Ich spüre nichts mehr von Deutschland. Dreißig Tage bin ich jetzt schon unterwegs. Für verschiedene Recherchen, die dieses Jahr noch beendet werden müssen. Florida, die Caymans, dann Kanada. Jetzt Argentinien. Recherchen in diesem Land, das international als gescheitert gilt. Als kaputt.
Die Menschen in Argentinien dürfen nicht an ihr Geld, die Aufnahmen von weinenden Frauen vor Geldautomaten in der Hauptstadt Buenos Aires gingen um die Welt. Inflation von 100 Prozent, der Schwarzmarkt boomt; Geld, das auf der Straße gewechselt wird, ist doppelt so viel wert wie das aus offiziellen Umtauschstuben. Eine implodierte Wirtschaft, korrupte Politiker, keine Zukunft für dieses Land.
Ich hatte keine Vorstellung, wie es hier sein sollte, wie sich ein Land anfühlt, in dem alles vorüber ist. Aber ich war gespannt, weil ich oft das Gefühl habe, Deutschland steht kurz davor, genau so zu sein, so zu werden wie Argentinien.
Ich habe dieses Gefühl, weil ich die rechtskonservativen bis liberalen Kräfte in Deutschland aufmerksam beobachte. Die FDP ruft laut, wir müssen uns an die Schuldenbremse halten, die CDU will die Wirtschaft retten, indem sie unsere Umwelt in den Hochöfen des Profits verfeuert, die AfD sieht Deutschland an allem scheitern, an Geflüchteten, Impfungen, dem Ausbleiben der russischen Gaslieferungen. Das ist nichts Neues für diese „Partei“, es ist Konzept. Was sie mit den anderen gemein hat, ist das ständige Fordern von mehr Wachstum.
Deutschland geht unter, wenn das Tempolimit kommt?
Ich sitze mit angezogenen Knien auf einer Wiese und beobachte Polopferde in diesem gescheiterten Land, Argentinien. In dem nichts mehr geht. Schöne Pferde, ihre verschwitzen Hälse werden von federleichten Jockeys gehalten, die mit hohen Stimmen ihre Tiere antreiben. Zungen hängen aus den Gesichtern der Pferde und ihrer Reiter. Ich sitze hier an diesem Polospielfeldrand und beobachte die Menschen. Gestern haben sie noch ihrer Fußballmannschaft zugejubelt, sind auf Marktplätzen mit Tränen in den Augen stolz gewesen. Aufs eigene Land.
Obwohl dieses Land in jeder Hinsicht gescheitert ist, leben die Menschen hier weiter. Sie leben. Ganz ohne Furcht. So anders, als uns das die Propheten des Untergangs in Deutschland glauben lassen wollen.
Und ich frage mich, hier an diesem Spielfeldrand, was uns das über unsere Angst vor dem eigenen Scheitern sagt. Als Land, als Wirtschaft, als Deutsche.
Da sind die früheren „Bild“-Chefredakteure, die Journalistinnen und Journalisten, die für die Welt schreiben, ach, mittlerweile für fast jede Publikation. Die in ihren populistischen Forderungen einen Lösungsansatz sehen. Die behaupten, dass wir als Volk, als Nation, als Wirtschaftsmacht scheitern, wenn wir das Tempolimit einführen, wenn wir die Reichen besteuern, wenn wir das Erbe besteuern, wenn wir Atomkraft abschaffen, wenn wir die Mietpreise bremsen.
Der mediale Protest ist oft einer gegen die soziale Erleichterung. Gegen die Sicherheit und das Wohlempfinden der meisten. Und vor allem ist es ein leeres Versprechen gegen das Scheitern. Leere liberale Versprechen, die ein Versagen verhindern sollen. Was sagt uns das über jene Menschen? Was wollen sie uns erklären, warum sollten sie wissen, was die richtige Entscheidung ist?
Berlin scheitert nicht, es funktioniert nur anders
Meine Heimatstadt Berlin wird regelmäßig als gescheitert bezeichnet, nichts würde sie hinbekommen, diese Stadt. Keine Parkplätze, und jetzt sollen dort auch noch Fahrräder stehen. Bezirksämter würden nicht funktionieren, Steuern verschwendet, Baustellen dauerten ewig, und die BVG ist wohl auch nur auf Twitter witzig. Berlin als Symbol gelebten Scheiterns.
Diejenigen, die dieser Stadt ein Versagen vorwerfen, setzen oft die Maßstäbe ihrer eigenen Heimat an. Nur weil in dieser Heimat drei Buslinien das ÖPNV-Netz bilden, nur weil das Bezirksamt dort mit zwei Mitarbeitern funktioniert, heißt das noch lange nicht, dass Berlin scheitert. Weil es eben nicht wie zu Hause läuft.
Berlin funktioniert. Menschen leben hier. So wie Argentinien funktioniert, Buenos Aires. Die Kritiker des Scheiterns in diesem Land sind jene, die auch bei uns in Deutschland die Armutsschere hastig benutzen, um die Gesellschaft zu zerschneiden. Es sind diejenigen, die im Wohlstand leben, die Kritik am Staat äußern, der sie wohlständig gemacht hat. Auch hier, am Rande des Polospielfelds, treffe ich Menschen, die sehr viel Geld haben. Sie erklären mir, warum Argentinien gescheitert ist und warum das schlimm sei. Sie erklären es mir, während Familien auf den Straßen der Hauptstadt schlafen müssen, die Kriminalität explodiert und Menschen immer ärmer werden. Sie erklären es mir, obwohl es ihnen gut geht.
Und ich denke, hier am Rande dieses Polospielfelds, vielleicht muss Deutschland endlich mal wieder scheitern, damit es versteht, dass das Leben auch dann weitergeht, wenn nichts mehr funktioniert.








