzen sie andauernd unsere Gefühle. Die Selbstreduktion auf Rollen und Rollenerwartungen aber erhöhen die Chancen auf gesellschaftliches Gelingen. „Kennst du seinen Namen/seinen Namen kennst du nicht“, heißt es in dem Lied von Peter Alexander. Es stammt aus der Zeit, als der Schlager in Richtung Gesellschaftskritik tendierte. In diesem Fall wurde eine allgemeine Gleichgültigkeit angeklagt. Was weiß ich schon von den musischen Neigungen des Paketboten, über den ich mich ärgere, weil er sein Fahrzeug wieder einmal in zweiter Reihe abgestellt hat?

Es wäre nach meinem Zusammenstoß auf dem Radweg vermutlich unpassend gewesen, das gottlob glimpflich davongekommene Opfer nach Essensgewohnheiten und Literaturgeschmack zu befragen. Tatsächlich aber fielen Stichworte wie Bluthochdruck und Insulin. So gesehen kam es zum Austausch sehr intimer Informationen. Diese aber dienten der Einschätzung der gesundheitlichen Risiken. Mein Angebot, einen Krankenwagen zu rufen, lehnte er ab.

Aber selbst das, so vermute ich, war durch Erfahrung begründet. Die Aufnahme des Unfalls hätte eine neue soziale Szene eröffnet. Wartezeit, Behördenkram. Auch das gehört zur Aversion gegen staatliche Institutionen. Im Augenblick des Konflikts tragen sie nicht ausschließlich zu dessen Lösung bei, sondern verlagern ihn auf Formen schriftlicher Darstellbarkeit. Das Beharren aufs gesellschaftliche Protokoll ist als eine Art fürsorgliche Belagerung omnipräsent. Nachdem ich einmal die Polizei herbeigerufen hatte, um einen Kratzer zu dokumentieren, den ich mit meinem Auto einem anderen Fahrzeug zugefügt hatte, vergingen fast zwei Stunden, ehe der Vorgang abgeschlossen war. Einfach weiterzufahren, wie es mir kurz durch den Kopf gegangen war, ist trotzdem nicht ratsam. Die Strafen für Fahrerflucht können überaus hoch sein.

Wer so denkt, ist vermutlich schon etwas älter und hat etwas zu verlieren – ein bisschen Geld, soziales Ansehen und den Respekt vor sich selbst. Es ist keine Schande, wenn derlei kleine Fluchten durch staatsbürgerliches Pflichtbewusstsein gehemmt werden. Besonders stark ausgeprägt scheint es angesichts der vielfältigen urbanen Selbstbehauptungskämpfe allerdings nicht zu sein. Schuldgefühle sind da nachhaltiger, und sie lagern sich auf sehr unterschiedliche Weise ab, wie Ferdinand von Schirach in seinen Büchern gezeigt hat, die von Rechtsfällen handeln, aber zugleich auf deren tiefe Verankerung im Seelenhaushalt eines jeden Einzelnen verweisen.

Wie war das genau, als es knallte?

Es könnte interessant sein, sich den Gewaltgeschichten aus der Silvesternacht einmal aus der Perspektive der unmittelbaren Kollision von Körpern und Fahrzeugen, von Uniformierten und den vermeintlich informell in Erscheinung tretenden Riot-Gruppen zu nähern. Wie war das genau, als es knallte? Jetzt, ein paar Wochen danach, ist evident, dass die sozialen Dilemmata nicht in Begriffen wie Migration, Integration, struktureller Rassismus etc. zu fassen sind. Ein trotzig-aggressiver Wutausbruch unter der Zeile „Integriert euch doch selber!“ in dieser Zeitung war ebenfalls nicht hilfreich. Die Abwehrrituale und Erklärungsversuche der letzten Wochen ähneln den Wortfindungsbemühungen von jemandem, der gerade einen Fahrradunfall verursacht hat und beweisen möchte, dass der andere zu schnell gefahren ist.